Wo die Sprache feiert

Am Abend des 19. April beginnt im Göttinger Literaturhaus das zweitägige Lyrikfestival »an|grenzen«, bei dem der zweite Jahrgang des Förderprogramms SchreibZeit der Stiftung Niedersachsen seine Arbeiten präsentiert. Gemäß des Förderschwerpunktes dreht sich dabei alles um »Lyrik im digitalen Zeitalter«. Die Organisator:innen Amelie May und Gesa Husemann vom Literarischen Zentrum und Gesa Schönermark von der Stiftung Niedersachsen kündigen zu Beginn ein »Festival der Ur- und Erstaufführungen« an, freuen sich sichtlich auf den ausgerufenen »Ausnahmezustand«, der sich in queeren Elefantenromanzen, Versprechern, begehbaren Gedichten und Verwurzelungen bis ins antike Mesopotamien manifestieren wird.

Von Frederik Eicks und Svenja Brand

Titelbild: Gesa Schönermark, Katia Sophia Ditzler, Ozan Zakariya Keskinkılıç, Inana Othman, Giorgio Ferretti (v. l. n. r.). Fotos: Svenja Brand

Nach den Grußworten von Lavinia Francke, Generalsekretärin der Stiftung Niedersachsen, und Jo Lendle, Schirmherr des Festivals, der lieber Begleiter und am liebsten bloße »Beilage« sein möchte, ist es die Lyrikerin Anja Utler, die das Programm eröffnet und das Publikum auf den vielgestaltigen Ausnahmezustand mit einer Lecture Performance einstimmt. Ihre anspruchsvolle Aufgabe: synoptisch die ihr zugesandten Arbeiten von Katia Sophia Ditzler, Giorgio Ferretti, Ozan Zakariya Keskinkılıç und Inana Othman künstlerisch einzuordnen und zu transponieren. Was eine Lecture Performance sei, habe sie übrigens selbst googeln müssen (und empfiehlt allen Anwesenden, nachzulesen auf kunstforum.de): eine Praxis des Forschens und Untersuchens. Am Anfang ihrer Performance stellt sie die Frage: »Was geschieht mit uns?« Und dann folgt eine Pause.

Gedichte wachsen in den Raum

Anja Utler bei ihrer Lecture Performance

Eine Pause, in der laut Utler »das Eigentliche« passiert sei, das Abschweifen. Parallel beginnt sie, kleine weiße Kärtchen auf die beiden Tische vor sich zu legen, von oben nach unten und unten nach oben die Reihen füllend. Dann spricht sie über die »Franse des Erinnerns«, die sie in den Werken der vier Stipendiat:innen zu fassen bekommen habe, legt gleichzeitig weiter Kärtchen. Als Überlieferungs- und Erinnerungsträger sei ihr der Körper bei Ditzler begegnet, bei Othman heiße es: »Vergessen ist der Ursprung, Erinnern ist die Ausnahme«. Bei Ferretti träfen die Pfeile den Körper des heiligen Sebastian aus der frühmittelalterlichen Legende. Keskinkılıç verschiebe mit seiner Lyrik um den Elefanten Abul Abbas, der »vor 1222 Jahren« mit dem jüdischen Kaufmann Isaak als Geschenk des Kalifen Harun ar-Raschid an Karl den Großen das Aachener Stadttor durchschritten habe, nicht nur den Nullpunkt von Zeitrechnungen, sondern überhaupt »die Bildlichkeit in Richtung Elefant«.

Da Utler sich mit der Schilderung ihrer behutsam-tentativen Rezeptionseindrücke wesentlich auf Werke bezieht, welche die Künstler:innen im Laufe des Festivals auch selbst präsentieren, schlägt sie dem Publikum die eine oder andere Schneise, die den Zugang zu diesen erleichtert. Kontinuierlich begleitet sie sich dabei selbst mit dem konzentrierten, fast meditativen Legen der Kärtchen, die am Ende beide Tische auf dem Podium bedecken und so den Raum buchstäblich mit Gedichten füllen. Denn dass es sich dabei um 204 der 209 (die letzten fünf passen nicht mehr auf den Tisch) Gedichte aus ihrem jüngsten Lyrikband Es beginnt. Trauerrefrain (Edition Korrespondenzen 2023) handelt, legt die Künstlerin erst zum Ende offen. Leider geht Utler dann anders als geplant aus Zeitgründen auf ihre Gedichtkärtchen nicht mehr ein – das Publikum hätte ihr sicher auch dabei ebenso aufmerksam-fasziniert zugesehen und -gehört wie zuvor.

»this trunk don’t follow no cishets commands«

Mit Ozan Zakariya Keskinkılıç und Fabian Saul beginnt der Hauptteil der Veranstaltung. Sie präsentieren »Abul Abbas. this trunk don’t follow no cishets commands. Eine Sound-Lyrik-Collage«. Keskinkılıç liest einen Text, der – anders als der Programmpunkt – u8 heißt und mit der schon von Utler aufgegriffenen Anekdote um den Elefanten Abul Abbas beginnt. Diesen historisch verbrieften Stoff transponiert Keskinkılıç und näht daraus eine vielschichtige, queere Großstadtromanze. Der Elefantenrüssel wird dabei zur nicht besonders schwer zu entziffernden Chiffre für einschlägige Körperteile, aber abgesehen davon bleibt Keskinkılıçs einnehmende, mehrsprachige lyrische Auseinandersetzung mit Sexualität, (Post-)Kolonialismus und Religion subversiv.

Ozan Zakariya Keskinkılıç und Fabian Saul

Jeden Leseabschnitt liest der Lyriker wortwörtlich aus einer anderen Perspektive, indem er immer wieder die Position wechselt, am Mikrofonständer stehend, auf einem Stuhl sitzend, auf dem Boden hockend spricht. Während der so entstehenden Pausen rücken Saul, der neben der Bühne an einem DJ-Pult steht, und dessen musikalische Begleitung in den Vordergrund. Es sind kleinere Intermezzi, in denen die Melodien anschwellen und die Klänge ausladender werden dürfen, bevor sie sich dann wieder hinter Stimme und Text zurückziehen. Die Soundteppiche kreieren den Raum zu Keskinkılıçs Text, lassen durch entsprechende Geräusche den U-Bahnhof entstehen oder holen durch Elefantentrompeten Abul Abbas ins Literarische Zentrum. Zwar gibt es diese wiederkehrenden Motive, aber jeder Abschnitt erhält eine eigene Begleitung, die wesentlich zur Stimmungslenkung beiträgt und wie ein Filter stets andere in Keskinkılıçs ruhiger, sonorer Stimme angelegte Aspekte aufklingen lässt. So werden allerlei intensive wie subtile Rührungen – Melancholie, Aufregung, Sehnsucht – ins Publikum getragen.

Die Lust am Fehler

Giorgio Ferretti und Dagmara Kraus beim Dialog »sich versprechen«

Schneller Umbau, dann nehmen Giorgio Ferretti und Dagmara Kraus auf dem Podium Platz. Ihr gemeinsamer Dialog ist mit »sich versprechen« betitelt, handelt von Fehlern. Von solchen, welche die deutsche Sprache im Gegensatz zur italienischen, Ferrettis Erstsprache, provoziert, etwa durch Adjektivendungen oder Tempusformen. Vom Sich-fehlerhaft-Fühlen, aber auch vom trotzig gemachten Fehler, der sich richtig anfühlt und den alle hören sollen. Konsequent ausgestellt wird er da, wo Verben im Präteritum passagenweise bewusst falsch konjugiert werden: »Ich sitzte in dieser Bar und denkte an alle Tempora dieser Stadt!« Wie Ferretti durch seine Fehler-Dichtung stolpert und rattert, performativ mit Stimme, Artikulation und den Händen seine Dichtung umsetzt, immer lauter wird, stakkatoartiger und immer schwerer verständlich, dann wieder selbst überrascht wirkt von einem vielleicht unbeabsichtigten Fehler – das ist eindrücklich, sympathisch, bisweilen lustig, überfordernd und zieht das Publikum hinein ins strudelige Fehler-Happening. Neben Ferrettis deutsch-italienischen Verwirrspielen wirft Dagmara Kraus dann auch noch französisch- und englischsprachige Passagen in den Ring, komplettiert damit die Sprachverwirrung, die sie aber für sich stehen lässt und nicht noch mit ihrem Vortrag verstärkt. Ihr Modus ist ein ganz anderer und durch den Kontrast ein sehr passendes Gegenüber. Sie trägt mit entspannter, aber sehr präzise artikulierter, gleichzeitig schwingender Stimme vor, ist nicht laut, aber sehr präsent. Die erste Hälfte des Abends vergeht schnell und ist absolut eindrucksreich.

»Das Gedicht ist nicht richtig exportiert worden«

Was Katia Sophia Ditzler hingegen nach Keskinkılıçs und Ferrettis großartigen Auftritten im Anschluss an die Pause auf die Bühne bringt, sind knapp 40 Minuten Tiefpunktgekreuche. Gesa Schönermarks abmoderierende Worte: »Das war beeindruckend, vielen Dank« können da wirklich nur als Versuch verstanden werden, sich selbst und das Publikum so schnell und reibungslos wie möglich in den letzten Programmpunkt des Abends hinüberzuretten. Woran hat et jelegen? Das fragt sich danach niemand, die Sache liegt auf der Hand. Anders als die anderen Stipendiat:innen sitzt Ditzler allein auf der Bühne und sagt: Entgegen der Programmankündigung gäbe es an diesem Abend keine VR-Performance, VR sei ja eine recht »solipsistische« Angelegenheit. Stattdessen würde das Publikum nun lernen, wie man »den ganzen Shit« – also so ein ›begehbares Gedicht‹ – mache. Was dann folgt, sind wiederholte Spitzen gegen die Programmleitung der Stiftung Niedersachsen, von denen genau die erste lustig ist – alle weiteren sind unangenehm und peinlich.

Katia Sophia Ditzler importiert Daten in eine VR-Umgebung

In der Zwischenzeit starrt das Publikum vor allem auf Ladebildschirme, während ein Körperscan, ein spontan von Giorgio Ferretti zusammengeschusterter Text und ein Bild in die VR-Umgebung geladen werden. Da Ditzler auch ständig um freiwillige Beiträge bitten und dann – weil niemand will – ungefragt Personen drannehmen muss, entstehen lange Wartezeiten. So verstreicht die Zeit in diesem Programmslot. Ergebnis: Der Körperscan Gesa Schönermarks ist derart fragmentiert, dass man wirklich überhaupt nichts erkennen kann (denn Ditzler hat Schönermark nicht vernünftig instruiert); beim Exportieren von Ferrettis Text ist ein Fehler aufgetreten, weswegen anstelle des Textes nur ein riesiges Fragezeichen erscheint; aus der Vielzahl an übersendeten Bildern aus dem Publikum bringt Ditzler nur eines in den virtuellen Raum, da für die anderen keine Zeit mehr bleibt.

Digitalität allein ist kein Kennzeichen großer Kunst

Tja, und dann hampeln Jo Lendle und Giorgio Ferretti mit VR-Brille und Ditzlers Handy vor der Bühne herum – was sollen sie auch anderes tun – und experiencen die virtuelle Realität, woosh. Der Rest des Publikums hat davon nichts. Vielleicht ist das ja der Plan gewesen: der Stiftung Niedersachsen eins auswischen, jetzt, wo Ditzler ihr »Geld schon bekommen« hat, wie sie sagt. Falls ja, dann geht das jedoch auf Kosten eines interessierten und begeisterungsfähigen Publikums, dessen Zeit Ditzler verschwendet, ohne auch nur eine Spur von Bedauern über die missglückte Präsentation erkennen zu lassen. Bezeichnenderweise fällt auch der Applaus bedeutend kürzer aus. Und Jubelrufe gibt es dafür, im Gegensatz zu allen anderen Auftritten an diesem Abend, erst recht nicht.

Ein besseres Sinnbild für Ditzlers ›Performance‹ als den zum Riesenfragezeichen gemorphten Ferretti-Text kann man sich da gar nicht ausdenken: Nicht bloß diesen einen Text, auch die Lyrik, die Literatur, die Kunst – das alles hat Ditzler in der ihr zur Verfügung stehenden Zeit aus dem Programm gekürzt und durch einen verschwommenen Blick in den Werkzeugkasten ersetzt. In der solipsistisch-virtuellen Realität lässt sich das Gedicht nicht – beziehungsweise nur dann, wenn alle mit dem entsprechenden teuren Equipment ausgerüstet sind – mit den Menschen teilen, denen man physisch gegenübersitzt. Aber mit wem, wenn nicht gerade mit diesen, sollte man Kunst teilen? Das ist die Negation einer tollen Veranstaltung, bei der – Grüße gehen raus an Wittgenstein – »die Sprache feiert«. Auch Martina Hefter weist nach Ditzler unfreiwillig daraufhin, dass gesteigerte Digitalität allein noch kein Kennzeichen großer Kunst ist: Als sie im Manuskript auf ihrem Laptop die Stelle sucht, zu der sie springen möchte, entsteht eine ungewollte Pause: »Das geht immer ein bisschen langsamer, als wenn man das Buch vor sich hat, irgendwie.« So werden die vermeintlich so kunst-revolutionären digitalen Medien, von denen anfangs die Rede war, an diesem Abend – anders sah es hingegen am zweiten Tag aus – eher zu einem Störfaktor. Stattdessen wird die Kraft der unmittelbaren physisch-lyrischen Begegnung mit Körper, Stimme, Blick beschworen.

AUSNAHMEZUSTAND!

Von dieser Kraft eingenommen wird das Publikum dann zum Glück auch wieder beim letzten Programmpunkt an diesem ersten Abend, der letztlich sogar für das gesamte Fest titelgebend geworden ist: Martina Hefter und Inana Othman gehen in ihrem »AUSNAHMEZUSTAND!«, wie schon Ferretti und Kraus, in einen Austausch. Anders als in diesem ersten Dialog erhält das Publikum hier einen Einblick in die persönliche Korrespondenz und die daraus entspringende wechselseitige Befruchtung der beiden. Die Dramaturgie dieses Dialogs ist perfekt, ohne dass die Inszenierung zu stark hervortritt. Stattdessen wirken die beiden Künstlerinnen sehr verbunden miteinander, blicken sich immer wieder vertraut an, hören sich aufmerksam zu. Aus der Korrespondenz hinaus findet Hefter den Übergang in Auszüge aus einem ihrer szenischen Stücke, schließlich liest sie einige Passagen aus ihrem Band Es könnte auch schön werden (kookbooks 2018). Die Lesung über ihre Schwiegermutter im Pflegeheim, ihre »Schwermutter«, wie sie fortan heißt, weil Hefter das Wort verschleift, ist ungemein berührend. »Wie lange dauert so ein Tag im Pflegeheim?« fragt Hefter da, oder spricht über das Reimritual im Heim, bei dem die Bewohner:innen den Reim zu einem unvollendeten Satz finden sollen: »Finde den Reim und du darfst raus aus dem – Heim«. Die Vortragsweise von Martina Hefter zieht in ihren Bann, nimmt mit, auch weil der Vortrag wie im Moment entstanden wirkt, Sprechdenken vorführt und absolut authentisch wirkt.

Martina Hefter und Inana Othman: Gelungener Ausnahmezustand

Die Gänsehaut, die die Lesung evoziert, wird bei Inana Othman erneut hervorgerufen: Am Anfang etwas nervös, liest diese zunehmend selbstsicher, scheint im Vortrag aufzugehen, wird ganz Stimme, mächtige Resonanz.
In diesem Trancemodus, etwas belegt-heiser liest sie ihr Gedicht, das sich klar erkennbar mit ihrer Herkunft auseinandersetzt, dabei aber viel mehr aufruft als nur das Assad-Syrien, aus dem sie als Jugendliche nach Deutschland geflohen ist. Nein, wovon sie spricht, ist das Dattelgebäck der eigenen Mutter, ist der Zustand des Ungeborenseins in deren Bauch und ihrem »ersten Kuchen, den ich ganz für mich allein hatte«. Sind Euphrat und Tigris, zwischen denen sie geboren sei. Das ist die Abwendung von einem diktatorischen Regime, das keine Heimat sein kann. Das ist die Hinwendung zu »Enheduana«, akkadische En-Priesterin und älteste namentlich bekannte Dichterin beziehungsweise überhaupt Person, deren Schriftzeugnisse überliefert sind, zu »Gilgameshs Pflanze«, »Keilschrift und Tontafeln«. Indem Othman die antike, altorientalische Welt Mesopotamiens in ihren Text hineinwebt, findet sie Verknüpfungen, die weit tiefer reichen als ein Geburtsort im Passdokument: »Das Gedicht ist unsere Heimat, nie ausgefüllt, nie ausgeschrieben.«

Eine Fortsetzung des Veranstaltungsberichts über den zweiten Tag findet sich hier.

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