Triggerwarnung: Erwähnung von Antisemitismus, Gewalt und Mord
Nichts ist gut in Sachen Erinnerung an die NS-Verbrechen. Drei Bücher aus dem Verlag Hentrich & Hentrich werfen Schlaglichter auf die NS-Zeit selbst, eine Tendenz zur Schuldnegation von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart und einen neuen, alten Antisemitismus.
Von Stefan Walfort
Bild: By Wikipedia, CC BY-SA 2.0, cropped
Rivalen unterm Totenkopf
Michael Wildt (Hg.): Das Reichssicherheitshauptamt. NS-Terror-Zentrale im Zweiten Weltkrieg
Dieses Buch ist nichts für Leute mit empfindlichem Magen. Oft kommt es einem hoch, wenn man liest, wie erfinderisch die Täter 1945 teils waren bei der »Rekonstruktion einer Biografie (…), die mit den legislativen und juristischen Regularien der Bundesrepublik kompatibel schien«, und wie erfolgreich sie damit neue Posten eroberten. Der Sammelband über das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) ist Teil 13 einer Schriftenreihe zum Berliner Dokumentationszentrum Topographie des Terrors mit dessen gleichnamiger Dauerausstellung. Er enthält sechs Aufsätze ausgewiesener NS-Expert*innen – neben den nachfolgend vorgestellten drei weitere über den Chef des Gestapoamtes im RSHA Heinrich Müller, ausgearbeitet von Gerhard Paul,1Dessen Sammelband Die Gestapo – Mythos und Realität räumte 1995 umfassend mit der Vorstellung einer omnipotenten Gestapo auf und bewies detailliert, wie umfangreich sie stattdessen auf eine Denunziationsbereitschaft der gewöhnlichen Leute angewiesen war und letztlich auch zählen konnte. den Chef des »›Generalstab(s) der deutschen Kriminalpolizei‹« Artur Nebe,2Patrick Wagner zufolge führte Nebe eine »Einsatzgruppe«, die »im Sommer und Herbst 1941 45.000 Juden in Russland ermorden lassen« hat. Außerdem habe er an psychisch Kranken Menschenversuche vorgenommen und die Zuständigkeit für die Deportationen »sogenannter ›Berufsverbrecher‹ und ›Asozialer‹« sowie »etwa 30.000 deutsche(r) und tschechische(r) Sinti und Roma« in die KZ übernommen. verfasst von Patrick Wagner, und den Chef des »politische(n) Auslandsnachrichtendienst(es)« Walter Schellenberg,3Dessen Abteilung beschreibt Katrin Paehler als eine Art »›Eroberungs-Think-Tank‹«. geschrieben von Katrin Paehler.
Die Aufsätze eignen sich für einen ersten Überblick über die Strukturen des Amtes. Auf einen umfassenden Anmerkungsapparat verzichtend, lediglich auf die wichtigste Literatur im Anhang verweisend sind sie populärwissenschaftlich aufbereitet – ohne jedoch unterkomplex zu erscheinen. Wichtige Erkenntnisse jahrelanger Forschung machen Wildt und seine Kolleg*innen für eine breite, geschichtsinteressierte Öffentlichkeit anschlussfähig. Je von einem Täterporträt ausgehend konturieren sie die Karrieren der höchsten Entscheidungsträger im RSHA – der »Führungsinstitution für eine nationalsozialistische Sicherheitspolizei«. Als solche sahen sich die Mitarbeiter selbst. Ihrem Willen nach sollte das Amt »losgelöst von juristischen Beschränkungen« agieren können, d.h. aus heutiger Sicht Terror ausüben, wie Wildt einleitend unter dem Titel »Kämpfende Verwaltung« hervorhebt. Seine Ausführungen entsprechen einer streng reduzierten Version seiner Monografie Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamts von 2002. Darin heißt es:
Im Sammelband von 2019 greift er die Erkenntnis im Vorwort erneut auf. Im ersten Kapitel veranschaulicht er sie an der Rolle Bruno Streckenbachs, dem Chef des Amtes I im RSHA. Andere Beiträge stützen die These von der radikalisierenden Wirkung des Krieges ihrerseits mit stark personalisierendem Fokus.
Streckenbach hatte laut Wildt schon vor seinem Aufstieg im RSHA, als Angehöriger des Sicherheitsdienstes,4SD, »Schwesterorganisation« der Gestapo, dem Selbstverständnis nach »politischer Kampfbund und Elite des ›Führers‹«, siehe Kapitel »Lebensgebiets-Nachrichtendienst« von Carsten Schreiber. eine »zentrale Position für die Verfolgungs- und Vertreibungspolitik« in Polen erklommen. Dort war er »verantwortlich für den Mord an tausenden polnischen Zivilisten«. Ab 1941 schickte er gemeinsam mit Reinhard Heydrich, dem ersten Leiter des RSHA, sogenannte »Einsatzgruppen in d(ie) Sowjetunion und d(ie) übrigen besetzten Gebiete in Europa«. Wer den an Wildts anschließenden Aufsatz Carsten Schreibers über Otto Ohlendorf und dessen »Inlands-Arm des SD als Amt III ›deutsche Lebensgebiete‹« aufmerksam liest, kann in Streckenbachs Agieren eine Vorstufe zum »mönströse(n) ›Generalplan Ost‹« erblicken, einer maßgeblich unter Ohlendorfs Ägide ausgearbeiteten, »bevölkerungswissenschaftlich abgesicherte(n) Machbarkeitsstudie zur Vertreibung und Auslöschung kompletter Völker in Osteuropa«.
Nach 1945 blieb Streckenbach wie der Großteil seiner Mittäter unbestraft. Was aus Ohlendorf wurde, bleibt in dem vergleichsweise schmalen Band offen. Lediglich, dass die Verantwortlichen im Amt III nach dem Krieg versucht hätten, ihre Abteilung als »bloßes Meinungsforschungsinstitut« reinzuwaschen, erfahren die Leser*innen. In Generation des Unbedingten ist allerdings von einem Todesurteil die Rede – 1951 an Ohlendorf als einem von wenigen vollstreckt. Zuvor hatte er noch bei einem »Einsatzgruppen-Prozeß« in Hamburg versucht, eine Hauptschuld auf Streckenbach abzuwälzen. Die Ellbogen der Täter aus dem RSHA muss man sich jedoch schon vorher, während ihrer NS-Karrieren, als ausgefahren vorstellen. Von Rivalität und Krach um Kompetenzen ist in Das Reichssicherheitshauptamt. NS-Terror-Zentrale im Zweiten Weltkrieg des Öfteren zu lesen. Besonders der Werdegang Franz Alfred Sixʼ ist hier erhellend. Er hatte sich »(m)it seinem raschen Aufstieg im SD (…) die anderen Amtschefs eher zu Gegnern gemacht, die nun in der Ausgestaltung des Reichssicherheitshauptamts gegen ihn agierten«, so stellt ihn Lutz Hachmeister, Verfasser einer Habilitation über Six als SS-Führer, vor.
Michael Wildt (Hg.)
Das Reichssicherheitshauptamt. NS-Terror-Zentrale im Zweiten Weltkrieg
Hentrich & Hentrich: Leipzig 2019
144 Seiten, 12,80€
Six, ab Ende der 1930er Jahre zunächst Chef des Amtes II (Verwaltung), später des Amtes VII (Gegnerforschung), promovierte an der Uni Heidelberg mit einer miserablen Doktorarbeit, wie Hachmeister betont. Six fuhr doppelgleisig, fasste sowohl in der Wissenschaft Fuß als auch in der SS und im SD. Infolge dessen wusste er »gegenüber der Universität (…) als Abteilungsleiter im SD auf(zu)treten und (sich) sicher (zu) sein, dass die Verbindung des SD mit der Gestapo schon dafür sorgen würde, dass ihm eine Macht im Hintergrund zugetraut wurde, die trotz seiner Jugend andere einschüchterte«. In der Sowjetunion initiierte er Massaker, was er nach dem Krieg leugnete. Als die wohl bizarrste Person im RSHA beschäftigte er Mitarbeiter, die »Hexenforschung« betrieben. Was einst als Hirngespinst des Esoterikers Heinrich Himmler »im Kampf gegen die Kirchen« begann, entwickelte sich unter Six zu einer weiterführenden Gesinnungsschnüffelei: Er ließ aus den besetzten Gebieten geklaute Literatur auswerten und dokumentieren. Dazu spannte er jüdische Helfer*innen ein, bevor »die meisten später nach Auschwitz deportiert und ermordet wurden«.
Nur vier einer ursprünglich auf zwanzig Jahre angesetzten Gefängnisstrafe musste Six verbüßen, dann kam er in Verlagen, Publizistik, Unternehmensberatung, erneut der Wissenschaft und anderen Branchen unter. Fälle wie seiner veranlassen Hachmeister, »von einer weitreichenden nationalsozialistischen Durchdringung bundesdeutscher Lebenswelten« zu sprechen. Erst in der »Mitte der 1970er Jahre«, als die »hier in Rede stehende Funktionselite […] aus dem Berufsleben ausschied«, wagt er einen Wendepunkt zu erkennen. Wer das zweite Buch der vorliegenden Rezension liest, Samuel Salzborns jüngsten Essay Kollektive Unschuld, kommt hingegen nicht drum herum, zumindest in Hinblick auf Antisemitismus und Schuldnegation eine anhaltende Kontinuität bis in die Gegenwart wahrzunehmen.
Wenn alle Dämme brechen
Samuel Salzborn: Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern
Salzborn, renommierter Politikwissenschaftler und Antisemitismusforscher, außerdem Leiter einer Nachwuchsforschungsgruppe zum NSU-Prozess, will mit seinem Essay kein Neuland erschließen. Vielmehr möchte er in sechs Kapiteln darlegen, inwieweit »die deutsche Gesellschaft über die Jahrzehnte hinweg aus der Tätergemeinschaft des Nationalsozialismus zur Erinnerungsabwehrgemeinschaft der Bundesrepublik geworden ist, die durch antisemitische Projektionen und ethnische Selbstviktimisierungsphantasien zusammengehalten wird«.
Samuel Salzborn: Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern
Hentrich & Hentrich: Leipzig 2020
136 Seiten, 15,00€
Dazu grenzt er Schuldnegationsspezifika von BRD, DDR und Österreich voneinander ab: Vor allem »über das Themenfeld Flucht und Vertreibung« sei in der BRD seit der Adenauer-Zeit ein Täter und Opfer verdrehendes Narrativ entstanden; Salzborn untermauert das am Beispiel von Erfolgen der »Vertriebenenpartei Block der Heimatvertriebenen« über die Gründung eines »Vertriebenenministerium(s)« bis hin zu einer »Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa«, erstellt »von Wissenschaftlern (…), die über umfangreiche Karrieren vor 1945 verfügten«. Ferner habe eine starke Vertriebenenlobby erreicht, dass umfassende Entschädigungszahlungen flossen. Opfer der Shoah dagegen seien erst einmal leer ausgegangen. In der DDR habe der Triumph über den Nationalsozialismus weitestgehend jede ernstzunehmende Reflexion vernebelt, und in Österreich habe man sich selbst »als erstes Opfer« der NS-Expansionspolitik aufgespielt.
In einem Kapitel mit dem Titel Gesellschaftliche Selbstfindungen: Antisemitische Schuldabwehr zieht Salzborn Ergebnisse empirischer Sozialforschung hinzu. Damit beweist er, dass von 1946 an bis 2016 ein »schuldabwehrende(r), häufig nicht-öffentlich verlautbarte(r) Antisemitismus konstant blieb und sich in den letzten Jahren sogar wachsender Zustimmung erfreut«. Darin, gepaart mit bis heute anhaltenden Tendenzen zur »Erinnerungsverweigerung«, erkennt Salzborn, wie »den Opfern ein weiteres Mal Gewalt« geschieht. Besonders seit der Friedenspreisrede Martin Walsers 1998 in der Frankfurter Paulskirche sieht Salzborn in Sachen Täter-Opfer-Umkehr alle Dämme brechen. Walser sprach damals von Auschwitz als »Moralkeule«. Seine exponierte Stellung nutzte er, um den in der vordersten Reihe sitzenden Zentralrat der Juden in Deutschland Ignatz Bubis persönlich zu brüskieren. Vier Jahre später legte Walser mit seinem Roman Tod eines Kritikers nach. Diesmal musste Marcel Reich-Ranicki dran glauben; die Hauptfigur, ein verschrobener Literaturkritiker, ist dem langjährigen Moderator des Literarischen Quartetts nachempfunden und mit antisemitisch grundierten Attributen ausgestattet. Eine gelungene Aufarbeitung der NS-Verbrechen sieht für Salzborn anders aus. Man kann ihm da nur beipflichten.
Walsers Bruder im Geiste, Günter Grass, kommt in dem Essay ebenfalls nicht gut weg. Wer wollte da widersprechen, besteht doch ein Gutteil der Lebensleistung Grass᾿ darin, den Deutschen vielfach variiert, ob autobiografisch oder fiktional, eingebläut zu haben, dass eigentlich sie die Opfer des NS gewesen seien. Zum Beispiel wird in der Novelle Im Krebsgang über die 1945 von einem sowjetischen U-Boot angegriffene Wilhelm Gustloff das Leid an Bord der Gustloff befindlicher Kinder zum Leitmotiv. Das emotionalisiert gewaltig und ist bei weitem nicht der einzige Fall der deutschen Nachkriegsgeschichte, wie Salzborn an diversen Filmanalysen zeigt, bei dem »die Darstellung individueller Unschuld (der Kinder) über einen Umweg zum Mythos kollektiver Unschuld« führt. In Grass᾿ Novelle kontrastiert dergleichen mit einem zweiten Leitmotiv, das die Wirkung des ersten noch stärkt: der konsequenten Dämonisierung des U-Boot-Pilots Alexander Marinesko, als Säufer, Rachsüchtiger und Frauenverächter. Bei Grass ist eine Diffamierung der Alliierten notorisch: In seiner Autobiografie Beim Häuten der Zwiebel giftet er gegen »des Feindes Terrorbomber«; gemeint{tab=Buch-Info ist die Royal Air Force, die daran mitgewirkt hatte, der Naziherrschaft ein Ende zu bereiten. Mit den Opfern des NS-Regimes hatte der »Moraltrompeter der Republik« (Beutin, Wolfgang: Der Fall Grass. Ein deutsches Debakel, Frankfurt am Main u.a. 2008, S. 45) noch nie viel Mitgefühl, wie er nicht erst 2012 mit seinem Anti-Israel-Gedicht Was gesagt werden muss bewies. Schon in der Gruppe 47 fuhr er dem jüngst aus der Emigration zurückgekehrten Peter Weiss über den Mund, verbat sich dessen Partizipation an der Aufarbeitung der NS-Zeit.
Hier hätte Salzborn, der sich vorrangig auf die Gustloff und Grass »Blaupause für [ein]en geschichtsrevisionistischen Film« beschränkt, noch viele weitere Unverschämtheiten finden können, um seine Annahmen zu erhärten. Doch er geht insgesamt, auch bei anderen Phänomenen, nicht so sehr ins Detail. Das ist weniger eine Schwäche des Essays als dem Anspruch Salzborns geschuldet, einen großen Bogen von genuin politikwissenschaftlichen bis hin zu kultur- und literaturbezogenen Analysen vieler Leerstellen der NS-Aufarbeitung zu ziehen und dabei eine relativ lange Zeit abzuhandeln. Eins jedenfalls macht Kollektive Unschuld unmissverständlich klar: Stolz auf die bisherige Erinnerungskultur in Deutschland ist unangebracht. In diese Wunde kann man den Finger gar nicht oft genug legen.
Die neue Unbeherrschbarkeit
Monika Schwarz-Friesel: Judenhass im Internet: Antisemitismus als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl
Aktueller Antisemitismus findet seine häufigste Manifestation in der Diffamierung des Staates Israel. Das hat auch Salzborn auf dem Schirm, und so spielt es in Kollektive Unschuld keine untergeordnete Rolle. In der Studie Monika Schwarz-Friesels, Linguistin an der TU Berlin, bildet der Befund ebenfalls einen Schwerpunkt:
Schwarz-Friesel hat sich mit ihrem Team »(m)ithilfe einer umfangreichen korpusbasierten Studie (sowie zahlreicher Stichprobenanalysen) (…) unterschiedliche Webdiskurse (wie Online-Kommentarbereiche der Qualitätspresse, Twitter, Facebook, YouTube, Blogs, Foren, Ratgeberportale) der Jahre 2007 bis 2018« vorgenommen. Das Buch ist dementsprechend reich an Statistiken. Sie verbürgen die Validität der Untersuchungsergebnisse und machen transparent, nach welchen Bewertungsvariablen das analysierte Material kategorisiert und ausgewertet wurde. Viele Beispiele aus dem Sprachgebrauch antisemitischer Kreise sorgen für Nachvollziehbarkeit. Bildmaterial, beispielsweise eine Collage, auf der der israelische Ministerpräsident als dämonischer und für Terror und Krieg verantwortlicher Puppenspieler zu sehen ist, veranschaulicht zusätzlich, mit welchen Herausforderungen die Antisemitismusforschung gerade zu kämpfen hat.
Monika Schwarz-Friesel: Judenhass im Internet. Antisemitismus als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl
Hentrich & Hentrich: Leipzig 2019
168 Seiten, 17,90€
Schon 2013 machte Schwarz-Friesel in einer gemeinsamen korpuslinguistischen Studie mit dem Historiker Jehuda Reinhartz (Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert) anhand von Briefen, die zwischen 2002 bis 2012 an den Zentralrat der Juden in Deutschland sowie an die Israelische Botschaft in Berlin verschickt wurden, darauf aufmerksam, wie verbreitet ein antisemitisches Sendungsbewusstsein ist. Dabei spielt die Zugehörigkeit zu politischen Lagern oder sozialen Schichten kaum eine Rolle: »Abiturienten, Studierende, Anwälte, Journalisten, Ärzte, Pfarrer, Selbstständige und Lokalpolitiker, aber auch Professoren artikulieren in ihren Schreiben zahlreiche Stereotype.« Damals fielen den beiden Forscherinnen vor allem Formen der »Umwegkommunikation« auf: eine direkte Referenz auf Jüdinnen und Juden mieden viele der Briefe; stattdessen prangerten sie eine vermeintliche Raffgier von »Banker(n) an der Ostküste« an und reproduzierten auf diese – zumindest juristisch – unangreifbare Art einen jahrhundertealten antisemitischen Topos. Oder mittels der rhetorischen Frage »Warum gehen Sie nicht nach Israel?« insinuierten Briefeschreiberinnen, dass die Mitarbeiter*innen der adressierten Institutionen in Deutschland nichts verloren hätten.
Zum Positiven hin hat sich daran nichts geändert. Israelbezogener Antisemitismus, so heißt es in Judenhass im Internet, lasse sich zunehmend schwerer problematisieren – weil die Leugnung, dass es sich um Antisemitismus handelt, inzwischen zum Standardargument antisemitischer Diskurse geworden sei und eine unter »›Meinungsfreiheit‹« firmierende »Akzeptanz« antisemitischer Topoi »mit einem anti-israelischen Narrativ, das seit 2009[5. 2009 reagierte Israel militärisch auf fortgesetzten Raketenbeschuss durch die Terrorgruppen Hamas und Hisbollah.] die massenmediale Berichterstattung prägt«, einhergeht. Im Internet gewinne der Komplex zusätzlich an Unbeherrschbarkeit: »Fan- und Diskussionsforen, Ratgeberportale und soziale Netzwerke (…) werden mittlerweile gezielt von Usern mit antisemitischen Einstellungen infiltriert, um möglichst breit judeophobe Botschaften im Web zu streuen und mittels zahlreicher Verlinkungen massenhaft zu verbreiten.« Dabei gehen antiisraelische Erzählmuster auffallend oft mit einem »eliminatorischen Antisemitismus« uralter Prägung einher. Ein Kürzel erfreut sich unter entsprechenden Multiplikator*innen neuerdings einiger Beliebtheit: BDS. Dahinter verbirgt sich eine internationale Kampagne zur Delegitimierung Israels; über sie ist auf Litlog bereits einiges angemerkt worden.
Mittlerweile erfreut sich BDS in Deutschland vermehrt prominenter Apologet*innen. Die jüngste Debatte um die Theorien des Philosophen Achille Mbembe, dem der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung Felix Klein vorwarf, antisemitisch zu argumentieren, rief beispielsweise Eva Illouz und Aleida Assmann auf den Plan. Bei allem Respekt für die Leistungen gerade letzterer, deren Forschung zum kulturellen Gedächtnis und Verdienste im Bereich der NS-Aufarbeitung gar nicht hoch genug einzuschätzen sind, kann man nur mit Sorge beobachten, wie einflussreiche Persönlichkeiten wie sie den Antisemitismusbegriff so weit verengen, dass viele – unter anderem bei Schwarz-Friesel nachzulesende – Ausdrucksformen schlicht unter den Tisch fallen.Mittlerweile erfreut sich BDS in Deutschland vermehrt prominenter Apologet*innen. Die jüngste Debatte um die Theorien des Philosophen Achille Mbembe, dem der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung Felix Klein vorwarf, antisemitisch zu argumentieren, rief beispielsweise Eva Illouz und Aleida Assmann auf den Plan. Bei allem Respekt für die Leistungen gerade letzterer, deren Forschung zum kulturellen Gedächtnis und Verdienste im Bereich der NS-Aufarbeitung gar nicht hoch genug einzuschätzen sind, kann man nur mit Sorge beobachten, wie einflussreiche Persönlichkeiten wie sie den Antisemitismusbegriff so weit verengen, dass viele – unter anderem bei Schwarz-Friesel nachzulesende – Ausdrucksformen schlicht unter den Tisch fallen.
»In der Forschung sprechen wir (…) seit langem von einer ›Israelisierung des Antisemitismus‹, d.h. auf den jüdischen Staat, das wichtigste Symbol jüdischen Lebens in der Welt, werden judenfeindliche Stereotype projiziert und der Hass auf Israel zum Bindeglied für alle Spielarten von Judenfeindschaft. Doch Antisemiten wollen sich die ›renommierten‹, ›bekannten‹, ›preisgekrönten‹ Komiker, Schriftsteller, Musiker und Akademiker sowie Journalisten in der Post-Holocaust-Gesellschaft nicht nennen lassen«, so beklagt sich Schwarz Friesel in einer Replik auf Assmann. Antisemitismusvorwürfe finden viele scheinbar skandalöser als Antisemitismus selber. Auch das ist mittlerweile die neue Normalität, wie wissen kann, wer die Publikationen führender Forscher*innen zum Thema beobachtet. Schwarz-Friesel ist eine der wichtigsten; Judenhass im Internet sollten alle kennen, die mitreden wollen.