Selbst Albert Einstein soll eine Lese- Rechtschreibschwäche gehabt haben. Der Titel des Romans Wie ein Fisch im Baum von Lynda Mullaly Hunt ist an ein Zitat von ihm angelehnt: »Jeder ist ein Genie. Aber wenn du einen Fisch nach seiner Fähigkeit beurteilst, einen Baum hochzusteigen, wird er sein ganzes Leben lang glauben, er sei dumm.«
Von Marah Baer
Bild: meineresterampe via pixabay / CCO
Buchstabensuppe
»Warum?«, schreibt Ally Nickerson, die Ich-Erzählerin, wieder und wieder auf ihr Blatt Papier. Es ist eines der wenigen Worte, von denen sie weiß, wie man es schreibt. »Warum?« fragen auch immer wieder die Erwachsenen: »Warum strengst du dich nicht mehr an?«
Doch Ally ist weder dumm noch faul. Lesen ist für sie nur einfach so, als würde sie versuchen »in einem Teller Buchstabensuppe einen Sinn zu finden«. Eigentlich ist Ally sogar sehr intelligent. So intelligent, dass sie ihre Schwierigkeiten beim Lesen erfolgreich vor ihren LehrerInnen verstecken kann. Und wenn diese sie zu sehr drängen, gibt es ja immer noch das Zimmer der Direktorin. Die Lehrenden halten es für eine Strafe, Ally nennt es ihre »Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei!-Karte«.
Doch dann wird Mr. Daniels der neue Lehrer der sechsten Klasse. Er nimmt Ally ernst, erkennt ihre Schwäche und bietet Hilfe an. »Er will mir also helfen? Er hat keine Ahnung, worauf er sich da einlässt«, denkt Ally. Nachdem sie durch ihre Umwelt davon überzeugt wurde, sie wäre zurückgeblieben und mache nur Schwierigkeiten, hat sie angefangen selbst daran zu glauben: »Das Verrückteste, Seltsamste und Unglaublichste, was ich je zeichnen könnte, wäre wohl ich selbst, wie ich etwas richtig mache.« Verrückter noch als ein »Schneemann, der an einem Holzofen arbeitet«.
Lese- Rechtschreibstörung als Krankheitsbild
Etwa drei bis fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen leiden unter einer Lese- Rechtschreibschwäche. Das entspricht etwa 200.000 GrundschülerInnen, deren Probleme, Lesen oder Rechtschreibung zu lernen, größer sind, als sie aufgrund ihres Entwicklungsstandes sein sollten.
Obwohl laut WHO eine Lese- Rechtschreibstörung zu den psychischen Krankheiten zählt, ist sie medikamentös nicht behandelbar. Vielmehr ist es wichtig, möglichst früh zu erkennen, dass ein Kind in der Lese- und Rechtschreibkompetenz hinter den MitschülerInnen zurückliegt, damit es dementsprechend gefördert werden kann. Die meisten Betroffenen können ihre Lese- und Rechtschreibleistung in der Therapie verbessern. In schwerwiegenderen Fällen können mithilfe eines ärztlichen Attests besondere Hilfen bei Klausuren zur Seite gestellt und eine Benotung auf Rechtschreibung erlassen werden.
Lynda Mullaly Hunt
Wie ein Fisch im Baum
cbt 2016
293 Seiten, 12,99€
Vorhersehbar aber authentisch
Es ist natürlich von Anfang an klar, wie sich die Geschichte von Ally entwickeln wird. Mr. Daniels gewinnt ihr Vertrauen und gibt ihr den Glauben an sich selbst zurück. Sie findet Freunde, kann sich gegen die Klassenzicke behaupten und wird zur Klassensprecherin gewählt. So weit, so Klischee. Trotzdem kann man sich der rohen Ehrlichkeit von Allys Stimme beim Lesen nicht entziehen. Diese Hauptfigur ist kein Abziehbild, das über die ausgetretenen Pfade der Underdog-Story durch die Entwicklung von Außenseiterin zu Heldin gescheucht wird. Das liegt vielleicht auch daran, dass ein großer Teil der Geschichte auf Lynda Mullaly Hunts eigener Kindheit beruht. Auf ihrer Website beschreibt sie Wie ein Fisch im Baum als einen 293 Seiten langen Dankesbrief an ihren Lehrer aus der sechsten Klasse. Dieser war nicht nur der Anstoß für ihre eigene Laufbahn als Lehrerin, sondern auch das literarische Vorbild für Mr. Daniels.
Die Autorin trifft mit diesem tiefgründigen Jugendbuch den Ton zwischen kindlicher Weisheit und jugendlicher Null-Bock-Haltung, die die Handlung am Schablonenhaften vorbeisegeln lässt und ihr stattdessen Authentizität verleiht. Vor allem zu Beginn ist dies oft komisch schmerzhaft: »Heute soll jeder von uns in der Klasse etwas präsentieren, was ihn charakterisiert, und etwas darüber erzählen. Mir sind ein paar Dinge eingefallen, die ich mitbringen könnte, zum Beispiel eine Dose voller Dreck oder eine leere Flasche.« An anderer Stelle bemerkt Ally: »Aufmerksamkeit brauche ich so wenig wie ein Fisch einen Schnorchel.«
Mit kurzen Kapiteln, kurzen Sätzen und großer Schrift entspricht die Form des Textes nicht nur der fiktiven Lebenswirklichkeit Allys, er ist dadurch potentiell auch auf LeserInnen mit Legasthenie zugeschnitten. Dass der Autorin dieses Thema am Herzen liegt, erkennt man auch daran, dass ihre Website auf die Schriftart Open Dyslexik umgestellt werden kann, die speziell für Menschen mit einer Leseschwäche entwickelt wurde. Durch Allys Geschichte und ihre unmittelbare Sicht auf die Dinge wird den LeserInnen dieses Thema mit viel Herz und immer auf Augenhöhe nahe gebracht.