Zwischen Wunsch, Wahn und Wirklichkeit

In Abbas Khiders Der Erinnerungsfälscher beginnt für Said mit einer Reise nach Bagdad eine Reise in seine Vergangenheit. Innerlich zerrissen leidet er an dem Leben zwischen den Kulturen – doch mit dem Wissen um den Konstruktcharakter von Erinnerungen und Identitäten findet der Protagonist schreibend einen neuen Umgang damit.  

Von Mareike Röhricht

Bild: Via Pixabay, CC0

Als Said Al-Wahid zur Flucht nach Deutschland aufbrach, flüsterte ihm seine Mutter zum Abschied zu, er solle nie wieder zurückkommen. Allerdings gelang es ihm nie, sie nach Deutschland nachzuholen. Und so kommt es, dass er Bagdad mittlerweile schon dreimal den Rücken gekehrt hat. Jedes Mal dachte er, es wäre ein Abschied für immer. Doch Bagdad lässt ihn nie los. Der Irak interessiert sich nicht für Saids Entschlüsse. Er ist ein mächtiges fortwährendes und von Gewalt gezeichnetes Chaos – und mit all dem beständiger Teil von Saids Identität, auch in seinem Leben in Deutschland.

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Abbas Khider
Der Erinnerungsfälscher

Hanser: München 2022
128 Seiten, 19,00€

Abbas Khiders neuer Roman Der Erinnerungsfälscher wirkt – trotz oder gerade wegen seiner unzuverlässigen Erzählweise – mit seinen schlanken 126 Seiten wie der präzise Scherenschnitt einer facettenreichen Identität im Leuchtkegel des hochkomplexen Themenfelds von Flucht und Migration: »Es ist, als hätte Said eine Affäre, von der keiner erfahren soll, mit sich selbst.« Dieses schwierige Leben zwischen den Kulturen beschreibt Khider auf eindrucksvolle und zugängliche Weise. Khiders zugleich sensibler wie auch spielerischer Umgang mit Sprache verschont die Leser:innen nicht und amüsiert dennoch. Die unfreiwillige vierte Reise zurück zu Saids Familie in den Irak ist für die Leser:innen, die ihn begleiten, eine Reise durch die Erinnerungen eines ewig Suchenden. Eine humorvolle Lektüre voller schmerzhafter Erinnerungen, die doch voller Zuversicht ist.

Denn der Protagonist leidet gleichzeitig an einer Angst vor Zugehörigkeit und der Sehnsucht danach – beides offenbart sich in seinem Verständnis von Erinnerungen und dem Umgang mit ihnen. Doch dass Erinnerungen und Identitäten Konstrukte sind, ist ihm mittlerweile bewusst. Ebenso, dass beide die Wahrnehmung und das Handeln in der Gegenwart beeinflussen. Aber was anfangen mit diesem Wissen? Im Laufe des Romans findet er eine Antwort auf diese Frage.

Die (Ohn-)Macht der Träume

 »Träume kann man scheinbar nicht zur letzten Ruhe geleiten. Sie sind wie eine verworfene Liebe, egal, was danach passiert, es bleiben immer merkwürdige Stiche im Herzen zurück.« Nach dieser Erkenntnis beschließt Said, seinen Traum, Schriftsteller zu werden, zu verwirklichen. Zu Beginn des Romans ist er auf dem Heimweg von seiner ersten Podiumsdiskussion nach der Veröffentlichung seines Debüts, auf dem Weg zurück zu Frau und Kind, als ihn irgendwo auf der Zugstrecke zwischen Mainz und Berlin ein Anruf von seinem Bruder erreicht. Er bittet Said, so schnell wie möglich nach Bagdad zu kommen, weil die Mutter der beiden im Sterben liegt. Und weil Said weiß, dass sein Bruder ihn nie darum bitten würde, wäre die Lage nicht wirklich ernst – eine Redewendung, die er, genau wie den Heimatbegriff, nicht ausstehen kann und die im Verlauf seiner Erzählung, wie auch andere Worte, noch genauer unter die Lupe genommen wird –, verlässt er den Zug bei nächster Gelegenheit, um schnellstmöglich zum Frankfurter Flughafen zu gelangen. Mit dem Flug nach Bagdad, der natürlich kein Direktflug ist, beginnt die Reise in Saids Vergangenheit oder das, was er dafür hält.

Auch Gefühle sind erblich

Nur dank des Misstrauens, das sein ständiger Begleiter ist, kann er unverzüglich nach Bagdad aufbrechen: »Zum Glück hat Said seinen Reisepass dabei. Hätte er sich jemals an die Bequemlichkeit der letzten Jahre gewöhnt, hätte er ihn zu Hause liegen gelassen, als er nach Mainz fuhr.« Doch was ist das für ein Glück? Die Wahrheit ist, dass er weder durch die Einbürgerung, die er mit Hilfe einer renommierten Kanzlei in einem mehr als drei Jahre andauernden und alle Ersparnisse verschlingenden Prozesses erwirkt hat, noch durch die Geburt seines Sohnes Illias je das Gefühl hatte, endgültig angekommen zu sein. Und das nicht zuletzt, weil die Behörden und ihre bürokratischen Abläufe Said von Zeit zu Zeit daran zu erinnern wissen, dass er die deutsche Staatsbürgerschaft erst lange nach seiner Geburt erstanden hat. Bald zeigt sich, dass dieses Misstrauen allerdings mehr ist als die Folge behördlich geregelter Schikane und migrantischer und rassistischer Erfahrung. Es scheint vielmehr, genau wie die mit dem Misstrauen verbundene innere Unruhe, erlernt und vererbt. Denn die Reise nach Bagdad weckt Erinnerungen an seine Kindheit und in ihnen zeigt sich, dass schon Saids Mutter Angst vor dem Glück hatte. Weil sie es nicht kannte:

Sie fürchtete sich, wenn es ihnen eine Weile gut ging. […] Sie wirkte unruhig, als würde sie sich in einem falschen Film befinden. Sie traute dem Frieden nicht. Erst, wenn das nächste Unglück kam, beruhigte sie sich wieder. Mit Krisen konnte sie umgehen, im Glück war sie eine ewige Anfängerin.

Die Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend im Irak zeigen eindrucksvoll, dass das individuelle und familiäre Leben tatsächlich hochpolitisch ist. Für Said gab es eine Zeit vor dem Diktator, und eine nach der Hinrichtung seines Vaters, die Saids Kindheit ein viel zu frühes Ende setzte.

Eine moderne Odyssee – Psychogramm eines Heimatlosen

Mit der Reise werden auch Erinnerungen an die zehrenden Jahre der Flucht aufgerufen. Sie führte Said in vier Jahren von Asien über Afrika bis nach Europa. In jener Zeit empfand Said eine Nacht in einem griechischen Gefängnis als erholsam, weil er, anstatt unter einer Brücke, auf einer echten Matratze schlafen konnte – ohne die Angst, von Neonazis überfallen zu werden. Vieles versteckt Abbas Khider zwischen den humorvollen Zeilen. So ist es wohl kaum ein Zufall, dass es sich bei dem Buch, das Said auf seiner Flucht x-mal zu lesen beginnt und das er doch erst in München zu Ende liest, um Die Taube von Patrick Süßkind handelt. Einerseits prangt eine Taube auf dem Cover von Der Erinnerungsfälscher, andererseits attestierte Benjamin Henrich dem Helden von Die Taube einst in der ZEIT 1987 die Hoffnung auf einen »Zustand von monotoner Ruhe und Ereignislosigkeit« – eine Hoffnung, die der Sehnsucht von Abbas Khiders ruhelosem Protagonisten Said ähnelt. Ebenso wenig zufällig sind die Namen der Figuren (wie Saids eigener und der seines Sohnes Illias) gewählt, die teilweise auch thematisiert werden.

Der Erinnerungsfälscher skizziert das Leben zwischen zwei Kulturen als ein Leben in ständiger Bewegung, als Prozess der Selbstentfremdung und Selbstfindung. Der Protagonist bleibt nicht nur in seiner neuen Heimat fremd, sondern entfremdet sich auch zunehmend von der alten Heimat, wie die Erinnerungen an Saids ungeliebte und jedes Mal früher als geplant beendeten Besuche im Irak zeigen. Gleichzeitig werden Erinnerungen nicht nur geweckt, sondern auch in Frage gestellt. Ihre Lücken werden ihm erbarmungslos vor Augen geführt und mit ihnen die Komplexität und Gemachtheit von Erinnerungen und Identitäten. Said muss eine konstruktive Haltung zu diesem Prozess entwickeln. Deutlich wird das zum Beispiel, wenn sein Bruder Saids Kindheitserinnerungen an das Schlafen auf den Hausdächern als »romantische[n] Käse« enttarnt.

Von Alltagsrassismus und Ironien des Schicksals

Auch wenn Said schon so lange in Deutschland lebt, dass sein Bruder ihn als einen »europäische[n] Orientalist[en]« bezeichnet, bleibt er in seiner neuen Wahlheimat ein Fremder. Dies wird in seinen Beschreibungen diverser rassistischer Alltagserfahrungen schmerzlich deutlich. Weil er vermeintlich zu lange an einem Denkmal in München steht, fordern Polizisten ihn auf, seine Papiere vorzuzeigen. Ein irritiertes »Wieso denn?« sorgt dafür, dass Said sich Sekunden später mit einem Knie im Genick auf dem Asphalt wiederfindet. Es ist unmöglich, bei diesen Zeilen  nicht an George Floyd zu denken. Mit Verweis auf das Antiterrorgesetz wird Said in Gewahrsam genommen und erlebt menschenunwürdige Schikane – anders als einst im griechischen Gefängnis. Doch wer weiß, ob man Saids Erinnerung trauen kann? Mit viel (Selbst-) Ironie schildert er weitere Erfahrungen dieser Art, die er zum Beispiel an Flughäfen, bei der Bücherausleihe im Studium und bei Deutschlernkursen gesammelt hat.

Schöpferische Selbstermächtigung

Zusammengehalten wird die Collage aus Erinnerungen von einem selbstreflexiven Rahmen, der das berufliche Schreiben des Protagonisten mit einem bewussten Umgang mit Erinnerungen verbindet: Als Said wegen der Erinnerungslücken, die ihm bei seinen ersten Schreibversuchen auffallen, Hilfe bei einem Arzt sucht, empfahl dieser ihm eine Traumatherapie. Weil sich alles in ihm dagegen sträubte, recherchierte er auf eigene Faust. Der selbstreflexive Rahmen und sein daraus erwachsendes kreatives Schreiben sind Saids Antwort auf die Frage nach einem guten Umgang mit den Herausforderungen, die ihm seine Herkunft und die Migration auferlegt haben. Seine Lösung für dieses Problem hilft ihm, seinen Traum von der Autorschaft Wirklichkeit werden zu lassen. Und so stellt sich die Frage, ob es – beim Schreiben wie auch im Leben – womöglich mehr um das der Gegenwart entspringende Erfinden als um das in der Vergangenheit verhaftete Erinnern geht. Oder, in den Worten von Eckhart Tolle: »Du kannst dich nicht selber finden, indem du in die Vergangenheit gehst. Du findest dich selber, indem du in die Gegenwart kommst.« Wie genau das möglich ist, zeigt Khider in Der Erinnerungsfälscher.

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