»Herzlichen Glückwunsch, Sie sind nicht mehr schwanger«

Über Abtreibungen wurde lange Zeit, wenn überhaupt, nur hinter verschlossenen Türen geflüstert. Jetzt rückt das Thema immer weiter ins Auge der Öffentlichkeit und wird zunehmend in der Literatur verhandelt. Der Erzählband Glückwunsch versammelt eine Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven auf Schwangerschaftsabbrüche – ein beeindruckendes, kluges Buch voller Mitgefühl.

Von Charlotte Schade

Bild: via Pixabay, CC0

Triggerwarnung: In diesem Text geht es um Schwangerschaftsabbrüche.

Ein bunter Farbverlauf, der vage an Luftschlangen erinnert, das Wort Glückwunsch in großen, weißen Lettern am oberen Rand. Darunter: »15 Erzählungen über Abtreibung«. Dieses Buch weiß, dass es polarisiert. »Geschmacklos« nennen das einige Stimmen im Internet – andere hingegen zelebrieren die Pionierinnenarbeit, die die Herausgeberinnen Charlotte Gneuß und Laura Weber geleistet haben. Zusammen mit 14 Schriftsteller:innen holen sie das ans Licht, was sonst so oft im Verborgenen bleibt: Schwangerschaftsabbrüche.

»Romy brachte Staubsauger zu den Menschen.« So beginnt Yael Inokais Text Die Vertreterin, der den Band einleitet und zugleich das Bild einer post-patriarchalen Gesellschaft zeichnet – denn was die Protagonistin zu den Menschen bringt, sind keine tatsächlichen Haushaltsgeräte, sondern Maschinen zur sicheren Abtreibung in den eigenen vier Wänden. Romy erklärt den Kund:innen den Ablauf, nimmt die Angst vor dem Prozess, weist auf medizinische Nachsorgeangebote hin und bietet unentgeltlich die Unterstützung von Doulas, also nichtmedizinischen Helferinnen in allen Bereichen rund um Schwangerschaft, an. Was zunächst wie eine leise Erzählung anmuten mag, entpuppt sich schnell als kraftvolle, feministische Utopie. Eine Zukunft, in der nicht mehr jedes Jahr 39.000 Frauen sterben, weil sie, wie die Herausgeberinnen im Vorwort ausführen, keinen Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen haben, scheint in Inokais Erzählung zum Greifen nah.

Sichere Abtreibungen als feministische Utopie

Doch Glückwunsch ist nicht nur eine Aneinanderreihung von Utopien: Der Band versammelt 15 Erzählungen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Zu optimistischen Zukunftsvisionen gesellt sich beispielsweise auch der Entwurf eines dystopischen Deutschlands, in dem Abtreibungen nun vollständig kriminalisiert sind und eine Frau beginnt, anderen Frauen mithilfe von gefährlichen Medikamentencocktails den Abbruch zu ermöglichen. Erzählungen wie diese führen den Leser:innen auf erschreckende Weise die Auswirkungen staatlicher Entscheidungen auf die Körper von Frauen vor Augen und erinnern daran, dass die fiktionalen Dystopien im gegenwärtigen weltpolitischen Klima naheliegender erscheinen als ihre feministischen Gegenstücke.

Dass Schwangerschaftsabbrüche ein zeitloses Thema sind, zeigt in der Sammlung vor allem Emilia Roigs Erzählung Kounaté, dieeindringlich und voller Mitgefühl von versklavten Frauen des 19. Jahrhunderts erzählt, welche auf den Zuckerrohrplantagen ihres Unterdrückers vom Paradies träumen und im Geheimen dafür sorgen, dass sie keine Kinder gebären. Ein anderer Text wiederum, der titelgebende Beitrag Glückwunsch von Charlotte Gneuß, basiert auf anonymen Interviews und schildert faktuale Erfahrungen unterschiedlichster Frauen, die sich aus einer Vielzahl von Gründen gegen eine Schwangerschaft entschieden haben. Aus dem Text sprechen Scham, Angst und Überforderung, aber auch Erleichterung und Entschlossenheit: »Ich wollte lieber keine Mutter sein als eine schlechte«, sagt eine der Befragten.

»Ich wollte lieber keine Mutter sein als eine schlechte.«

Mag es auch der Abtreibungs-Diskurs sein, der in der Sammlung im Vordergrund steht, so haben die Erzählungen in Glückwunsch auch literarisch einiges zu bieten: Alle Texte sind eindringlich und klug, der Stil variiert von sachlich-nüchtern bis poetisch. Besonders hervor sticht das Langgedicht Ladies Night von Raphaëlle Red, in dem die Autorin mithilfe präziser Beobachtungen und mit kraftvoller, bildreicher Sprache einfängt, was es gegenwärtig bedeutet, eine weiblich gelesene Person zu sein – nicht nur, wenn es um die Frage nach Mutterschaft geht. Die Erzählstimmen in Glückwunsch sind so unterschiedlich, wie es auch die Perspektiven auf das zentrale Thema sind.

Charlotte Gneuß, Laura Dshamilja Weber (Hrsg.):
Glückwunsch.
15 Erzählungen über Abtreibung

Hanser Berlin 2023
208 Seiten, 23,00 €

Seine Vielschichtigkeit ist der große Verdienst des gesamten Buches. Aus vermeintlichen Einzelschicksalen entsteht in Glückwunsch ein Mosaik, das Schwangerschaftsabbrüche als Kollektiverfahrung markiert und im Zuge dessen enttabuisiert. Gleichzeitig schwingt zwischen den Zeilen ebenjenes Mitgefühl mit, das vielen Frauen, die sich dazu entscheiden, ihre Schwangerschaft zu beenden, in der Gesellschaft verwehrt bleibt. Im Vorwort schreiben die Herausgeberinnen: »[D]ie Literatur [befreit] die Sprachlosen aus der Vereinzelung und der Ohnmacht, indem sie eine Brücke bildet zwischen der Erfahrungswelt der literarischen Figuren und der Realität der Leser:innen.« Ebendiese Befreiung ist in den Texten, die Glückwunsch versammelt, allgegenwärtig. Es ist die Befreiung von eingestaubten Narrativen und engstirnigen Perspektiven auf ein vermeintliches Tabuthema, welches nun endlich seinen rechtmäßigen Platz in der Gegenwartsliteratur (sowie in der Gesellschaft) einfordert.

Die Lektüre von Glückwunsch ist alles andere als einfach. Sie ist herausfordernd und schmerzhaft, sie zwingt die Rezipient:innen sich existentielle Fragen zu stellen und konfrontiert sie nicht zuletzt mit Ungerechtigkeit und Leid. Aber Glückwunsch ist auch ein enorm wichtiges Buch, dessen diskursive Kraft nicht abzustreiten ist und das zweifelsohne das Potential hat, zukünftig als wegweisendes literarisches Werk zum Thema Schwangerschaftsabbrüche zu gelten.

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