Das Lyrikfestival »an|grenzen« im Göttinger Literaturhaus wird am 20. April fortgesetzt. Noch einmal stehen die vier Stipendiat:innen des Förderprogramms SchreibZeit der Stiftung Niedersachsen – Katia Sophia Ditzler, Giorgio Ferretti, Ozan Zakariya Keskinkılıç und Inana Othman – auf dem Podium und präsentieren ihre Lyrik. Das Besondere an diesem zweiten Tag: sämtliche Programmpunkte werden auch gebärdet.
Von Svenja Brand
Bild: Übergabe der Staffelstifte an den dritten Jahrgang des Förderprogramms SchreibZeit der Stiftung Niedersachsen. Fotos: Svenja Brand
Dieser Text ist die Fortsetzung des Artikels »Wo die Sprache feiert«.
Anders als die Grenzüberschreitung ins Digitale ist die Erweiterung um Gebärdensprache am zweiten Tag des Lyrikfestivals »an|grenzen« im Literaturhaus Göttingen durchweg gelungen. Sämtliche Performances der vier Stipendiat:innen, die nun mit je einem:einer anderen Tandempartner:in auftreten, werden simultan gebärdet und übersetzt. Dabei lernen diejenigen im Publikum, die rein lautsprachlich sozialisiert sind, auch einiges über poetische Gebärden – die sich von einfachen Übersetzungen in deutsche Gebärdensprache unterscheiden und deshalb auch nicht ›mal eben‹ simultan entstehen können.
Eindrücklich führen das zu Beginn Ozan Zakariya Keskinkılıç und Eyk Kauly vor. Gemeinsam haben sie Keskinkılıçs Gedicht »display« (aus seinem Debütgedichtband prinzenbad, Elif Verlag 2022) vorbereitet: Der eine stellt zunächst in künstlerischer Gebärde dar, was der andere im Anschluss vorträgt. Für die Hörenden im Publikum ist es faszinierend, Kauly dabei zuzusehen, wie dieser kraftvoll und energisch Keskinkılıçs Gedicht umsetzt, mit dem Raum und seinem Körper arbeitet, Distanzen und Begehren, das Verlangen aus dem Text spürbar werden lässt. Dasselbe Verlangen, das Keskinkılıç kurz darauf in raunend-intimem Tonfall lautsprachlich in den Raum trägt. Danach übersetzt Keskinkılıç ein Gedicht von Kauly, das dieser vorab inszeniert – es geht darum, sich nicht in Schubladen einzupassen, das eigene Ich nicht auf die Vorstellungen von anderen zuzuschneidern.
Intensiv wird es, als die beiden Künstler mithilfe von zwei Dolmetscherinnen in den aufmerksamen Austausch gehen: Sie sprechen über die Herausforderungen in der Übersetzung des jeweiligen Gegenübers. Dass die visuelle Gebärde eine Sprache und Kunst in 3D ist, wird am Beispiel der Gottesvokabel anschaulich. Während im lautsprachlichen Deutsch »Gott« »Gott« bleibt, egal, welcher damit gemeint ist, wird der Gott des Christentums mit einer die Trinität aufgreifenden Bewegung gebärdet; der Gott des Islam als in den Himmel zeigender Finger. Deshalb sei es – wie bei aller Übersetzungstätigkeit – so wichtig, die Hintergründe eines Gedichts zu kennen und es genau zu verstehen. Die besonderen Herausforderungen, die Keskinkılıç berichtet im lautlich-gebärdeten Austausch erlebt zu haben, meistern beide Künstler mit Bravour.
Unterstützt von Quang Nguyen und Silvan Händeler, poetisch in Gebärde übersetzt von Laura Valyte, präsentiert Giorgio Ferretti anschließend seine »typographische Performance«: »Bugs and Arrows«. Hier geht es um die von Utler am Vortag angerissene Legende um den heiligen Sebastian, der als Märtyrer von Pfeilen durchbohrt wird. Während Ferretti spricht, flackert in zackiger Type hinter ihm auf den Bildschirmen der Text seines Langgedichts, zieht diagonal in treppenstufiger Form über das Display, verschwindet wieder aus dem Blickfeld. Je dynamischer Ferrettis Vortrag wird, desto größer dehnen sich die Schriftzeichen aus, zittern und wachsen mit Spitzen wie das ›Booom‹ in einem Comic, schrumpfen zusammen. Je länger es geht, je lauter Ferretti wird, desto schwerer ist das lesbar, desto unangenehmer und anstrengender auch. Und damit absolut passend zu den treffenden Pfeilen, die Wunden reißen. Valytes Performance vollzieht die abgeschossenen Pfeile und die getroffenen Stellen nach, die Künstlerin kommt stellenweise ganz außer Atem, so hat man den Eindruck.
Nach der Staffelstiftübergabe des zweiten Jahrgangs des SchreibZeit-Förderprogramms an den dritten, der sich mit Graphic Novels befassen wird, ist Ditzler an der Reihe. Die Enttäuschung vom ersten Tag kann sie auch am zweiten nicht recht kompensieren. »Wir stammen alle vom selben Eukaryoten ab«, so setzt ihre Präsentation an. Ditzler will einen Ausschnitt aus einem aktuellen, um Sound und visuelle Augmented-reality-Elemente erweiterten Gedichtband-Projekt zum Periodensystem der Elemente vorstellen, ausgewählt habe sie die Themen Liebe und Tod. Auf den Bildschirmen hinter ihr wechseln bunte Bilder und Formen in einem Film wie aus einem Kaleidoskop, gehen ineinander über. Aus dem Off spricht Ditzlers Stimme einen Gedichttext, im Live singt und tönt sie ins Mikro, gezogen-gedehnte Klangschichten legen sich übereinander, orchestriert von Liudmila Siewerski, wiederholen sich als Loop. Dann gibt Ditzler ein rotes Wollknäuel zum Weiterreichen ins Publikum, malt ein Ei rot an und zertritt es am Ende. Willkürlich-spontan zusammengesucht wirkt die Performance, nach deren tieferer Bedeutung zu suchen die Lust fehlt, vielleicht wirkt der gestrige Eindruck dafür auch zu sehr nach. Die behauptete und performativ etwas halbherzig mittels Wollknäuel hergestellte Verbundenheit qua gemeinsamen Ursprungs jedenfalls findet keine Resonanz im Publikum, zumindest aber gibt es am zweiten Tag mehr Applaus.
Zum Abschluss des Lyrikfestivals tritt Inana Othman mit Musiker Ahmad Ajouz auf, der den Gedichtvortrag mit einer arabischen Laute, einer Oud, begleitet. In den Pausen zwischen Othmans Texten klingt wehmütig das Instrument in den Raum, erlaubt das von Utler zu Beginn des Festivals beschworene »Abschweifen« oder lässt Othmans Bilder nachhallen. Bilder, die weh tun: Othman spricht über ihren Vater, der als Gegner des Assad-Regimes jahrelang im Gefängnis war, von ihrem Bruder, der für einen Besuch ein Lied eingeübt habe – für den Vater, unsichtbar hinter einer Mauer. Sie spricht über eine Oud aus Pappe und nassem Brot im Gefängnis. Die Worte, die Klänge, werden im Text und in der Performance im Literaturhaus zum sehnsuchtsvollen Freiheitsort, transzendieren die historisch-politische Wirklichkeit. Ein im doppelten Wortsinn gut abgestimmtes Zusammenspiel – zwischen Text und Klang, zwischen Ajouz und Othman. Und ein nachwirkender Ausklang für den sehr dichten, berührenden, anstrengenden, punktuell ernüchternden, herausfordernden und krass intensiven »Ausnahmezustand«!