Am ersten von zwei Abenden der diesjährigen Poetikvorlesungen am 6. und 7. Februar, organisiert vom Literarischen Zentrum und dem Seminar für Deutsche Philologie der Universität Göttingen, spricht Ulrike Draesner über das Scheitern im Schreiben. Die renommierte Autorin springt von Gedankeninsel zu Gedankeninsel, überlegt, wie Schreiben eigentlich abläuft und welche Möglichkeiten der Literatur innewohnen.
Von Frederik Eicks
Bild: Anina Karch
Autor:innen, die Bühnen betreten: Das ist im Grunde ein performatives Genre für sich, neben Gängen über rote Teppiche, der Dankesrede, dem Zeitungsinterview und natürlich dem klassischen Vorlesen. Bevor das aber passiert, gibt es ein kurzes Willkommen von Anna-Lena Markus aus dem Literarischen Zentrum und eine Laudatio von der Literaturkritikerin Insa Wilke. Wie Ulrike Draesner dann am 6. Februar hinter das Rednerpult der Paulinerkirche tritt, das nimmt das Folgende auf gewisse Weise vorweg, setting the tone würde man anderswo sagen, würde vielleicht auch Draesner sagen, die in ihren Werken und auch an diesem Abend ständig Akzente setzt durch englische Vokabeln und Begriffe.
Draesner betritt also die Bühne. Sie strahlt schiere Ruhe aus und warme, das Publikum sofort gewinnende Freundlichkeit. Sie bedankt sich bei ihrer Laudatorin, mit der sie per Du ist (und die auch nicht zum ersten Mal eine Laudatio auf Draesner hält). Man merkt es gar nicht so recht, aber Draesner ist schon längst dabei in einen Vortrag einzuführen, der einerseits extrem dicht und bisweilen überwältigend in seiner Gedankenfülle sein wird. Er hat andererseits aber auch eine für eine Poetikvorlesung angenehm klare und vor allem auch klar kommunizierte Struktur, die beim Hören Halt bietet.
Unterwegs im Archipel
Die Romanautorin, Lyrikerin, Essayistin erklärt also, dass sie darüber nachdenken wolle, wie Texte entstünden, dass »ich mir ein Herz fasse und von meinem Scheitern erzähle«. Wieso eigentlich Scheitern? Draesner spricht gleich zu Beginn eben auch von den »Grenzen der Ausdrückbarkeit«, an denen sie sich entlangschreibe – irgendwie logisch, dass man irgendwo an dieser Grenze scheitert, wenn das Werkzeug der Wahl die Sprache, der Ausdruck par excellence, ist. Anfangs auch gleich die erste Reflexion des Titels dieser Vorlesungen, Sich ein Herz fassen, den man ruhig ernst (wenn auch nicht wörtlich) nehmen kann: Nicht nur erzählt Draesner vom eigenen Scheitern, sie macht sich durch ihre tiefpersönlichen Kindheitsanekdoten, um die es unten gehen wird, und generelle Aufrichtigkeit äußerst verletzlich. Die Poetikvorlesung wird zu einer Übung in Mut, bei der die Schriftstellerin sich selbst beweisen muss.
Bevor man sich mit Draesner im Haupt- – oder Herz-? – Teil in mal abrupten, mal fließenden und immer mühelosen Gedankenbewegungen von Insel zu Insel begibt, erläutert sie, was es mit diesen Inseln auf sich hat: Ihr Vortrag habe die Struktur eines Archipels, mehrere dicht beieinanderliegende Inseln, die jedoch unter dem Meerwasser verbunden sind. Trotz ihrer isolierten Inselhaftigkeit gehören die einzelnen Vortragsteile also untrennbar zusammen, so die Suggestion, obwohl die Verbindung vielleicht nicht immer offenkundig ist.
Ohne KI geht’s wohl nicht
Sie illustriert ihre Archipel-Metapher mit einem KI-generierten Bild. Kleine Sticheleien in Richtung sogenannter ›künstlicher Intelligenz‹, die natürlich keine Intelligenz ist, gibt es hier und da. Warum es an diesem Abend überhaupt (auch) um KI gehen muss, wird aber nicht so richtig deutlich. Das Thema nimmt am zweiten Abend sogar noch mehr Raum ein. Wie Draesner KI für ihren Vortrag nutzt, davon erzählt und die längst bekannten Unzulänglichkeiten dieser Technologie aufdeckt – das Ganze wirkt im Vergleich zum restlichen Vortrag überraschend unreflektiert und zurückgezogen auf eine rein künstlerische Perspektive, mit der man dem Phänomen nicht gerecht wird.
Vielmehr sollte man darüber sprechen, dass diese Technologie derart ressourcenintensiv ist, dass sie sich nur durch immer wieder neu eingeworbenes Venture-Kapital halten kann. Oder dass einige Expert:innen hier schon die nächste Börsenblase im Platzen begriffen sehen. Draesner hingegen geht der Erzählung auf den Leim, der KI-Vormarsch sei unausweichlich. Aber wer erzählt denn diese Geschichte? Die Silicon-Valley-Techbros, die uns ihr Produkt andrehen wollen. Welchen tatsächlichen Nutzen hat KI schon – vielleicht gar keinen? Dafür liefert Draesner unabsichtlich Indizien, denn die KI-Elemente ihres Vortrags sind bloß fade Spielerei, der man nichts abgewinnen kann. Erfrischend wäre, einfach mal nicht drüber zu reden, nur weil alle anderen das machen.
Den ersten Wegpunkt auf der Inseltour markiert die »Stummheit«… … … ja, das ist die Pause, einige sehr lange Sekunden lang, die Draesner an dieser Stelle geschickt einsetzt. Das ist kein billiger Effekt à la ›Stummheit = Ich schweige, verstehste?‹ Auch hier settet sie performativ den tone, denn von ihrer lockeren Heiterkeit, die ihren Vortrag ausgesprochen unterhaltsam macht, lässt sie für einige Minuten ab. Es geht um Verteufelung durch die gesellschaftliche Umgebung, in der Draesner aufwächst: mitunter dafür, Mädchen zu sein, eine »Büchse«, wie man dort sagt, und zu allem Überfluss auch noch außergewöhnlich klug und begabt. Draesner habe als Kind einen selektiven Mutismus entwickelt – die Stummheit. Im Spielzimmer, aufgrund finanzieller Nöte kahl und leer, habe sie dann begonnen, ihre Fantasie sprießen zu lassen.
Der Körper als Büchse
Später sei ihre literarische Sprache zunächst das Englische gewesen, sie sei in diese andere Sprache geflohen und hätte dort die Frauenstimmen gefunden, Woolf und Austen beispielsweise, die ihr im Deutschen fehlten. Die deutsche Sprache klang nach »Büchse«, heißt: nach Patriarchat, nach Unterdrückung. Auch wenn Draesner selbst diese Erfahrungen nicht in politische Vokabeln verpackt, ist die feministisch-politische Dimension, die als Unterstrom den ganzen Vortrag durchzieht, doch deutlich spürbar in ihrem Ausdruck über die Körperlichkeit. Der Körper, auch der wird wichtig an diesem Abend.
Ein harter Bruch befördert alle im Saal Anwesenden auf die nächste Insel. Draesners Stil, bis hierher typisch essayistisch in seinen assoziativen gedanklichen Verknüpfungen und seiner sprachlichen Akrobatik, wird prosaisch, ihre Stimme ist die Erzähl- und Vorlesestimme einer Autorin, die aus ihrem Roman liest. Stimmungsvoll und mit wenigen gekonnten Pinselstrichen zeichnet uns Draesner das Bild einer Urlaubsinsel, eines Hauses auf dieser Insel, in der sich die Schreibende befindet. Plötzlich habe da ein junger, gutaussehender Mann im Wohnzimmer gesessen, eine männliche Muse, oder wie die Erzählerin sagt: ein Muserich. Mit diesem kommt sie ins Gespräch darüber, wie ein Text entstehe, wie die Schreibideen eine:n überkommen. Der Twist: Es gebe diese großen schöpferischen Momente gar nicht, daher sei der Muserich nur noch als Berater tätig, der Leuten einrede, dass sie Einfälle hätten. Er sei »Einfallseinfaller«.
Humor hält die Leute bei Laune
Draesner schreitet eine Reihe literarischer Vorbilder wie Dante oder Elke Erb ab, deren Zitate sie dankenswerterweise auch auf der mitlaufenden Präsentation zeigt, was dem Publikum das Nachvollziehen ihrer wendigen Gedanken erleichtert. Einen kleinen Scherz erlaubt sich Draesner als sie ausgehend von diesen Texten Anschluss zu ihrem eigenen Schreiben sucht und aus ihrem hochkomplexen Langgedicht doggerland (2021) zitiert. Als Quellenangabe präsentiert die promovierte Mediävistin auf der Folie: »DU, doggerland«. Immer wieder lockert Draesner mit ihrem ungezwungenen Humor den kompakten Vortrag auf. Ihre Gewitztheit ist programmatisch: »Sie wollen sich hier nicht langweilen – ich auch nicht.« Selbst wenn es schwer wird zu folgen, kann man sich immer noch hervorragend von ihr unterhalten lassen. Draesners poetologische Reflexionen laden gleichermaßen zum Mitdenken ein wie auch zum Zurücklehnen und Genießen.
Diese Abwechslung ist auch nötig, denn Draesners sowohl abstrakte als auch unglaublich kreativ präsentierte Ausführungen bis ins Letzte nachvollziehen, das scheint weder möglich noch beabsichtigt. Die zu Beginn noch so konturierten Eindrücke beginnen ineinander zu laufen. Ein erneuter Bruch – wenigstens die sind noch gut erkennbar – und die nächste Insel bringt mit Samuel Becketts berüchtigtem Diktum des »Fail better« wieder das Scheitern auf den Plan, wie auch die im weiteren Verlauf zentralen Motive von Körper und Raum. Schnell springt Draesner diesmal aber weiter und gewährt einen angenehm unverstellten und direkten Einblick in ihre Schreibwerkstatt und den Entstehungsprozess ihres Romans Sieben Sprünge vom Rand der Welt (2014).
Space: The Final Frontier
Das Betreten der »letzten Insel für heute« ist im Gegensatz zu den anderen Übergängen keine Hals-über-Kopf-Teleportation, kein Bruch mehr. Der Übergang ist wörtlich: ein Hinübergehen, Schritt für Schritt betritt Draesner das letzte Eiland, das sie »Space Writing« tauft. Wer dabei an Asteroiden, Supernovae und interstellare Raumfahrt denkt, liegt daneben. Es geht um den Raum an sich, den wir uns seit der Neuzeit als ungeteiltes, höchstens eingeteiltes Kontinuum vorstellen würden. Hieran schließt Draesner »dringliche« Fragen der Körperlichkeit an und kommt zu dem Schluss: »Körper sind Lebensräume.« Sie deutet hier auch den Körper als Politikum an, widmet sich dann aber ganz den Übereinstimmungen von Körper- und Raumkonzepten, die für ihr Schreiben so wichtig sind.
Das Schreckwort »Transzendenz« taucht auch noch irgendwo auf: Obwohl Draesner das Abstraktionsniveau gegen Ende in schwindelerregende Höhen schraubt, in die man sich als Zuhörende nach knapp anderthalb Stunden geballter Poetologie nur schwerlich noch mit hinaufschwingen kann, ist über den gesamten Vortrag deutlich zu spüren, dass es ihr bei aller Leicht- und Luftigkeit ernst ist: Das Ganze geht ihr nah, denn was sie unter anderem zum Körper in der Literatur zu sagen hat, ist auch ihr eigener Körper. Interesse daran, die Zuhörerschaft aufs Glatteis zu führen oder die Hintergründe ihrer Literatur zu verdunkeln, hat Draesner sichtlich nicht. Mit mitreißender Sprachfreude, lässiger Jonglage unterschiedlicher Textsorten und einer Performance, die sich wie der Text immer wieder wandelt, begeistert Draesner an diesem Abend. ›Menschlich‹ – dieses Wort wird leider inflationär und in so unterschiedlichen Kontexten gebraucht, dass es oft wie eine leere Hülse scheint. Aber menschlich ist, was ihr Auftreten und ihr Sprechen am besten charakterisiert: Da steht eine Frau mit ihren Gedanken, sonst nichts.
Frederik Eicks war von April 2020 bis Oktober 2021 Volontär im Literarischen Zentrum und studiert am Seminar für Deutsche Philologie.