Ulrich Kochs neuester Gedichtband Dies ist nur der Auszug aus einem viel kürzeren Text setzt an, wo Koch zuletzt aufgehört hat. Wie so oft schon werden Gedichte versammelt, die über sich selbst und über das Landleben sprechen. Koch bleibt seinem ungewöhnlichen Stil treu und steigert sich noch.
Von Frederik Eicks
In der Fülle des medialen Angebots, aus dem wir heutzutage wählen, gehen zwangsläufig hin und wieder außerordentliche Werke unter oder erhalten nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdient haben. Der Lyriker Ulrich Koch vollbringt sogar das Kunststück, 1995 seinen ersten Gedichtband veröffentlicht zu haben, seit 2008 regelmäßig zu publizieren und dabei weitestgehend unbekannt zu bleiben. Allerdings gehören Kochs Gedichte zum Schönsten und Undurchsichtigsten, was sich zurzeit beim Aufschlagen eines Gedichtbands finden lässt. So bleibt seine Unbekanntheit ein Umstand, für den es nur unzureichende Erklärungen gibt. Die beste ist vielleicht: Pech gehabt!
Verse wie ein Blick aus dem Unterholz
Kochs neuester Gedichtband Dies ist nur der Auszug aus einem viel kürzeren Text wird, abgesehen vom Gedicht Epilog, gerahmt von den zwei Gedichten Heliotropes Gedicht 1 und Heliotropes Gedicht 2. Die Frage liegt nah, was das genau ist, ein heliotropes Gedicht – ein Gedicht, das sich und seine Blätter hin zur Sonne wendet. Im Ersten heißt es, der »Anlass für dieses Gedicht« sei simpel. Im Zweiten dann lügendes Gras, raue Zungen, regnendes Haar, ein Vogelei. Die beiden Gedichte vereinen eine formale und zwei thematische Eigenschaften, die Kochs Schreiben wesentlich auszeichnen: das Schreiben über Land und Dorf, das Schreiben über das Schreiben – und das beides mittels Wortverknüpfungen, die sich zu schade dafür sind, unmittelbar Sinn herzustellen.
Ulrich Koch
Dies ist nur der Auszug aus einem viel kürzeren Text
Jung und Jung: Salzburg 2021
160 Seiten, 23,00€
Was bedeuten solche Verse – »Den gestrandeten Schiffen / schiebe ich ein Kissen in den Nacken«? Oder »Jede Kuh ist in Wahrheit eine Schreibmaschine«? »Junger Mann zum Mitreisen gesucht, lese ich bei den Zugvögeln«? Die Frage nach dem Sinn wird abgelöst von einem tiefen, breiten Gefühl, schwer greifbar, mit unzähligen Facetten. Teils Melancholie, teils Leere, teils Sehnsucht, teils Ehrfurcht, teils Zweifel, teils Glück. Koch stellt Häppchen bereit in Form von Versen, die besonders eindringlich sind und einem Blick aus dem Unterholz auf die Lichtung gleichen: »Die traurige Wahrheit ist, dass ich immer noch liebe.«
Gedichte über Gedichte
Tatsächlich sind Kochs Gedichte gespickt von solchen Seltsamkeiten, die eine:n nach der Lektüre weiter begleiten, eine:n nicht mehr aus dem Gedicht gehen lassen, ist man erst einmal eingetreten. Solch ein Eintreten ist wörtlich zu verstehen, heißt es doch in Achtzehnter Februar: »Gib die Sonne / auf, komm / in dieses Gedicht.« Bei Koch gibt es unter anderem auch »[d]ieses eine lange Gedicht, in dem wir aufgewachsen sind«. Der Bezug zum (eigenen) Schreiben ist allgegenwärtig. Das Wort ›Gedicht‹ ist das zweithäufigste im ganzen Band – nach ›Licht‹ und vor ›Gesicht‹.
Wenn Koch das Landleben beschreibt, die Holsteiner Kühe, die Vorgärten und die Autobahnbrücken, verwandelt seine Sprache diese Alltäglichkeiten in eine noch magische Welt, in der Fahrräder Schlappohren haben und Wale schon mal daran zweifeln, ob der Parkplatz unter den blühenden Kastanien wohl die richtige Wahl war. Das Eintauchen in diese Welt beziehungsweise die auf diese Weise vollzogene Betrachtung unserer Welt wird im Selbstbezug der Gedichte beim Wort genommen, gleichzeitig zieht dieser aber auch seine eigene unüberwindbare Grenze: Text zu sein und über diesen Status nie hinauszukommen. Der Selbstbezug wird zum Mittel, in dem das ambivalente Verhältnis zur eigenen Kunst zumindest formal ausdrückbar ist: Das Gedicht ist einladend, rettend – aber der Sprecher ist »Linkshänder, seit der ersten Notiz verwische ich meine Spur«.
Übersättigte Lyrik
Gewissenhaft wie nie arbeitet Koch sich an seinen Gedichten ab und setzt einen Trend fort, dessen Anfänge schon länger in seiner Lyrik beobachtet werden können. Andere starke Bezüge zu vorangegangen Gedichtbänden scheinen auf: Das zweite Gedicht des Bandes, Selfie, erinnert allein vom Titel, aber auch inhaltlich an den Vorgänger-Band Selbst in hoher Auflösung (Jung und Jung 2017). In diesem Band befindet sich ein Abschnitt, in dem alle Gedichte nur mit Datum betitelt sind, bspw. Fünfundzwanzigster Dezember. Auch in Dies ist nur… gibt es wieder eine Vielzahl von auf diese Weise betitelten Gedichten, dieses Mal aber nicht gebündelt, sondern verstreut. Zudem gibt es in Dies ist nur… ein Gedicht mit dem Titel Elementares Gedicht. Im Gedichtband Ich im Bus im Bauch des Wals (edition AZUR 2015) gibt es insgesamt 40, in Selbst in hoher Auflösung nochmal 14 Gedichte mit demselben Titel.
Neben solchen leicht erkennbaren formalen Bezügen sind es schließlich die Motive, die Themen und die Sprache seiner Lyrik, die mit dem aktuellen Gedichtband den Schluss nahelegen, dass Kochs Gedichte eigentlich weniger als einzelne Gedichte zu lesen sind. Dies ist nur ein Auszug aus einem viel kürzeren Text ist vielleicht der Titel, den jeder von Kochs Gedichtbänden tragen sollte oder zumindest könnte. Inzwischen wirken seine Texte eher wie ein Großprojekt, wenigstens den winzigen Ausschnitt der Welt, wie sie für ihn erfahrbar ist, treffend zu erfassen. So ein Unterfangen bleibt entweder unvollständig – oder führt, mit Koch gesprochen, zu einer Art Übersättigung. Die Lyrik beschreibt zu viel, weil das Beschriebene flüchtiger und leichter ist als jeder Satz darüber. Aus Erratum, einem dem Band beigelegten Zettel: »In dem Gedicht ›An meine Leser‹ steht auf Seite 81 in diesem Band mehr, als dort stehen sollte.« Kochs Lyrik lässt sich dann vielleicht charakterisieren als ein Versuch, mit dem er unweigerlich scheitert. Es ist allerdings eine große Freude, ihm dabei zuzusehen.