Jan Wilm schafft auf wenigen Seiten sehr viel: Eine erschreckend mühelose Mischung aus begeisterten Analysen von Ror Wolfs Werken und sehr persönlichen Anekdoten machen Ror.Wolf.Lesen. zu einem Buch, das nicht nur Lust aufs »Wolflesen« macht – sondern auch aufs Wilmlesen.
Von Frederik Eicks
So ganz klar war für das Lesepublikum nicht, was für ein Buch das werden würde. Es sollte um den 2020 verstorbenen Schriftsteller Ror Wolf gehen, der fast alle wichtigen deutschsprachigen Literaturpreise gewonnen hat und trotzdem beängstigend schnell aus dem kulturellen Gedächtnis verschwunden ist, und es sollte von Jan Wilm geschrieben sein. Aber was für ein Text würde das wohl sein, der den Titel Ror.Wolf.Lesen. tragen würde? Ein wissenschaftlicher Text heißt nicht so, ein Sachbuch auch nicht unbedingt, ein fiktionaler Text schon eher, aber eine Erzählung ist es nicht. Die Neugier darauf, was genau eine:n erwartet, wurde auch durch den Verzicht auf eine eigene Gattungszuweisung angestachelt. Glücklicherweise kommuniziert der Wilm zwischen den Buchdeckeln seine Absichten dann sehr direkt: »Mein Buch über Ror Wolf ist ein Buch meines Wolflesens, meiner Wolflust«, »ein Buch, das ich am ehesten für Ror schriebe, nicht über ihn.«
Ins Wolfwerk
Wäre man genötigt, das Ergebnis dieses Wolflesens in irgendeine literarische Schublade zu zwängen, böte sich diejenige an, in die man alles reinstopft, was nach dem Aufräumen noch durchs Zimmer fliegt: Essay. In der Einleitung und fünf Abschnitten, die jeweils den Genres/Medien Collage, Gedicht, Prosa, Film und Hörspiel gelten, spricht Wilm emphatisch und enthusiastisch über das Gesamtwerk Ror Wolfs, dessen für alle Bereiche geltende ästhetische Struktur er aus Zerstückelung und (Neu-)Zusammensetzung entwickelt: »Die Collage ist dabei für mich das zentralste Verfahren, der innerste Aspekt nicht nur von Wolfs Werk, sondern darüber hinaus eines der Kernelemente aller ästhetischer Arbeit.« Ein weiterer, »für mich vielleicht der bedeutendste Aspekt«, den Wilm herausstellt, ist »die Komik, der Humor, das Lachen und noch viel mehr das Schmunzeln.« Mit Adorno begreift Wilm das Dasein als Schrecken und »große Zerstückelung« und bezeichnet das Lachen dementsprechend als »Zerbrechen des Zerbrechens«, bei dem Furchtbares verkleinert und Entsetzliches weggelacht werde. Mit Kant wird aus dem Lachen sogar die »Kritik des reinen Lachens« als eine »zentrale Erkenntnismechanik«.
Jan Wilm
Ror.Wolf.Lesen
Schöffling & Co.: Frankfurt 2022
192 Seiten, 23,00€
So stark heruntergebrochen klingt das etwas abstrakt, ist zum einen bei Wilm aber leicht verdaulich formuliert und steht zum anderen nicht stellvertretend für das Abstraktionsniveau des ganzen Buchs. Wilm möchte nämlich ausdrücklich »nichts schreiben, was nach Literaturwissenschaft schmeckte, und schon gar nichts, was nach Kritik klang.« Eine Abneigung gegen eine allzu verwissenschaftlichte Betrachtungsweise taucht – auf eine charmante Weise – immer wieder auf, wenn Wilm beispielsweise anmerkt: »Falls man Zungenmuskelkater mag, nenne man diese Musik gerne extradiegetisch.«
Diese Haltung mag bei einem promovierten Literaturwissenschaftler zunächst überraschen, ist aber auch mit einem Augenzwinkern zu verstehen. So lässt der außerordentlich belesene Wilm es sich nicht nehmen, auch ohne Ironie den einen oder anderen bildungssprachlich-akademischen Begriff zu verwenden und bei der Erläuterung seines Lektüreansatzes auf Namen wie Roland Barthes und Nicholson Baker zu verweisen. Auch Wilms Sichtweise auf das »Wolfwerk« ist literaturwissenschaftlich grundiert, wenn er zum Beispiel die »Bedeutungen von Surrealismus und Dada« und die »ideologisch bewusste Einebnung von Hoch- und Populärkultur sowie von Sprachregistern« aufzeigt. Zudem zitiert er mit mustergültiger philologischer Sorgfalt aus allen möglichen Wolfwerken, die schon für sich genommen durch ihre bloße Zahl und Streuung über verschiedenste Medien schwer überschaubar sind. On top führt Wilm eine Vielzahl literarischer und geisteswissenschaftlicher Quellen an, von Texten mit direktem Bezug zu Ror Wolf bis zu Klassikern wie Novalis’ Blüthenstaub oder dem Grimm’schen Deutschen Wörterbuch.
Im Wolfwohnzimmer
Trotzdem findet Wilm Mittel und Wege, sich klar von der Wissenschaft abzugrenzen: Zwar zitiert er Texte am laufenden Band, markiert aber Zitate schon mit einer etwas eigenbrötlerischen Kursivierung statt Anführungszeichen. Am Seitenrand verweist ein Kurztitel auf die jeweilige Quelle, die dann gesammelt am Ende des Kapitels zu finden sind – bloß, dass da am Ende gar keine genaue bibliografische Angabe steht, gar nicht alle zitierten Texte aufgeführt werden und Wilm schon am Seitenrand gar nicht alle Texte angibt, die er zitiert beziehungsweise auf die er anspielt. Anspielungen auf (für Geisteswissenschaftler:innen) geflügelte Worte wie die Widmung von T. S. Eliots The Waste Land »il miglior fabbro« (»der bessere Handwerker«) und Arthur Rimbauds »Je est un autre« (»Ich ist ein anderer«) finden sich mehrmals im Text, ohne dass Werk (und manchmal auch Autor:in) genannt werden. Bei solchen Spielereien müssen wir uns Wilm als einen schmunzelnden Menschen vorstellen, hätte Albert Camus so oder so ähnlich gesagt.
Nun schreibt Wilm aber nicht einfach aus der Position eines Literaturwissenschaftlers, der einer wissenschaftlichen Herangehensweise abgeschworen hat. Nein, es gibt einen noch gewichtigeren Grund: Wilm schreibt als begeisterter Leser und vor allem als Ror Wolfs Freund. Es nimmt also kaum wunder, dass Wilm sich zwischen die Textsorten seine Nische schreibt: Ein ums andere Mal kippt sein Text aus detaillierten Betrachtungen und Analysen zu Wolfs Kunstwerken in hochpersönliche – ja, intime – Anekdoten und Erinnerungen an seine Begegnungen mit Wolfs Kunst und mit Wolf selbst, wenn Wilm sich zum Beispiel die Zigarettenbilder »im Wolfwohnzimmer« ins Gedächtnis ruft. Jedes Kapitel bis auf die Einleitung wird inhaltlich vorbereitet von kleinen Auszügen aus Tonaufnahmen, die Wilm liebevoll »Die Tranchirer Tapes« nennt. Bei ›Raoul Tranchirer‹ handelt es sich um ein Pseudonym Wolfs, bei den Aufnahmen handelt es sich um Wilm-Wolf-Zwiegespräche, die Wilm 2019 aufgezeichnet hat und aus denen er im Verlauf des Buchs immer wieder zitiert.
Wolfsprache
Vor dem Hintergrund seines zuletzt erschienenen Buchs, dem Roman Winterjahrbuch (Schöffling & Co. 2019), ist Wilms rücksichtslose Offenheit in Bezug auf die eigene Biografie überraschend. Schließlich hat er im Winterjahrbuch Parallelziehungen zwischen ihm und seinem Protagonisten eine Absage erteilt, gerade indem er seiner Hauptfigur seinen eigenen Namen gegeben hat: Jan Wilm. Es gibt allerdings einige übereinstimmende Eckdaten, wie beispielsweise die geteilte Profession. Doch der Jan Wilm in Ror.Wolf.Lesen. teilt sich eine andere, viel persönlichere Eigenschaft mit dem Protagonisten Jan Wilm des Winterjahrbuchs, eine emotionale Disposition: »Früh schon war mein Leben von Trauer gezeichnet, eine Jugend in Rembrandt-Farben.« Weiter erinnert sich Wilm an eine Zeit, „als […] die Einsamkeit eines durchgeschwiegenen Wochenendes mein Leben so fadendünn erscheinen ließ, dass es nichtig wirkte.«
Gerade in dieser Phase begegnete Wilm Wolf in Form des Gedichts mein famili: »[S]ein Text umfasste mich, und ich legte mich hinein in diese Worte, diese Literatur.« Das Eigene bei diesem Gedicht sei, dass »[d]er Bruch, der durch die Familie geht«, nicht erzählt wird, »er wird in die Form des Gedichts gelegt«. Wieder und wieder betont Wilm die Einzigartigkeit des Wolf’schen Gesamtwerks: »Heute meine ich, diese Literatur ist so eigensinnig und so beglückend fremd, dass man sie nicht sucht.« Wilms helle Begeisterung angesichts der »Wolfsprache«, des »idiosynkratischen Zauber[s] des Wolfkosmos« ist so überzeugend, dass der eingangs formulierte Wunsch, sein Buch möge die Lesenden nicht im eigenen Text halten, sondern dazu anstiften, »diese Seiten gelegentlich aus der Hand zu legen und in Rors Büchern zu blättern«, sicherlich von den meisten seiner Leser:innen erfüllt wird.
Wilmsprache
Das Wunderbare daran ist – und das zeigen schon die oben zitierten Passagen –, dass Wilms eigene Satzstrukturen, seine Präzision, seine Wortwahl und -verknüpfungen selbst eine eigenwillige, charakteristische und vor allem zauberhafte Sprache formen. So schildert er in der Einleitung die Träume, in denen er Ror Wolf begegnet:
Der immer leicht zu lesende Wilm hat außerdem eine Eigenart, in ganz seltenen Fällen kaum gebräuchliche Wörter zu verwenden wie »Menjou-Bärtchen« und (kein Schreibfehler) »Lakune«. In der verschmitzten Neuschöpfung »stefan-george-minuskelitis« kommt alles zusammen: Wilms Belesenheit, sein Sprachtalent und insbesondere sein Witz, den er auch in der ernsthaften Auseinandersetzung nie verliert. Eben noch erzählt Wilm mit rührender Ehrlichkeit von zwei Sätzen Wolfs, die in einem persönlichen Gespräch fielen und ihm »meine eigene Arbeit erleichtern.« Er spricht über den Bruch von Wolfs Tod und dessen Auswirkungen auf Wilm – und zerbricht dann das Zerbrechen: »Rational weiß ich, dass er fort ist, doch als Fiktionär und vor allem als Leser habe ich an allem Rationalen allenfalls Teilinteresse.«
Rabbo Tonga
Wer keine allzu düstere Grabinschrift auf seinem Stein haben möchte und beispielsweise mit dem Gedanken spielt, Timm Ulrichs zu Lebzeiten angefertigte Grabinschrift für seinen eigenen Grabstein zu klauen, könnte stattdessen getrost auch dieses Wilm-Zitat verwenden. Vorausgesetzt, man ist Fiktionär:in und vor allem Leser:in – aber wer hat das schon zu entscheiden, außer man selbst? Was für ein ikonischer Satz, der nur überboten wird vom Schluss des Buchs, der die wichtigste Eigenschaft von Wilms eigenem Schreiben in seiner Essenz verkörpert: happy-sad zu sein.
Im Vorfeld spricht Wilm über Wolfs O-Ton-Hörspiel Bananen-Heinz (HR 1983). Der Sprecher Heinz Blanz, hessischer Bananenverkäufer sei ein »geborener Erzähler«, der »großartiges Sprachmaterial« hervorbringe: »Allein seine Sprechart, seine Phrasenbildung und seine Neologismen sind so schrullig und eigen, dass die Ohrenlust angeregt ist, als lauschte man einem Jazzstück«. Von all diesen sprachlichen Kleinodien ist es vor allem eins, das es Wilm angetan hat, nämlich das »alles überstrahlende Rabbo Tonga«, das Wilm jahrelang beschäftigte und dessen Bedeutung dennoch vage bleibt: »Verstehn Sie? Nein? Ich auch nicht. Nicht ganz.« Dann schildert Wilm die Nacht, in der er von Wolfs Tod erfährt, und – um nicht gleich weinen zu müssen – Bananen-Heinz auflegt, das ihn immer zum Lachen gebracht habe. Der trauernde Wilm hört dieses Stück und muss trotz seines Vorsatzes von Anfang an weinen:
Nicht nur hier, sondern ständig geht es in Ror.Wolf.Lesen. um die heilsame Wirkung, die Literatur und Sprache haben können und die vor allem Ror Wolfs Texte auf Jan Wilm haben. Es handelt sich um einen Text, der gleichermaßen analytisch, tiefpersönlich, erhellend ist und vor allen anderen Dingen vor Begeisterung sprüht. Egal, ob es um Literatur geht, ob um den Tod oder um Wilms eigenes Leben: Wilm schreibt mit kindgleicher Begeisterung. Damit gelingt ihm ein Buch, das nicht nur über die Schönheiten, die Zufluchten und Gegenmittel von Literatur spricht, sondern mit seiner aufrichtig vermittelten, überschwänglichen Lesefreude selbst zu ihnen zählt. Darin liegt eine große Verlockung, der man sich leider nicht immer wird hingeben können, weil sonst die kritische Aufarbeitung problematischer oder gar gefährlicher Inhalte wie beispielsweise der Rassismus in Winnetou ins Hintertreffen geriete – aber wenn sich die Chance bietet, sollte man sie nutzen: nur so über Kunst zu sprechen, nie anders.