In Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron verbindet Yade Yasemin Önder die fragmentarische Geschichte einer nicht vertrauenswürdigen Ich-Erzählerin mit einer kreativen sprachlichen Gestaltung, die Eindruck hinterlässt.
Von Benita Pangritz
Triggerwarnung: Der folgende Text beinhaltet Beschreibungen von Essstörungen und Bodyshaming. Die Abschnitte mit entsprechenden Zitaten werden im Fließtext abgesetzt. Wenn Du Unterstützung suchst, findest du Beratungs- und Hilfsangebote hier.
Eine Ich-Erzählerin, die keine gelben Sachen isst, mit ihrem Symptom spricht und versucht, vor ihm davonzulaufen. Klingt verwirrend? Ist es auch. Der im März 2022 erschienene Roman Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron von Yade Yasemin Önder thematisiert Gewalt, Bulimie und Sex auf sprachlich beeindruckende und abstrakte, somit nicht leicht zu verstehende, Art.
Abstrakt bis zur Orientierungslosigkeit
Triggerwarnung: Bodyshaming
Die Ich-Erzählerin ist die Tochter eines türkischen Mannes und einer deutschen Frau, die irgendwo in Deutschland lebt. Ihr stark übergewichtiger Vater, der so schwer war, »dass die Wiese sich konkav ins Erdreich bog« und mit dem man nichts machen konnte, »was mit einer Schwerkraft zu tun hatte«, stirbt bei einem Unfall. Daraufhin verändert sich ihre ganze Welt. Die Leser:innen begleiten die Ich-Erzählerin über Jahre hinweg – von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter. Dabei erzählt sie zum Beispiel von ihrer Bulimie-Erkrankung, von Gewalterfahrungen und von Sex, der manchmal auch gewaltvoll sein kann – vielleicht einvernehmlich, oder vielleicht auch nicht.
Hier endet die konkrete Beschreibung.
Die Erzählung ist dabei nicht linear und eher fragmentarisch, und so ist nur selten leicht zu durchschauen, in welcher Altersstufe sich die Ich-Erzählerin gerade befindet. Oft ist auch die Handlung nicht einfach nachzuvollziehen: Spricht sie von ihrem Ehemann, meint sie dann tatsächlich ihren Ehemann, oder doch den Jungen, den sie als Kind »geheiratet« hat?
Lediglich die teils kryptischen Kapitelüberschriften lassen zumindest teilweise Verbindungen zwischen den Kapiteln entstehen, sodass sie nach einiger Zeit als roter Faden fungieren. Obwohl roter Faden an dieser Stelle irreführend ist, da sich doch die Farbe Gelb als Motiv durch das ganze Buch zieht.
Namen sind für Grabsteine
Auffällig ist, dass die Ich-Erzählerin namenlos bleibt. Zwar wird mehrfach vom Namen der Ich-Erzählerin gesprochen (»für meine Mutter sind Namen eh nur was für Grabsteine, deswegen hat sie mir auch keinen oder zu viele Vornamen gegeben«), doch dieser nie genannt. Möglich, dass dies die Einstellung der Ich-Erzählerin unterstreicht, dass sie sich in der Welt verloren fühlt. Diese Leerstelle ruft Leser:innen jedenfalls dazu auf, sich selbst in die Lektüre einzubringen und zu reflektieren. Die deutsch-türkische Ich-Erzählerin, die nach eigener Aussage nicht türkisch aussieht, aber – so viel weiß man immerhin – einen türkischen Nachnamen trägt, sucht nach ihrer Identität, erzählt von Differenz und Rassismus und versucht, sich während ihrer Jugend im Deutschland der 90er- und frühen 2000er-Jahre zurecht zu finden. So berichtet sie zum Beispiel davon, wie Lehrer:innen sie harsch dazu auffordern zu erklären, wie ihr Name ausgesprochen werden soll:
Psychisch krank und hilflos
Triggerwarnung: Esstörungen
Insgesamt ist das Thema Essen beziehungsweise die schwierige Beziehung dazu ein wichtiges. Von dem starken Übergewicht des Vaters zur Abneigung der Ich-Erzählerin als Kind, gelbes Essen zu sich zu nehmen, bis zu ihrem Leben mit Bulimie, taucht das Thema immer wieder auf. Die teils offene Art der Thematisierung von Bulimie macht es jedoch leicht, die Erfahrungen auf andere psychische Erkrankungen zu übertragen: vom eigenen Umgang mit der Erkrankung bis zum Umgang des Umfeldes damit. Vom anfänglichen Leugnen zum Bemerken, aber Ignorieren. Von der Hoffnung, dass es von allein weg geht, und der Einsicht, dass es das eben nicht tut. Und von der darauffolgenden Hilflosigkeit. Damit wird hier ein wichtiges Thema angesprochen, erkranken doch 19 von 1000 Mädchen oder Frauen im Laufe ihres Lebens an Bulimie, und leidet etwa jeder dritte Mensch im Lauf des Lebens an einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung. Im Roman wird dabei gerade die Hilflosigkeit von Angehörigen und das eigene Verdrängen der Erkrankung gut verhandelt. Fraglich ist jedoch, wie mit dem Thema Bulimie umgegangen wird. Von dieser wird zum Teil auf äußerst analytische Weise berichtet, sodass es sich eher liest wie eine Anleitung: Was sollte zuerst gegessen werden, um sich möglichst einfach zu übergeben und möglichst wenige Kalorien bei sich zu behalten? Eine solche Beschreibung mag vielleicht stilistisch sinnvoll erscheinen. Doch stellt sich die Frage, ob es in einem Roman tatsächlich nötig ist, eine derartige Anleitung einzubauen. Denn dies könnte durchaus als Trigger fungieren – davor gewarnt wird nicht.
Info
Im Internet gibt es Communitys, die Bulimie und Anorexie als Lifestyle ansehen, sich gegenseitig dazu anstiften und Tipps geben. Hier werden die Gefahren der Krankheit verherrlicht und ein »Wir-Gefühl« hergestellt, das lebensgefährlich sein kann.
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zeigt auf, welche Beratungs- und Hilfsangebote es für Menschen mit Essstörungen und Angehörige gibt.
Hier endet die konkrete Beschreibung.
Sprachlich gewaltig
Bei Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron handelt es sich um Yade Yasemin Önders Debütroman. Sie studierte Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig sowie Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. Diese Ausbildung macht sich bemerkbar. In den Wortneuschöpfungen und Personifizierungen – wie das Symptom, das zwar in der Ecke steht, mit dem sie aber nicht mehr redet. In den Metaphern – wie das Loch, in das die Ich-Erzählerin immer mal wieder fällt und aus dem sie allein nicht so einfach rauskommt –, die auch mal wunderbar abstrus werden können. Und in den Kapiteln, in denen ein Ereignis auf acht verschiedene Arten beschrieben wird – angelehnt an Raymond Queneaus Stilübungen, wie die Autorin selbst in den Nachbemerkungen betont. All dies verbindet sich zu einer sprachlich beeindruckenden Arbeit, die durchaus eine anhaltende Wirkung hat. Dennoch wäre an einigen Stellen weniger mehr. Eine ganze Seite voller Pflanzennamen, um zu verdeutlichen, was mit der Ich-Erzählerin gerade passiert, kann die Leser:innen durchaus nerven – was aber vielleicht auch genau das ist, was an dieser Stelle intendiert ist. Und so kann der unmittelbar folgende Ausruf der Mutter »Hör endlich auf, oh bitte hör auf!« gut nachvollzogen werden.
Yade Yasemin Önder
Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron
KiWi: Köln 2022
256 Seiten, 20,00€
Die Handlung ist oftmals nicht leicht nachzuvollziehen, die Lektüre erfordert entsprechend viel Aufmerksamkeit, um zu verstehen, wo und wann im Leben der Ich-Erzählerin man sich grade befindet. Und was da eigentlich gerade passiert. Vertrauen kann man der Ich-Erzählerin jedenfalls nicht. Dies kann zwar eine willkommene Herausforderung darstellen, ist möglicherweise aber auch mal zu viel des Guten. Die teilweise sehr schweren und dabei erfrischend schamlos dargestellten Themen verbindet Önder mit einem teils humorvollen, teils wilden Spiel mit der Sprache, das mal plump, mal fein zusammengewebt ist und bis in die Abstraktion führen kann. Diesem Spiel, den Worten zu folgen, macht aber auch den Reiz des Romans und seinen Nachhall aus. Zumal die Worte gerne durch die Gegend fliegen – und manchmal auch einfach fallen.