»Wir sind allein, mein Schatz«

Albertine Sarrazin ist ein Outlaw der französischen Literatur und eine talentierte Schriftstellerin, die schon in jungen Jahren starb. In Der Ausbruch erzählt sie die Geschichte ihres Alter Egos Anick, die im Gefängnis sitzend ihr Leben reflektiert und sich auf ihre ganz besondere Art frei schreibt.

Sebastian Becker

Bild: »Gefängnisausbruch« von chummels via pixabay CC0

Albertine Sarrazin war kein unbeschriebenes Blatt, als sie zu schreiben begann. Die Französin wurde 1937 in Algier geboren und kurz darauf von einem französischen Ehepaar adoptiert. Dort verbrachte sie einen Teil ihrer Kindheit. Nach einer Vergewaltigung durch einen Unbekannten steckte man sie in ein Erziehungsheim. Zu diesem Zeitpunkt begann ihre kriminelle Lebensgeschichte: Sie fiel immer wieder durch kleine Delikte auf und flüchtete am Tag ihres Abiturs nach Paris. Dort verdiente die 18-jährige ihren Lebensunterhalt als Prostituierte und hielt sich mit Gelegenheitsdiebstählen über Wasser, bis sie mit ihrem Geliebten bei einem bewaffneten Raubüberfall verhaftet wurde. Sieben Jahre Jugendarrest erwarteten sie, doch auch dem konnte sie entkommen und lernte auf der Flucht ihren späteren Ehemann Julien Sarrazin kennen. Die meiste Zeit der Ehe verbrachten die beiden getrennt voneinander in Gefängnissen, wo sie ihre Liebe lediglich durch Briefe am Leben hielten. Während ihres langjährigen Gefängnisaufenthalts begann Sarrazin ihre Erlebnisse aufzuzeichnen und schrieb mehrere Bücher. Ihr wildes Leben zwischen Kriminalität und Gefängnismonotonie, zwischen Selbstverurteilung und Freiheitssinn macht sie zu einer Punkerin avant la lettre der französischen Literatur. Diesen Sommer erschien ihr Roman Der Ausbruch (Orginal: La Cavale 1965) in einer neuen Übersetzung von Claudia Steinitz im Schweizer Verlag InkPress.

Ich bin bestens ausstaffiert, um heute Abend im Knast zu landen: Opossum und Hose.

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Albertine Sarrazin, aus dem Französischen Claudia Steinitz
Der Ausbruch

Ink Press: Zürich 2018
528 Seiten, 26,00€

Einen der besten Romananfänge der französischen Literatur nannte Patti Smith diesen ersten Satz des Romans, und ihr ist zuzustimmen, denn er gibt die subversive Heiterkeit der Geschichte perfekt wieder. Als Leser fragt man sich an vielen Stellen, wie es überhaupt möglich ist, in der Enge einer französischen Haftanstalt der 50er Jahre – räumlich wie auch psychisch – so poetisch zu schreiben und trotz der widrigen Umstände eine bemerkenswerte Harmonie in die Texte zu bringen. Hier wird deutlich, Schreiben befreit die Gedanken, und auf diesen »Freigang« nimmt Sarrazin ihre Leser mit.

Die Protagonistin ist Albertine Sarrazins literarisches Alter-Ego und nennt sich Anick Damien. Sie ist zierlich gebaut und kennt sich bestens aus in den Gefängnissen rund um Paris. Sie weiß mit den Mitinsassinnen umzugehen, macht sich schnell Freunde und beginnt, ihren Ausbruch zu planen. Denn sie rechnet nicht damit, eine Minimalstrafe zu bekommen und frühzeitig entlassen zu werden. Doch dieser Ausbruch bleibt, wie man als Leser schnell feststellt, nur ein Plan. Viel mehr ist er ein Anker. So ist es der Ausbruch, der die Insassin während ihrer Inhaftierung ständig begleitet und sie hoffen lässt – hoffen lässt, bald wieder in den Armen ihres Zizis zu liegen. Zizi, so heißt der Geliebte der Protagonistin. Genau wie der Ehemann der Autorin Sarrazin ist auch Zizi inhaftiert. Das fiktionale Paar hält – genau wie das reale Vorbild – den Kontakt lediglich durch Briefe aufrecht. Beide wollen sie sich sobald wie möglich in Freiheit wieder treffen, doch mal scheitert es an einem zu kurzen Seil, mal an der zerbröselten Seife, in welcher sich der Abdruck eines Schlüssels befindet, und schließlich an ihrem eigenen Ehemann, der sie letztlich von einem Ausbruch abhält, um ihr eine noch längere Gefängnisstrafe zu ersparen. 

Zwischen dem Handel mit Zigaretten und den Gesprächen der Insassinnen mittels der Toilettenrohre tauchen immer wieder Sätze wie diese auf: »Von Fenster zu Fenster und die Wände streifend, von Schrank zu Schrank über die Köpfe schleifend, hängen Girlanden aus Baumwollschnur…« poetisch anmutende Sätze, welche die Anekdoten aus Anicks Leben – aus Albertines Leben – so wundervoll schmücken, dass man sich fragt, wozu die Autorin in der Lage gewesen wäre, wenn sie einen Roman außerhalb der beengenden Anstaltsmauern geschrieben hätte. Unglaublich eindringlich mit erzählerischer Kraft und bildlich eindrucksvoll schreibt sich Albertine Sarrazin zu einer Freiheitsikone, einer literarischen Rebellin, die zwar nicht nur aus Gefängnissen, sondern auch aus gesellschaftlichen Normen ausbricht, aber immer reflektiert bleibt: »Kein Anwalt kann mich aus meiner Selbstverurteilung holen.«
Die 528 Seiten des Romans lassen sich schnell und gut lesen, die einzelnen Kapitel sind übersichtlich und Leser*innenfreundlich konzipiert. Stolpern lassen den Rezipienten einzig die Slang-Wörter der Gefängnisinsassinnen, an die man sich zunächst gewöhnen muss.

»Ich bin Diebin gewesen, ich will Schriftstellerin werden. Jede andere Tätigkeit scheint mir indiskutabel«, sagte Albertine Sarrazin. Dass sie das Zeug dazu hatte, merkt man an diesem großartigen Roman. Leider verstarb die junge Schriftstellerin schon im Alter von 29 Jahren wegen eines Operationsfehlers, sonst wäre aus ihr sicher eine der ganz großen französischen Autor*innen geworden.

Geändert am 03.12.2018: Die Redaktion entschuldigt sich für die fälschliche Aussage, die Ausgabe enthalte Tippfehler. Nach sorgfältiger Überprüfung konnte dies nicht bestätigt werden.

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