Literaturinteressierte erlebten am 22. April mit Shida Bazyar und Saša Stanišić eine abwechslungsreiche Zeit im Literaturhaus. Die Abschlussveranstaltung des Festivals an:grenzen im Literarischen Zentrum Göttingen wurde zu einem lebendigen Abend.
Von Anna Röttger
Bild: Mehnoush Aboutorabi
Als Abschluss des Festivals an:grenzen des Literarischen Zentrums Göttingen hat am Samstagabend ein Gespräch mit Lesung im Literaturhaus stattgefunden. Die prominenten Gäste waren die Autorin Shida Bazyar und der Autor Saša Stanišić, Schriftstellerin Mithu Sanyal führte durch den Abend. Themen waren die Themenfindung für Schreibprojekte sowie das Schreiben zwischen mehreren Kulturen und Nationen.
Saša Stanišić wurde für seine Erzählungen und Romane zahlreich ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Buchpreis 2019 für sein Buch Herkunft. Der 45-Jährige wurde in der Stadt Višegrad in Jugoslawien geboren und lebt seit den 90er-Jahren in Deutschland. Die Autorin Shida Bazyar ist ebenfalls vielfach für ihre beiden Werke ausgezeichnet worden, zuletzt erschien im Jahr 2021 Drei Kameradinnen. Bazyar ist 34 Jahre alt und in Rheinland-Pfalz geboren. Die beiden Gäste des Literaturhauses gaben einen Einblick in ihre schriftstellerischen Tätigkeiten und trugen je zwei Stellen aus ihren Romanen vor.
Vom Thema zum Roman
Worüber soll man überhaupt schreiben? Bazyar gelange zu den Themen ihrer Bücher, wenn sie merke, dass sie an dem Thema alles anzieht: »Wenn es kribbelt, wenn man mehr wissen will.« Doch im Anschluss an ihren hochgelobten ersten Roman Nachts ist es leise in Teheran sei die Themenfindung eine Herausforderung gewesen. Stanišić stimmt der Anziehungskraft, die zu einem Gegenstand bestehen muss, zu. So sei es auch bei seinem neusten Jugendroman Wolf gewesen, der diese Woche erscheint. Seit seiner eigenen Kindheit lasse ihn das Thema Mobbing, das er bei einem Mitschüler erlebte, nicht mehr los und so wurde es Gegenstand des neuen Buches. Eine Lücke in der Literatur muss das Thema eines Romanes aber nicht zwingend erfüllen, da sind sich beide Gäste einig. »Ich will nicht, dass das mein Job ist«, sagt Bazyar.
Zu wissen, sich lange Zeit mit dem Thema beschäftigen zu müssen, könne eine:n bei der Wahl regelrecht unter Druck setzen. Das kennt auch jede:r Studierende von der Themenauswahl einer Abschlussarbeit. Treffend formuliert Bazyar, dass der Schreibprozess nicht romantisiert werden sollte. »Man darf nicht den Rückschluss ziehen, dass ich Freude beim Schreiben habe«, scherzt die Autorin. Um Sicherheit bei dem Thema zu erreichen, helfe es, anderen Textentwürfe vorzulesen, so praktiziert es Sanyal mit ihrem Partner. Stanišić hat für Wolf sogar Testleser:innen Ausschnitte überreicht, um den Text zielgruppengerecht zu kreieren, denn von der moralischen Instanz als Erwachsener müsse man Distanz gewinnen.
Schreiben zwischen mehreren Kulturen
Shida Bazyar betont, dass ihre Geschichten aufrütteln, die Leser:innenschaft dazu anregen sollen, das eigene Verhalten kritisch zu hinterfragen, und dass sie dabei unbequem sein dürfen. Ihr zweiter Roman Drei Kamaradinnen wirke dadurch viel schwerer als ihr erster Roman. Dazu passt ihr ruhiger Auftritt im Literaturhaus, der durch ernsthafte Leseabschnitte ergänzt wird. Als sie einen Abschnitt aus ihrem Erstlingswerk vorliest, wählt sie die Szene, an dem die iranische Familie bei einem deutschen Paar zum Grillen eingeladen ist. Aus dem Publikum ist Lachen zu vernehmen, als Ulla und Walter ins Spiel kommen. Die Identifikation mit diesen Figuren gelingt anscheinend. Saša Stanišić präsentiert seine Leseanteile witzig, frei und unterhaltsam. Auf den ersten Blick wirken sie weniger unbequem.
Gemeinsam ist beiden Autor:innen, dass sie einen Einblick in verschiedene Kulturen und Nationen geben: Stanišić‘ Werk Herkunft erzählt von der Flucht aus Bosnien, bei Bazyar geht es um Iran. Manchmal fühle man sich, »als müsse man um Erlaubnis schreiben«, beschreibt Stanišić: Weil die deutsche Sprache nicht seine Erstsprache sei, bestehe zum Teil eine festgelegte Erwartungshaltung gegenüber seinen Texten. Der Romantext, so Bazyar, solle manchmal einfach so genommen werden, wie er sei. Migration war somit ein Thema, dass beide Schriftsteller bewegt hat und das zum Gegenstand von Romanen wurde. Doch Stanišić konstatiert klar, dass er jetzt genug Zeit diesem Thema gewidmet habe und sich fiktionalen Figuren zuwenden möchte. Man müsse nicht über die eigene Herkunft schreiben, ein großer Reiz bestehe darin, sich ähnlich wie Schauspielende in verschiedene Figuren hineinzuversetzen, ergänzt Bazyar.
Auch durch die intensive Interaktion mit dem Publikum erlebten die Besucher:innen einen lockeren, angeregten und humorvollen Samstagabend. Er stellte eine Gelegenheit dar, authentischen Autor:innen zu erleben und ihnen im Anschluss an die Veranstaltung persönlich zu begegnen. Besonders der exklusive Einblick in das Jugendbuch Wolf bereitete Vergnügen. Der Roman ist nach diesem Abend auf jeden Fall als Empfehlung auszusprechen – nicht nur für die junge Leser:innenschaft.
In Null Komma nichts war die Veranstaltung, die mit langem Applaus honoriert wurde, schließlich auch schon vorbei. Mit guten Texten vergeht die Zeit wie im Flug!