Triggerwarnung
Dieses Buch enthält Beschreibungen von emotionalem und körperlichem Missbrauch, Essstörungen sowie Alkohol- und Drogenmissbrauch, welche teilweise in dieser Rezension aufgegriffen werden. Wenn Du Unterstützung suchst, findest Du sie zum Beispiel bei der Psychosozialen Beratung des Studentenwerks Göttingen oder der Therapeutischen Frauenberatung Göttingen e. V.
Mit ihrem Buch I’m Glad My Mom Died, basierend auf dem gleichnamigen Stand-up-Programm, reiht Jennette McCurdy sich in eine lange Reihe von Kinderstars ein, die offen über ihre traumatischen Erlebnisse mit frühem Ruhm berichten. Dabei nimmt die Autorin kein Blatt vor den Mund und gibt einen einzigartigen Einblick in das Leben mit ihrer narzisstischen Mutter.
Von: Lena Riemenschneider
Etwas über ein halbes Jahr nach der englischen Erstausgabe folgte im Mai 2023 die deutsche Veröffentlichung von Jennette McCurdys internationalem Besteller I’m Glad My Mom Died. Übersetzt wurde dieser von Henriette Zeltner-Shane und Sylvia Bieker. Aufgeteilt in das »Davor« und das »Danach« erzählt das Buch die wahre Geschichte einer Kinderschauspielerin, die durch ihre eigene Mutter an den Rand des Abgrunds getrieben wurde. Im ersten Teil berichtet McCurdy von ihrer Kindheit, dem unerfüllten Karrieretraum ihrer Mutter Debra und den ständigen Castings, bei denen sie Produzent:innen und Manager:innen mit ihrer Fähigkeit »auf Kommando [zu] weinen« beeindruckt. Wenn sie nicht gerade bei einem Casting, Schauspiel- oder Tanztraining ist, muss die Sechsjährige mit ihren Brüdern Videoaufnahmen aus dem Krankenhaus anschauen und dadurch das Trauma der Chemotherapie ihrer Mutter wieder und wieder erleben. Wiederholt wird betont, dass Jennette gar nicht schauspielern möchte, doch sie tut es. Einfach, weil sie ihre Mutter stolz machen und deren Emotionen in Zaum halten möchte. Denn der Stolz auf erfolgreiche Castings schützt das kleine Mädchen nicht vor der rasenden Wut über jedes »Versagen«.
Absolute Kontrolle
In dem Glauben zu wissen, was das Beste für ihre Tochter ist, beginnt Debra McCurdy sich mit Hollywood-Produzent:innen in Verbindung zu setzen. Ihre Ansprüche an Jennette, aber auch an die Rollen, für die diese vorspricht, steigen täglich. Mit acht Jahren darf ihre Tochter nicht mehr allein zur Toilette, mit sechzehn wird Jennette von ihrer Mutter geduscht, die dabei die Geschlechtsteile ihrer Tochter »untersucht«. Durch das Verlangen, zumindest etwas Kontrolle zu erlangen, leidet McCurdy in ihrer Teenagerzeit an Anorexie, die sich später zu einer Bulimie entwickelt. Ganz zur Freude ihrer Mutter, die sich schon früh Gedanken um die körperliche Entwicklung ihrer Tochter macht. Denn für Debra sollte Jennette ihr kindliches Erscheinungsbild, mit dem sich in ihren Augen das meiste Geld verdienen ließ, noch lange behalten. Dass der jungen Frau diese Tatsache bewusst war, zeigt sich vor allem, als sie ihrer im Sterben liegenden Mutter stolz verkündet, ihr Traumgewicht erreicht zu haben. »Mommy, ich bin … jetzt so dünn. Ich hab es endlich runter auf vierzig Kilo geschafft.«
Im zweiten Teil des Buches geht es um McCurdys Leben ohne ihre Mutter. Der Tod ihrer engsten Vertrauten zwang die Schauspielerin selbstständig zu werden, ihr eigenes Leben aufzubauen. Sie berichtet von einem Lernprozess, in dem ihr klar wurde, dass die Beziehung alles andere als normal war. Es geht um einen erneuten Verlust ihrer Mutter, der Jennette auch jetzt noch beschäftigt. »Ihr Tod hinterließ bei mir mehr Fragen als Antworten, mehr Schmerz als Heilung und viele Ebenen der Trauer«. Bis heute befindet sich McCurdy, die sich vor einigen Jahren aus der Schauspielerei zurückgezogen hat, in Therapie. Sie lernt mit ihrem Trauma zu leben und die Person, die ihre Mutter aus ihr machte, hinter sich zu lassen.
Fragwürdiger Sticker
Jennette McCurdy
I’m Glad My Mom Died
FISCHER Taschenbuch: Frankfurt a. M. 2023
384 Seiten, 18,00 €
Das in freundlichem Gelb und Rosa gehaltene Cover zeigt McCurdy mit einer pinken Urne in der Hand, direkt neben ihrem Gesicht prangt ein grüner Aufkleber. »Bekannt aus der Fernsehserie iCarly« steht da. Während die Autorin in ihrem Buch mehrfach betont, dass sie es hasse, für diese Serie bekannt zu sein, scheint für den Verlag gerade diese Serienbekannheit ihren Wert auszumachen. In Anbetracht der Tatsache, dass das Buch schon lange vor der deutschen Veröffentlichung auch ohne Sticker auf internationalen Bestseller-Listen vertreten war, hätte auf diesen Marketingkniff vermutlich auch verzichtet werden können.
I’m Glad My Mom Died ist ein schockierendes Buch, das nur schwer aus der Hand zu legen ist, denn McCurdy ist eine großartige Erzählerin. Sie schafft es, ihre traurige Lebensgeschichte mit Humor und ordentlich Ironie wiederzugeben, ohne ihre Geschichte ins Lächerliche zu ziehen. Mit gnadenloser Ehrlichkeit über ihr Leben als Kinderstar bricht McCurdy mit ihrem Debüt, das schon vor Veröffentlichung großen Anklang fand, viele Tabus. Nicht nur der Titel überschreitet Grenzen, auch ihre Berichte vom Set der Erfolgsserie iCarly öffnen lange verschlossene Türen. Ihr Mut, nicht nur den manipulativen »Creator« der Serie zu kritisieren, sondern auch das Offenlegen des vom Fernsehsender Nickelodeon für das Nicht-Publikmachen von dessen Verhalten angebotenen „Schweigegelds“, begeistern. Doch vor allem McCurdys Stärke, ihre Mutter, den ehemaligen Mittelpunkt ihres Lebens, so offen zu hinterfragen, sticht heraus. In McCurdys Memoiren geht es um den Weg in den Abgrund, aber auch um den Weg zurück nach oben und zu sich selbst. Um das Erkennen des eigenen Wertes, unabhängig von den Meinungen anderer.