Mit Joana Osman und Sara Klatt begegnen sich zwei Frauen, die in ihren Romanen Wo die Geister tanzen und Das Land, das ich dir zeigen will ihre Familiengeschichten aufarbeiten. Während die eine Familie aus Palästina flüchten musste, fand ein deutsch-jüdischer Großvater Zuflucht in Israel. Berührend, entwaffnend ehrlich und mit klugem Humor gehen diese Frauen zusammen mit Moderator Günter Keil ins Gespräch und zeigen ganz deutlich, was es heißt, aktiv für ein offenes Miteinander einzustehen.
Von Paula Schwarz
Bild: Paula Schwarz
Es ist der 18. Oktober 2024 und die Lesung Das Land der vielen Hoffnungen ist eine der Auftaktveranstaltungen des diesjährigen 33. Göttinger Literaturherbstes. Die Lesung ist ausverkauft. Einzelne Gesprächsfetzen des Publikums lassen vernehmen, dass das Thema des heutigen Abends weit über eine bloße Romanbegegnung hinausgeht. »Tagesaktueller kann es nicht werden.«, beginnt die Anmoderation und das Publikum nickt im Einverständnis.
Geplant ist eine Romanbegegnung zwischen zwei Autorinnen, die in ihren jeweiligen Romanen ihre Familien(flucht)geschichten nachzeichnen. Sara Klatts Großvater, ein Berliner Jude, wanderte nach der Shoah 1948 nach Israel aus. Die Erzählerin, angelehnt an die Autorin, begegnet in Das Land, das ich dir zeigen will ihrer Familiengeschichte, indem sie im heutigen, modernen Israel trampen geht. Sie lernt eine Vielzahl von Lebensrealitäten kennen, welche sich »von der pazifischen Großfamilie bis zum arabischen Geschäftsmann« erstrecken und lässt deren Stimmen in ihrem Roman lebendig werden.
Joana Osmans Roman Wo die Geister tanzen beginnt da, wo auch Osmans eigene Reise in die Vergangenheit ihren Anfang nimmt. Bei den Notizbüchern ihres verstorbenen Onkels Ahmad. Dieser und weitere Familienmitglieder flohen 1948 aus Palästina. In ihrem Roman verwebt Osman zwei Erzählleben, die teils biografisch geprägt und recherchiert und teils fiktional sind: Die ihrer eigenen Erinnerungen an ihre palästinensische Verwandtschaft väterlicherseits und die Fluchtgeschichte ihrer Familie.
»Das was normal sein sollte, ist uns abhandengekommen.«
Günter Keil, der Moderator des Abends, führt das Gespräch in einem bemerkenswerten Gleichgewicht zwischen humorvoller Leichtigkeit und notwendiger Ernsthaftigkeit. Es entsteht ein angemessener Rahmen, um die Literaturbegegnung in den Mittelpunkt zu rücken, den Nahostkonflikt nicht auszuklammern, aber auch ohne den Fokus von den Schriftstellerinnen und ihren Geschichten zu nehmen. Beide Romane wurden vor dem 7. Oktober letzten Jahres verfasst, dem Tag des Angriffs der Hamas auf Israel, seit dem die Brutalität des Konfliktes eskaliert ist. Keil bezeichnet die Romane als »zeitlos«, sie ständen für sich. Doch für beide Autorinnen war dieser Tag und was daraus folgte Anlass, neu über ihre Romane nachzudenken. Sara Klatt, damals noch im Prozess des Lektorierens, entschied sich in Form eines Nachtrages für eine Kontextualisierung ihrer Geschichte.
Zur aktuellen Situation findet Joana Osman passende Worte: »Das was normal sein sollte, ist uns abhandengekommen.« Eigentlich normal sei es, dass jüdische und palästinensische Personen gemeinsam über ihre Erfahrungen reden – und einander zuhören können Doch dies löst anscheinend oft genug Skepsis aus und das Gefühl, eine andere Perspektive hätte mehr Aufmerksamkeit verdient. Ihrer Meinung nach sei es wahnsinnig wichtig, dass die beiden Bücher an diesem Abend miteinander und nebeneinander sein dürften. Sara Klett nickt in unmissverständlicher Zustimmung und nicht zum letzten Mal an diesem Abend folgt ein Applaus, der nachhallt.
Im Verlauf des Abends lesen beide Autorinnen jeweils zwei Auszüge aus ihren Romanen. Schnell wird klar: Die Passagen sind klug ausgewählt und dringen unerwartet tief in die eigene Gefühlswelt ein. Die Romanfiguren zeigen den unausgesprochenen, inneren Kampf zwischen Gegenwartfokussierung und Vergangenheitsbewältigung. Dann gibt es in Wo die Geister tanzen natürlich noch die Geister. Sie tanzen in der staubigen Luft eines zerfallenen Gebäudes, das mal jemandes Heimat war oder werden in Das Land, das ich dir zeigen will zu lebensechten Träumereien vergangener Zeiten in den verlassenen Sälen einer Villa. Für Osman und Klatt sind die Geister Vorfahren, Erinnerungen, Gefühle. In Osmans Worten: »Das diffuse Nachspüren nach dem, was man eigentlich ist, was einen eigentlich ausmacht.«
»Wir gehören nicht in diesen Staat, aber wir kommen aus diesem Land.«
Die Begriffe Herkunft und Heimat ziehen sich wie ein roter Faden durch den gesamten Abend. Keil greift einen besonderen Satz aus Klatts Roman auf: Heimat setze sich aus den unmöglichsten Dingen zusammen. Auf die Frage, ob die Autorin beim Trampen in Israel von einigen Dingen überrascht wurde, die nicht mit ihren Vorannahmen über das Land übereinstimmten, antwortet sie: »Auf jeden Fall.« In dem Wirrwarr aus Traditionen und Kulturen in einem Einwanderungsland wie Israel zeigten sich ihr unerwartete, vielfältige Seiten desjenigen Landes, in dem einst ihr Großvater eine neue Heimat fand. Klatt spricht schnell und wortgewandt, für sie sei Heimat Sprache. Der eigene Ausdruck also und die Verständigung miteinander sind für sie elementar, um anzukommen.
Osman findet: »Heimat ist ein feeling« und unterliege einem ständigen Wandlungsprozess. »Wir gehören nicht in diesen Staat, aber wir kommen aus diesem Land« schreibt sie in ihrem Prolog, während sie in Tel Aviv ihre Suche beginnt. Sie öffnet den Blick auf das potenzielle Spannungsverhältnis, das sich zwischen Heimat und Herkunft auftun kann und mindestens in diesen beiden Familien, die sich doch in vielem so viel mehr ähneln als sich anfangs vermuten lässt, eine zentrale Rolle spielt. Osmans Prolog findet seinen Beginn, als ihre jüngere Cousine Zeynep sie eines Nachts anruft, um ihr mitzuteilen, dass sie alte Notizbücher ihres verstorbenen, palästinensischen Vaters, also von Osmans Onkel, gefunden hätte. Osman und Zeynep treffen sich sechs Monate später in Tel Aviv, der Stadt, von der aus ihre Großeltern 1948 flüchteten. Dort treten sie ihrer Ahnungslosigkeit entgegen und begeben sich auf die Suche nach Erkenntnissen über die Vergangenheit ihrer Familie. Während Osman in Deutschland aufwuchs, ist Zeynep in der Türkei zu Hause und trotzdem haben sie Heimweh nach dem Palästina ihrer Großeltern. Am Ende des Prologs begegnen die beiden einer alten, israelischen Frau. Zeynep erzählt, dass sie eigentlich aus Palästina kommen. Die alte Frau schaut nachdenklich, dann sagt sie: »Welcome home darling. Welcome home.« Und für einen kurzen Augenblick verfällt der ganze Saal in vollkommene Stille.
Verwirrung als Ausgangszustand
Der Abend geht weiter und Keil eröffnet dem Publikum eine elementare, wenn auch keineswegs revolutionäre Erkenntnis, die sich ihm beim Lesen der Bücher auftat: Klischees seien totaler Quatsch. Schubladendenken, ganze Ethnien und Kulturen zu kategorisieren, nichts davon sei sinnig. Es folgt eine Frage, die er mit lachendem Unterton an die beiden Autorinnen stellt: »Ist das jetzt gut, dass ich das so empfunden habe. War das ein Ziel?« Die Autorinnen sind sich einig: Klischees müssten aufgebrochen werden, sie säßen viel zu tief.
Klatt formuliert ein Ziel, das aufhorchen lässt. »Wenn Sie nach der Lektüre dieses Buches sehr verwirrt sind, dann habe ich mein Ziel erreicht.« Sie schmunzelt, das Publikum lacht und doch weiß jeder, wie ernst sie es meint. Sie möchte Verwirrung stiften, damit Leser:innen verstehen, dass sie kaum etwas wissen. Das Ziel der Bücher ist, dass schnelle Urteile vermieden werden und man sich und eigene Überzeugungen anfängt zu hinterfragen. Als sie den Roman zu schreiben begann, habe Klatt ein Gefühl von Wut verspürt. Wut über eine lautstarke Meinungsbildung, ohne jemals in Israel gewesen zu sein, ohne jemals ein Sachbuch über den Nahostkonflikt in die Hand genommen zu haben. Verwirrung ist für sie der Ausgangszustand, der der Komplexität dieser Kulturen in all ihrem Chaos und ihrer Vielfalt angemessen ist. Es ist eine Annahme, der man erstmal etwas Aufmerksamkeit schenken muss, bevor man beginnt sie zu verstehen. Genau das also, was Klatt möchte, tritt ein. Verwirrung. Sobald man dann versteht, was hinter ihrer Aussage steckt, hat man das Gefühl, um eine Perspektive reicher zu sein, auf die man selbst vielleicht nie gekommen wäre.
Ein Abend, der bleibt
Mit dem Zitat des Holocaust-Überlebenden Elie Wiesel, das Klatt auch in ihrem Nachtrag wiedergibt, neigt sich der Abend dem Ende zu:
Das Publikum ist Zeuge dieser Aufforderung zu reden und Zeuge dieser zwei Geschichten. Geschichten, die beispielhaft sind für eine ganze Generationen von Menschen, deren Vergangenheit erzählt werden möchte, die erzählt werden muss. Berührt und mit Worten, die sich eingebrannt haben, verlassen die Menschen nach dieser Romanbegegnung den Saal des alten Rathauses. Und weil doppelt berührt so viel besser ist als nur einmal berührt, nehmen fast alle an diesem Abend beide Romane mit nach Hause.