Tränen fließen im Theater im OP, als Regisseurin Lilian Laetitia Haack Was fehlt, wenn ich verschwunden bin – und damit verbunden die Geschichte zweier Schwestern – mit viel Feingefühl und Gespür inszeniert. Es wird deutlich, wie toxische Familiendynamiken ein Individuum zerbrechen lassen.
Content-Hinweis: Dieser Artikel greift die im Stück behandelten Themen Magersucht und Depression auf.
Von Marie Bruschek
Bilder: Martin Liebetruth
»Liebe April, du bist jetzt schon fast eine Woche weg, und ohne dich ist es schrecklich langweilig hier«. Dies sind die ersten Worte, die auf der Bühne gesprochen werden. Mehrere Schauspielerinnen adressieren diesen Satz direkt in die Ränge. Er stammt aus einem Brief der neunjährigen Phoebe an ihre große Schwester April. Es ist der erste von vielen, der Beginn einer Flut an Gedanken und Gefühlen. Der Grund für die Trennung: April ist an Magersucht erkrankt und wurde in eine Klinik eingewiesen. Kein einfaches Thema, welches momentan im Theater im OP inszeniert wird. Basierend auf dem gleichnamigen Briefroman Was fehlt, wenn ich verschwunden bin von Lilly Lindner (Fischer Sauerländer 2017) verarbeitet Erstregisseurin Lilian Laetitia Haack hier Essstörungen, Erwachsenwerden, Sprache als Kommunikationsmittel und toxische Familiendynamiken auf der Bühne – und legt ein beeindruckendes und berührendes Debüt hin.
In die Stille, die April hinterlässt, schreibt Phoebe, füllt den Leerraum mit Wörtern und Neologismen. »Winterwassertief«, »Mondschattenspiele« und »davonkommen« gehören zu ihren Favoriten. Ihre sieben Jahre ältere Schwester ist für sie ein Vorbild, April hat nicht nur sich selbst, sondern auch einen Teil von Phoebe in die Klinik mitgenommen. Oder eher: von den Phoebes. Es stehen mehrere Schauspielerinnen (Mirja Ersing, Joleen Friedrichs, Antonia Hentrich, Pauline König, Kiara van Delden) auf der Bühne, die den naiven Charakter spielen – der ohne Rückmeldung von April auskommen muss. Einen Antwortbrief gibt es nie, die Stille bleibt intakt. Die Phoebes tragen bunte Haarspangen, geflochtene Zöpfe, sind grün und weiß in Latzhosen und Kleider gekleidet – und sehen aus, als kämen sie gerade vom Kinderschminken. Rund um ein Auge sind bunte Formen, Glitzer und kleine silberne Sternchen aufgetragen. Doch auch schauspielerisch wird das junge Alter Phoebes vermittelt: Auf der Bühne wird gerannt, mit hohen Stimmen schnell und aufgeregt gesprochen – an der kindlichen Unbedarftheit bleibt kein Zweifel.
Geschickt vermittelt die Inszenierung die Briefe der Grundschülerin dem Publikum: Dafür schreiben die Darstellerinnen mit Kreidestiften auf dem Boden, der sich immer mehr und mehr mit der Wortgewalt des jungen Mädchens füllt. An den Bühnenausgängen links und rechts sind mehrere weiße Tücher gespannt, zwei Teddys und mit Stickern beklebte Wasserflaschen bilden den Rest des minimalistischen Bühnenbilds. Dieses wird von den fünf Phoebes völlig ausgenutzt, um den Inhalt der Briefe zu spielen: Mal liegen sie in einem Kreis in der Mitte, toben in sorgfältig choreografiertem Chaos herum, für andere Szenen stehen sie am Rand und sprechen direkt in die Ränge. Die Laufstegbühne des ThOP funktioniert für die Umsetzung des Romans in Briefform perfekt, die Zuschauer:innen werden direkt angesprochen, als wären sie das gemeinte Geschwisterkind. Doch es bleibt nicht beim bloßen Briefevorlesen: Die Stimme der Deutschlehrerin kommt aus dem Off, ab und zu rutscht die Stimme einer Phoebe von der hohen Tonlage herab, um die Mutter oder den Vater zu mimen. Dieser schauspielerische Wandel ist beachtlich.
Das Stück ist in zwei Teile getrennt – und der zweite behandelt nach einer Pause Aprils Perspektive. Das ist ein willkommener Wechsel, auf Dauer ist das kindliche Auftreten Phoebes doch etwas ermüdend. Wie die Geschichte ausgeht, wird mittig verraten, sodass der Tod Aprils keine Überraschung mehr ist. Das trägt dazu bei, dass ihre Worte noch viel berührender sind, das Publikum hört nun die Briefe eines Gespensts. April hat Phoebes Post erhalten, ihr auch zurückgeschrieben – nur hat die Mutter es ihr untersagt, die jüngere Schwester mit den dunklen Dokumentationen aus der Klinik zu konfrontieren. Stattdessen hebt April die Briefe auf, um sie Phoebe später zu geben.
Auch hier spielen fünf Schauspielerinnen (Lisa Albrecht, Maj Frieser, Anina Karch, Eva Kogan, Maryam Rosenboom) eine Schwester: Sie sind deutlich bedeckter in grau und schwarz gekleidet, haben schwarze Schatten unter die Wangenknochen und Glitzer unter beiden Augen geschminkt bekommen – was den Effekt von frisch geweinten Tränen hat. Kostüm und Bühnenmakeup sind überaus gelungen, auch die Lichttechnik ist an dieser Stelle hervorzuheben. Während das Licht mal die ganze Bühne bestrahlt und an anderen Stellen nur ein einziger Scheinwerfer aktiviert ist (wie es auch schon bei Phoebe genutzt wurde), leuchtet in Aprils Teil oft ein alienhafter grünbläulicher Schein. Das betont die Gefühle und Empfindungen von April, deren Hochbegabung von den Eltern nicht verstanden wird, die als Kind Missbrauch erlebt, die es irgendwann aufgibt, mit ihren Eltern zu reden. Wie ein Fremdkörper fühlt sie sich in der Familie, der sie nur durch ihre Anorexie die tiefsitzende Einsamkeit vermitteln kann. Mutter und Vater scheitern auf ganzer Ebene, ihr Umgang mit der älteren Tochter ist alles andere als pädagogisch sinnvoll.
Die Darstellung des besonderen Kindes erinnert stark an Phoebe – nur, dass die Eltern beim zweiten Kind einen zweiten Versuch haben und nun mit der Hochbegabung umgehen können. Es wirkt, als seien beide Schwestern eigentlich ein und dieselbe Person, bloß in zwei verschiedenen Umfeldern. So treten die Phoebes in der zweiten Hälfte weiterhin ab und zu auf, jetzt als Reminiszenzen, die April in ihren Briefen erinnert. Dafür ist das Grün der Kleidung aber heller, ein Pastellton. Der Kontrast zwischen beiden Personen im direkten Vergleich ist gravierend: Die Bewegungen der Aprils sind deutlich reduzierter, manchmal tanzen sie stakkatohaft, wirken statuesk. Der letzte Brief Aprils hat die Verabschiedung der Schwestern zum Inhalt, eine Situation, bei welcher Phoebe auf einen Baum geklettert ist. Dafür stehen die Darstellerinnen – nun völlig in weiß – auf der oberen Ebene und blicken hinunter. Die Farben zeigen einerseits, wie Phoebe erwachsen wird – aus der weißen Unschuld wird rückwirkend ein erwachseneres Grün. Dieses Verdunkeln betont, wie April zum Ende des Stücks, aber chronologisch zu Beginn der Geschichte noch viel kindlicher ist. In der Gegenwart hingegen ist sie durch die Erfahrungen ernster, erwachsener geworden – das zeigt das dunkle Grün, das melden ihre Lehrer:innen zurück. Andererseits wirken die fünf Phoebes wie kleine Engel, die von oben auf April und das Publikum herabschauen – auch hier die beiden Schwestern eigentlich als zwei Versionen einer Person.
Die Worte der 16-jährigen April berühren immens, der zweite Teil erhält seine Kraft gerade durch den Kontrast zu Phoebes Naivität im ersten Part. Wieder zeigen sich die Vorteile der Laufstegbühne: Blickt man von einer Seite zu den gegenüberliegenden Rängen, sind Tränen und Taschentücher im Publikum keine Seltenheit. Aprils Haltung zu ihrer Krankheit, zu ihrer Schwester, die Tatsache, wie wenig eigentlich zur Gesundung fehlt, lassen fast kein Auge trocken: »Ich weiß doch, dass ich nur dieses eine Leben mit dir habe. Und dass ich dich nie wieder sehe, wenn es vorbei ist« sagt sie bestimmt, oder an anderer Stelle: »Manchmal bin ich so müde, Phoebe, so furchtbar müde. Ich glaube, ich könnte einfach einschlafen, hier und jetzt, und nie wieder aufwachen. Ich liebe dich.«
Auch die Aprils sprechen regelmäßig direkt in die Ränge, auch sie beschreiben den Boden, jedoch ohne Rechtschreibfehler in ordentlicher Schreibschrift. Das hat etwas Metapoetisches: Das Stück endet damit, dass Phoebes das Ziel fasst, ein Buch für ihre Schwester zu schreiben, bestehend aus den Briefen. Genau den Inhalt dieses Buches setzt das Stück um – das impliziert zumindest, dass Phoebe die Briefe ihrer Schwester letztlich doch erhalten hat. Wortwörtlich wachsen die beiden Figuren aus den eigenen Worten, die bunt auf dem schwarzen Boden gekritzelt sind. Steht in einem Roman die Widmung zu Beginn des Textes, endet Was fehlt, wenn ich verschwunden bin mit dieser: »Ein Buch für dich, April. In Gedenken.«
Damit überzeugt das Stück auf ganzer Länge: Die Inszenierung verbindet gekonnt Kostüm, Makeup, Bühnenbild und Licht mit dem Schauspiel zu einem runden Gesamteindruck. Die emotionale Thematik trifft mit voller Wucht – nicht jedes Stück, was zu Tränen rührt, ist zwingend gut inszeniert. Auf dem schweren Stoff wird sich hier aber nicht ausgeruht, Was fehlt, wenn ich verschwunden bin strotzt nur so vor künstlerischer Expression.
Was fehlt, wenn ich verschwunden bin wird noch heute (29.05.), am 31.05. und am 01.06. je um 20:15 im ThOP gespielt. Mit dem Kulturticket haben Studierende freien Eintritt. Reservierungen können hier vorgenommen werden.