Vor dem Deutschen Theater in Göttingen sind Spiegel und Lautsprecher aufgebaut. Während der Pandemie ist das ein Weg, trotz Beschränkungen Kultur zu erleben. Die Spiegelstimmen sprechen von Liebe, Stereotypen und dem Menschen als Bestandteil der Gesellschaft.
Von Lucie Mohme
Bild: Lucie Mohme
Ist die Treppe des Deutschen Theaters in Sicht, mag sich bei dem:der ein oder anderen Verwirrung breit machen. Denn ein wuseliges Durcheinander von Stimmen schallt einer:m entgegen. Mal ein leises Flüstern von der einen Seite und ein Schrei übertüncht plötzlich die Stimmen, die aus den Lautsprechern klingen: „Warum darf ich nie die Wahrheit sagen?!“
Sechs Spiegel stehen draußen in der Kälte. Sie sind Teil einer Installation des DT vor dem Theatergebäude. An diesen Spiegeln, die auf und neben den DT-Treppen aufgebaut sind, befinden sich ringsherum kleine Schminkspiegellampen, die an den Maskenraum des Theaters erinnern. Spiegel, gespickt mit fast unscheinbaren Lautsprecherlöchern, die in der schwarzen Fassade eingebaut wurden, sind der Mittelpunkt dieser Installation mit dem Namen »Mechanische Tiere«. Der Titel der von Rebekka Kricheldorf geschriebenen Texte, hört sich erst einmal nicht nach dem an, was man hier vor sich sieht. Was sich die Installateure Erich Sidler und Florian Barth bei den Spiegeln gedacht haben, ist erstmal nicht klar. Auf den ersten Blick ist von mechanischen Dingen oder Tieren keine Spur. Um herauszufinden, was der Schriftzug »Mechanische Tiere«, der auch in Spiegelbuchstaben an der linken Seite des DT steht, bedeutet, müssen die Besuchenden sich auf die Stimmen einlassen und näher an die Spiegel herantreten.
Die anklagenden Stimmen in den Spiegeln sind außerdem nicht unbekannt. Begeisterten Theatergänger:innen werden die markanten Stimmen der Schauspielenden des DT auffallen und wie sie emotional die Gedanken der Lauschenden anregen. Mal wird flüsternd eine Geschichte erzählt, dann wieder wird direkt mit der Person vor dem Spiegel geredet oder es findet ein Dialog der Stimmen im Spiegel untereinander statt.
Ich fühl mich
Wie fühl ich mich? Das ist eine Frage, die die Stimmen im Spiegel beantworten. Die Stimmen fühlen sich wie Gregory Peck, wie Michael Douglas, wie Brad Pitt oder wie Julia Roberts. Oder was dann doch deutlich durchdringt: »Ich fühle mich heute überhaupt nicht.« Die Stimmen erklären nicht nur, wie sie sich fühlen, sondern regen auch an, darüber nachzudenken, wie die Zuhörenden sich fühlen. Dies gelingt mit dem Satz »Ich fühle mich heute wie Du.« Und wie ist das genau, sich wie »Du« zu fühlen? Das kann nur die Person beantworten, die in dem Moment vor dem Spiegel steht.
Neben Befindlichkeitsfragen geht die Spiegelausstellung auch auf innere Konflikte ein. Warum bin ich so, wie ich bin? Kann ich nicht weniger Ich sein oder einfach anders. Gibt es Zufall oder Schicksal? Hätten wir unsere geliebten Personen vielleicht um ein Haar nie kennen gelernt? »Du bist zu viel. Der da ist zu wenig«, heißt es bei einem der Spiegel. Konflikte der wahren Liebe werden aufgeworfen, die Installation fragt: Welche Liebe ist ausreichend?
Liebe mich
Liebe ist in der Installation ein präsentes Thema. Zusätzlich verschärft die Pandemielage den Blick auf die Liebesthematik: Ist es an der Zeit zu lernen, nur mit der eigenen Selbstliebe auszukommen? Denn immer noch zwingt das Virus die Menschen, Abstand zu einander und zu physischer Zuneigung zu halten. Die Installation greift das auf: Der Spiegel, der die Person allein zeigt, erinnert nach Monaten im Home Office an eine Videokonferenz-Situation, in der man sich selbst in einem kleinen Fenster wiederfindet. Auch die Stimmen aus den Lautsprechern gleichen Gesprächen auf digitalem Wege.
Die Stimmen der Installation spiegeln den gesellschaftlichen Blick auf Liebe wider. Es wird Liebe verlangt, auch wenn man selbst zu lieben nicht in der Lage ist. Liebe auf ewig. Liebe in Alter und der vergänglichen Schönheit. Liebe im Hass. Liebe auch, wen die Welt untergeht. Ist Liebe von Sex zu trennen? Ist Sex ohne Gefühle und Verpflichtungen normal in der heutigen Gesellschaft?
Stereotypenflucht
Verunsicherung und die Angst davor, etwas Falsches im Sinne gesellschaftlicher Vorgaben zu machen, klingt deutlich durch. Fragen wie »Bist du schonmal…?«, »Hast du schonmal…?«, »Sollte ich…?« und »Würde es helfen, wenn…?« zeigen, wie tief verankert die Anerkennung von Handlungen in der sozialen Umgebung ist. Ein System, das kein Falsch erlaubt. Die Stimmen fragen danach, was als normal gilt, auch im Hinblick auf psychische Krankheit und Gesundheit. Sie klagen sich gegenseitig an und streiten über Definitionen der Norm. Mit Fragen um Fragen kämpfen sich die Stimmen in den Spiegeln vor bis zur philosophischen Endfrage: »Bin ich eigentlich schon glücklich?«
Die Spiegel zeigen ein Abbild der Person, die davorsteht. Doch sieht hier jede:r das Gleiche? Ironisch wird damit auch der Drang nach Individualität aufgegriffen. Das Vermeiden von Stereotypen ist ein scheinbar neuer Trend. Und natürlich ist niemand stereotypisch. Also sind doch alle Menschen gleich im nicht-stereotypischen Sinne? Ist genau das nicht wieder stereotypisch? Wir sind unweigerlich Teil dieser Gesellschaft, warum ist es uns aber so wichtig, nicht in der Masse unterzugehen? Und wieder stehen wir unserem Spiegelbild gegenüber und wissen keine Antwort.
Mechanische Gesellschaft
Die Spiegelstimmen klagen und erzählen aus ihrem tiefsten Inneren, was sie bewegt. Eins zeigen sie jedoch deutlich: Wir sind Teil von etwas, das wir in Frage stellen können. So erscheinen die Zuschauenden als mechanische Tiere der Gesellschaft. Als Zahnrad, das in einem System aus Stereotypen und Normen funktioniert. Und wenn wir so funktionieren wollen, wie wir müssen, bleiben wir so, wie es die gesellschaftlichen Ansprüche verlangen. Auch wenn wir etwas anderes behaupten.
Die Installation macht einen gemütlichen Sonntagsspaziergang zu einem philosophischen und gedankenanregenden Gang. Das DT zeigt, dass das Theater noch da ist. Und noch viel wichtiger: dass das Theater ein Spiegel der Gesellschaft ist. Es erhält Diskussion und thematisiert aktuelle Problematiken. Es erhält die Demokratie. Eins steht fest: Das DT weiß, wie es auch in schwierigen Zeiten Theatergänger:innen begeistern kann.