Elif Shafak beweist mit ihrem neuesten Roman Das Flüstern der Feigenbäume erneut ihr großes erzählerisches Talent. Mit der ihr eigenen lyrischen Prosa erforscht sie die Schicksale von Individuen im großen zyprischen Konflikt. Ein Roman, der in unserer Gegenwart Resonanz findet.
Von Emily Lüter
Geschichtsschreibung ist das Narrativ der Gewinner. Die Stimmen jener, die auf der anderen Seite dieses Narratives stehen, bleiben ungehört. Gerade deswegen ist Elif Shafaks historischer Roman Das Flüstern der Feigenbäume eine so machtvolle Geschichte: In der letzten geteilten Stadt Europas, Nikosia, kollidieren menschliche Schicksale zwischen türkischen, griechischen und englischen Nationalbestrebungen. Individuen gehen verloren zwischen den Grenzen und verlieren auch sich selbst. Doch nicht nur das menschliche Leben in all seiner Vielfalt bekommt eine Stimme, auch das tierliche und pflanzliche Leben wird gleichberechtigt erkundet in diesem höchst polyphonen und eindrucksvollen Roman.
Zwischen den Grenzen
Zypern, 1974: Seit dem Einfall türkischer Truppen im Norden der Insel ist Zypern durch die Grüne Linie getrennt. Was auf einer Landkarte durch einen einzigen, einfach gezogenen Strich repräsentiert wird, ist in Wahrheit ein von Maschendrähten und UN-Soldat:innen bewachtes Kriegsgebiet, das den fragilen Waffenstillstand zwischen türkischen und griechischen Nationalist:innen wahrt. In diesem Grenzkonflikt, der durch postkoloniale Traumata und nationalistische Verbissenheit jahrzehntelang befeuert wurde, treffen der Grieche Kostas und die Türkin Defne aufeinander. Sie sind jung, sie sind verliebt – und das in einer Zeit, in der an Liebe zwischen den Grenzen nicht zu denken ist.
Elif Shafak
Das Flüstern der Feigenbäume
Kein & Aber: Zürich 2021
512 Seiten, 27,00€
London, Ende der 2010er: Die junge Ada, das Ergebnis der verbotenen Liebe ihrer Eltern, wächst in einer Atmosphäre des Schweigens und der Tabus auf. Ihre zyprischen Wurzeln hat sie nie kennenlernen dürfen, die Sprachen ihrer Eltern spricht sie nicht. Sie ist als Kind von Immigrant:innen eine Entwurzelte, wie Elif Shafak sie in ihrer Widmung nennt: »Für die Immigranten und Exilanten überall auf der Welt, die Entwurzelten, Neuverwurzelten, Wuzellosen.«
Nach dem Tod von Adas Mutter vertieft sich die Leere in ihrem Inneren, bis sie mit einem metaphorischen, aber auch tatsächlichen Schrei aus der Stille aufwacht. Die Geschichte ihrer Eltern ist auch ihre Geschichte und so setzt sie es sich in den Kopf, den Deckel der Vergangenheit zu öffnen. Der Roman springt zwischen den Inseln, zwischen England und Zypern, doch er bewegt sich auch zwischen Vergangenheit und Gegenwart und eröffnet somit die komplexen Beziehungen eines Generationenkonflikts. Das Schweigen der Älteren wird durch die Neugier der Jüngeren durchlöchert und offenbart eine Zerrissenheit der Generationen, in der der alte Schmerz und die alten Ängste sichtbar werden, die so lange verdrängt wurden.
Baum-Zeit
Die menschliche Geschichtsschreibung ist eine einseitige Geschichte. Nicht nur die Verlierer werden von ihr an den Rand gedrängt, sondern auch die, die gar nicht als menschlich kategorisiert werden. Die Echte Feige, Ficus carica, hat sich aus ihrem Ursprungsort Kleinasien über Grenzen hinweg ausgebreitet und ist mittlerweile von den USA bis Indien zu finden. Sie ist ebenfalls eine Entwurzelte, die neue Wurzeln in frischer, fremder Erde geschlagen hat. Und sie ist eine grandiose Erzählerin. Abwechselnd mit der allwissenden Erzählinstanz berichtet und beleuchtet die Feige von Adas Vater Kostas ihren Blick auf die Geschichte Zyperns, auf ihre eigene Immigration aus ihrer Heimat in einen englischen Vorstadtgarten. Die Feige ist eine Metonymie, die für all die Verwurzelten, Wurzellosen und Neuverwurzelten einsteht, doch gleichzeitig besitzt sie als Akteurin im Netzwerk des Geschehens ihr ganz eigenes Aktionspotential.
Elif Shafak gelingt es meisterhaft, das Leben und die Geschichte nicht-menschlicher Mitspieler aufzuarbeiten, die durch Brände, Rodungen und Immigration eine ebenso relevante Rolle für eine Geschichte der Lebewesen spielen. Biologisches, geophysisches und naturkundliches Wissen verbinden sich bei ihr mit einer einfühlsam erzählten Geschichte, die gleichzeitig eine neue Perspektive auf menschliche Paradigmen wirft. Bäume bezeugen Geschichte, sie sind Geschichte, jedoch nicht linear-industriell, sondern zyklisch. Und tatsächlich ist Geschichte in diesem Roman nicht linear:
Pflanzen haben ihre eigene Sicht auf Geschichte und ebenso halten sie sich nicht an menschengemachte Grenzen, an Tintenstriche auf Karten. Das Schreiben über sie, aber vielmehr noch das Leben mit ihnen, eröffnet neue Welten.
Die Zyklen von Geschichte
Dass Das Flüstern der Feigenbäume parallel im 20. Jahrhundert und Ende der 2010er spielt, ist kein Zufall. Obwohl der historische Roman vor allem die Homophonie der westlichen Geschichtsschreibung dekonstruiert, offenbart er unangenehme Wahrheiten über die Gegenwart. Als Leser:in historischer Begebenheiten ist es allzu einfach, das Geschehene von sich abzuweisen als etwas, das mit dem eigenen Leben nichts zu tun hat. Doch obwohl der Roman, der minutiös recherchiert wurde, die Spezifika des Zypernkonflikts beleuchtet, bleiben die Parallelen zu unserem Leben nicht ungehört. Ada lebt im England des Brexits, wo Grenzen und Grenzkonflikte die geteilte Geschichte Irlands auflodern lassen und wo eine zunehmend feindliche Stimmung Immigrant:innen gegenüber herrscht. Ein Sturm fegt über London und die Folgen des Klimawandels halten Einzug in Europa. Die Message ist klar: Ein Narrativ, das pflanzliche und tierliche Mitspieler nicht mitdenkt, hat gerade zu dieser globalen Krise geführt.
Menschen vererben Traumata und Konflikte und so sehr sie sich in der Sicherheit zeitgenössischer Friedensabkommen wägen, braucht es manchmal den Blick in ein fremdes Land, um zu erkennen, dass die Vergangenheit überall ihre Narben hinterlassen hat. Nationalistische und fremdenfeindliche Sentiments sind nie verschwunden, sie wachsen, gedeihen nur in Zyklen. Elif Shafaks Roman greift die Wurzeln unserer Menschlichkeit an und lässt aus ihnen eine neue Geschichte erwachsen, die die Leser:innen zum Reflektieren anstößt über ihre eigenen Position in der Geschichte, aber auch im Hier und Jetzt. In lyrischer Sprache beweist sie das Potential von Literatur das zu sagen, was oft ungesagt bleibt, und schließt: