Von Mythen umrankt

Karoline von Günderrode ist vor allem für ihre Biographie bekannt, weniger für ihr vielfältiges literarisches Werk. Mit Mahomed. Der Prophet von Mekka (1805) versucht Günderrode, die provokante Frage zu stellen, ob eine religiöse Erneuerung um 1800 möglich war – in der Form des Islams.

Von Joanna Raisbeck

Bild: von Sophie Taeuber-Arp via Wikimedia Commons, gemeinfrei

Seit dem 200. Jahrestag des Freitods Karoline von Günderrodes (1780-1806), der 2006 zu mehreren Presseartikeln und zur Neuauflage der vergriffenen Werkausgabe führte, ist es um die romantische Dichterin in der germanistischen Forschung eher still geblieben. Zwar zählt Karoline von Günderrode wie Sophie Mereau und Sophie von LaRoche zu den kanonisierten Dichterinnen der sogenannten Sattelzeit – das Gedicht Der Kuß im Traume (1804) gehört sogar zur Schullektüre –, aber die Rezeptionsgeschichte des Günderrode᾽schen Werkes ist zum Teil noch vom »Biographismus der Kritik«1Kord, Susanne: Sich einen Namen machen: Anonymität und weibliche Autorschaft. 1700-1900. Stuttgart 1996, S. 147. geprägt worden.

Um es zugespitzt zu formulieren: häufige Themen wie Liebe, Tod und Leben bei Günderrode sind gerade deswegen verlockend, weil sie sich auf eine romantisierte Lebensgeschichte übertragen lassen. Marina Rauchenbacher hat in ihrer Wiener Dissertation sämtliche Topoi der Günderrode᾽schen Rezeptionsgeschichte akribisch untersucht und sich mit der Frage auseinandergesetzt, wie solche Topoi imaginierte Bilder von Günderrode aufgreifen und fortschreiben.2Vgl. Rauchenbacher, Marina: Karoline von Günderrode. Eine Rezeptionsstudie. Würzburg 2014. Dabei wird – mit Mieke Bal zu sprechen – ein »cultural text« hergestellt, also ein Konstrukt, das von der eigentlichen historischen Person abweicht.

Dass Günderrode in eine unglückliche Liebesbeziehung mit dem verheirateten Heidelberger Philologen und Mythenforscher Friedrich Creuzer verstrickt war, steht außer Frage. Ihr Selbstmord im Alter von 26 Jahren im hessischen Oestrich-Winkel bleibt aber eine irritierende Lakune und entzieht sich jeglichem Interpretationsversuch. Denn anders als bei Kleist, den Christa Wolf in ihrem Roman Klein Ort. Nirgends als männliches Pendant zu Günderrode auftreten lässt, ist kein letzter Brief von Günderrode erhalten. Auch müsste man sich schwertun, die noch erhaltenen Briefe als Zeugnis möglicher psychischer Störung zu lesen, da Briefe im 18. Jahrhundert eher als Selbstdarstellungs- und -inszenierungsmedium gelten, die also selten die inneren Gefühle der Verfasser*innen verraten.

Gegen den Mythos: Biographie und dichterische Ambition

Reihe

Die ausgetretenen Pfade des literarischen Kanons verlassend setzen die Autor*innen dieser Reihe sich mit Dichterinnen, Denkerinnen, Schriftstellerinnen auseinander, deren Werke oft ganz zu Unrecht im Schatten kanonischer Texte liegen und hier in Teilen neu entdeckt werden können. Weitere Beiträge folgen hier.  

Vorweg eine kurze biographische Skizze: Karoline von Günderrode wurde in eine angesehene und literarisch tätige Frankfurter Patrizierfamilie hineingeboren. Ihr Vater, der 1786 an einem Blutsturz starb, war Regierungsrat in Karlsruhe beim Markgrafen von Baden. Das jüngste Kind und ihr einziger Bruder Hektor – der in der Günderrode᾽schen Korrespondenz eine Nebenrolle als missratener Student in Heidelberg spielt – wurde in den 1850er Jahren zum Frankfurter Bürgermeister erwählt. Wie es den ältesten und noch unverheirateten Töchtern der Frankfurter Patrizierfamilien ziemte, wurde Günderrode 1797 in das Cronstett-Hynspergische Damenstift angenommen. Aber sie führte kein klosterartiges Leben, das dem Klischee der vereinsamten Dichterin im stillen Kämmerlein entsprechen würde. Die einst strengen Regeln im Stift waren zu Günderrodes Zeit gelockert worden. Daher konnte sie auch längere Aufenthalte bei Bekannten und Verwandten wahrnehmen.

Das Günderrode᾽sche Werk mag insgesamt schmal sein, dafür ist es aber vielseitig und für eine schreibende Frau um 1800 bewusst untypisch: Vor allem verzichtete sie darauf, Romane zu verfassen – eine Gattung, die als besonders »frauenfreundlich« verstanden wurde, gerade weil die Romanform in der Gattungsordnung eher belächelt wurde im Vergleich zur Lyrik oder zum Drama. Gerade dieser Mangel an Romanen gilt als Zeichen von Günderrodes eigenwilligen poetischen Ambitionen. Sie wollte sich als ernstzunehmende Dichterin im Literaturmarkt behaupten und verstand Dichtung zum Teil als Autonomieversuch, der mit dem Streben nach fama verknüpft war, nach dem Wunsch, sich einzuschreiben in die Geschichte. Dichtung galt also als eine Art von Erinnerungskunst und auch als fingierte Unsterblichkeit.

Leider konnten die Zeitgenossen fast nichts mit den zwei zu Lebzeiten erschienenen Sammlungen von Günderrode anfangen. So ungewöhnlich waren die Gedichte, so die Kritik von Clemens Brentano, dass sie etwas Androgynes vermuten lassen:

Das einzige, was man der ganzen Sammlung vorwerfen könnte, wäre, daß sie zwischen dem Männlichen und Weiblichen schwebt.3Brentano, Clemens an Karoline von Günderrode, 2. Juni 1804. In: Weißenborn, Birgit: »Ich sende Dir ein zärtliches Pfand«. Die Briefe der Karoline von Günderrode. Frankfurt a. M. 1992, S. 144.

Das kritische Urteil von Goethe aber fiel eher gutmütig aus: Als »merkwürdige Erscheinung«4Zitiert nach: Günderrode, Karoline von: Sämtliche Werke und ausgewählte Studien. Hrsg. von Walter Morgenthaler. Bd. 2. Frankfurt a.M./Basel 2006, S. 66. bezeichnete er die Sammlung Gedichte und Phantasien aus dem Jahr 1804. Etwas herablassend sprach Sophie Mereau Günderrode jegliche Spur von Originalität ab. Günderrode sei nur dazu fähig, »die großen Ideen unserer Zeit […] gebildet auszusprechen«5Creuzer, Friedrich an Karoline von Günderrode, 17. Oktober 1904. In: Weißenborn: wie Anm. 3, S. 169.. Dabei nahm Mereau einen bis ins 20. Jahrhundert häufigen Kritikpunkt an der »Frauenliteratur« vorweg, nämlich den Vorwurf mangelnder Qualität.

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Um den mythisierten Bildern von der verträumten Romantikerin zu entkommen, lohnt sich es, die Vielfalt des Günderrode᾽schen Werkes genauer anzuschauen. Allein die letzte Sammlung Melete, deren Druck nach dem Tode Günderrodes supprimiert wurde, weist auf das technische Können Günderrodes hin. Neben einem kunstvollen Lied im klassischen Hexameter-Versmaß (Orphisches Lied) sind auch Balladen (Der Gefangene und der Sänger, Gebet an den Schutzheiligen) sowie das Gedicht Scandinavische Weissagungen – ein Ausklang des Ossianismus –, dessen schwere Adonische Versmaß eine dunkle-fatalistische Stimmung heraufbeschwört, zu finden.

Was aber auf den ersten Blick wundern mag: Rein statistisch gesehen sind die meisten Günderrode᾽schen Texte Dramen – keine vollendeten, sondern nur Skizzen und Fragmente. Dazu zählt das Dramenfragment, das im Folgenden eingehender vorgestellt wird: Mahomed, der Prophet von Mekka (1805). Mit ihm leistete Günderrode um 1800 einen Beitrag zur Debatte über die Möglichkeit einer religiösen Erneuerung: In der Jenaer Romantik spielten Friedrich Schlegel und Novalis mit der Idee, eine (wohl ästhetische) Religion zu gründen. Darauf antwortete der Theologe Friedrich Schleiermacher mit der bekannten polemischen Schrift Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), wo er die Religion in der zweiten Rede als »Anschauung und Gefühl« bezeichnet.

Auf der Ereignisebene fokussiert Mahomed den historischen Zeitraum bis zu Mahomeds Eroberung von Mekka im Jahre 629 oder 630 und ist durchaus von Hoffnung geprägt: antiphonische Chöre – wohl in Anlehnung an Schillers Tragödie Die Braut von Messina (1803) –, deren lyrische Gesänge Mahomed reichlich Lob spenden, sorgen für eine hoffnungsschwere Aufbruchsstimmung, die am Ende des Stückes in eine auf die Zukunft vorausweisende Triumphrede Mahomeds mündet. Auf der Erkenntnisebene liefert Günderrode eine apologia der Religion: Mahomed ist nichts anderes als der Versuch, Religion neu zu denken, indem altbekannte Probleme gelöst werden, wie zum Beispiel die Problematik der schriftlichen Überlieferung religiöser Texte – in Mahomed ist der Koran schon vollständig und entspricht genau den Worten Mahomeds. In dessen Gestalt dramatisiert Günderrode ein weltliches und spirituelles Messias-Narrativ: das darf durchaus als provokativ gelten.

Muhammad mal anders

Wieso gilt Mahomed als Provokation? Das Stück bietet im Zusammenhang des deutschsprachigen Muhammad-Diskurses eine Seltenheit dar6Vgl. Cyranka, Daniel: Mahomet: Repräsentationen des Propheten in deutschsprachigen Texten des 18. Jahrhunderts. Göttingen 2018.: Mahomed fungiert als der von Gott begeisterte Prophet, der Kunde von der wahren Offenbarung gibt. Anders als bei Voltaire ist er kein despotischer Betrüger, anders als bei Herder ist Mahomed nicht einmal schwärmerisch – darunter versteht man einen Betrüger, der sich selbst betrügt. Günderrodes Mahomed mag zwar Wunder bewirken, muss aber auch durch seine rhetorische Wortgewandtheit überzeugen.

Mit Mahomed inszenierte sie eine Hauptfigur, die sich immer wieder dem Verständnis der Leser*innen entzieht, sowie dem der Nebenfiguren. Auch wenn Mahomed an einigen Stellen Zweifel über seine Berufung äußert, bleibt er notwendigerweise unnahbar, ein unmenschliches Werkzeug Gottes. Ob Mahomed sich selbst dabei verstellt, das heißt die eigenen politischen Ambitionen hinter dem Vorwand einer (zwar wahren) göttlichen Berufung verbirgt und aus Selbstinteresse handelt, muss dahingestellt bleiben.

Einen wahren Propheten als Hauptfigur eines Dramas zu nehmen, kann an sich problematisch werden, während ein falscher Prophet sich eher besser für eine dramatische Umsetzung eignet – etwa wie bei Goethes Satyros oder der vergötterte Waldteufel (1773): Wenn Figuren in den Bann eines falschen Propheten gezogen werden, lässt sich die Leichtgläubigkeit des Menschen gut thematisieren. In Mahomed sind dagegen sämtliche Ereignisse von Gott determiniert. Mahomed darf nicht scheitern, weil er sich der göttlichen Ordnung fügt. Dies deutet auf ein düsteres Bild der Handlungsfähigkeit des Menschen hin. Ob so etwas wie Autonomie überhaupt existiert? Die Frage danach ist ein beliebtes Thema bei Günderrode.

Synkretistische, pantheistische Religion

Inwiefern interessiert sich Günderrode für den Islam? Ihre Dichtung ist gekennzeichnet durch ein Interesse für ferne Kulturen, vor allem aus dem Orient. Und so versucht Günderrode, sich das Fremde anzueignen als literarischen Stoff, aber in Mahomed universalisiert sie das Fremde gleichzeitig. Diese Verfahrensweise lässt sich gut mit dem von Edward Said übernommenen Begriff von »sympathetischer Identifikation«7Said, Edward W.: Orientalism: Western Conceptions of the Orient. New York 1978, S. 118. verknüpfen: eine Vorstellung, die aus dem Historismus des 18. Jahrhunderts hervorgeht: Durch einen Akt der Einfühlung kann man sich – von den eigenen Vorurteilen befreit – einer fremden Kultur annähern. Hier ist der Begriff Sympathie angemessen, weil eine esoterisch anmutende Vorstellung von Sympathie auch als geistiger Mechanismus, der alles mit allem verbindet, bei Günderrode zu finden ist, wie auch bei dem jüngeren Goethe und Wieland.

Der Islam dient also bei Günderrode als Projektionsfläche für eine universelle Religion. Dahinter verbirgt sich eine Art von spinozistischem Pantheismus – die Vorstellung, dass Gott und die Natur gleichzusetzen sind. Wie Heinrich Heine in Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834) überspitzt behauptete, war der Spinozismus die geheime Religion Deutschlands im romantischen Zeitalter. In Günderrode findet man tatsächlich – neben Novalis, Friedrich Schlegel, dem jungen Goethe, und Hölderlin – eine bedeutende Vertreterin des Pantheismus. Dazu geht Günderrode auch synkretistisch vor, das heißt, sie vermischt verschiedene Religionen und philosophische Anschauungen. Im Islam schlägt sich der reine Kern der universellen Religion nieder, eine Art von philosophia perennis, also eine immerwährende Philosophie, die ewige Wahrheiten ausdrückt. Der Islam gilt als die letzte der drei westlichen Monotheismen und deren Vollendung zugleich, als eine Erscheinung der einzigen ursprünglichen Offenbarung, die sämtliche religiöse und spirituelle Traditionen prägt.

Zwischen Verherrlichung und Enttäuschung

Mahomed erscheint im Zusammenhang mit anderen Günderrode᾽schen Texten fast als Nachfolger eines verherrlichten Helden: Napoleon. Verwunderlich scheint es, die Figur des Mahomed überhaupt damit in Verbindung zu setzen. Wie viele im deutschsprachigen Raum begrüßte Günderrode zur Jahrhundertwende den Siegeszug Napoleons durch Ägypten als die Vollendung revolutionärer und als Weiterführung aufklärerischer, wissenschaftlicher Ideale. Im Gedicht Buonaparte in Ägypten (1799/1800) wird der mythisierte Bonaparte als Herrscher, Befreier und Hoffnungsträger zugleich verklärend dargestellt.

Mit dieser Verherrlichung Bonapartes hielt es sich nicht lange: Bei Günderrode findet eine Abkehr von Napoleon einen literarischen Ausdruck in dem Gedicht Der Franke in Egypten (1804), wo der Franke – also Napoleon – auf faustische Weise mit der Nichtigkeit der eigenen militärischen und wissenschaftlichen Leistungen hadert. Es stellt sich heraus, dass diese Napoleon-Figur sich nur nach der wahren Liebe sehnt – und bekommt ihr happy end. Somit wird der ehemalige Weltbefreier banalisiert. Ein schreckliches Los: durch diesen metaphorischen Sturz der einst vergöttlichten Figur zeigt sich die Enttäuschung der literarischen Intelligenz über die Herrschsucht Napoleons.

Der Vergleich ist für das merkwürdige Ende des Mahomed erhellend. Nach seinem Siegeszug in Mekka als Friedensfürst hält Mahomed eine Triumphrede, in der er die Eroberung von Arabien durch Nordafrika prophezeit. Das Ende wird zu einem Moment der Vorausschau. Auch wenn es Mahomed gelänge, Arabien und Nordafrika zu erobern, geschähe ein militärischer Sieg wohl auf Kosten des Idealismus. Mahomed könnte selbst in die Napoleon-Falle tappen – und sich als grundsätzliche Enttäuschung entpuppen. Das utopische Versprechen einer religiösen Erneuerung, wie sehr es auch erhofft wäre, darf letzten Endes nicht in Erfüllung gehen.

Wieso Günderrode? Zum Schluss ein Plädoyer

In Günderrode findet man eine geistige und dichterisch anspruchsvolle Vertreterin der Frühromantik, deren Lyrik, Prosa und Dramen durch Schönheit und philosophische Tiefgründigkeit überzeugen. Schon Jahre vor Alexander von Humboldts bekanntem Grundsatz »Alles ist Wechselwirkung« greift Günderrode im gesamten Werk immer wieder auf eine pantheistisch gefärbte Weltauffassung zurück, in der nichts für sich steht, sondern alles ineinander verwoben ist und sich ständig in Bewegung befindet. Der Mensch ist der vergötterten Natur untertan. Im Zeitalter des ökologischen Denkens sind solche pantheistischen und naturphilosophischen Äußerungen noch von besonderer Relevanz.

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