Triggerwarnung: Erwähnung von sexueller Gewalt und Mord
Das Göttinger DT spielt Dea Lohers pechschwarzes Drama Das Leben auf der Praça Roosevelt, ein Stück, das von der Lebenswelt der Überflüssigen erzählt. Hauen und Stechen ist hier an der Tagesordnung; den einzigen Trost bietet Galgenhumor.
Von Stefan Walfort
Bilder: Thomas Aurin
Von der Decke hängen sieben Kreuze, eins mit dem Kopf nach unten. Der Krach einer verzerrten Gitarre zerschneidet die Luft. Hektisch atmend tritt Roman Majewski als Hans, wie er sich vorstellt, in die Bühnenmitte; das Figurenverzeichnis weist ihn als »Mann mit Anzug, Koffer, Handy« aus. Er wendet sich ans Publikum, klagt sein Leid: Ohne Kohle sei er auf dem Weg zur Beerdigung seines Vaters. Hans erscheint seine Lage ausweglos. Sein einziger Besitz: ein Feinripphemd, das am dürren Leib klebt, eine Trainingshose, die um die Beine schlackert, ein Handy, ein Rollkoffer und ein Anzug. Im Kopf nur die eine am Selbstvertrauen nagende Frage – verzweifelt keift er sie den Zuschauer*innen entgegen: »Wie soll das gehen?«
Hans ist nur eine von vielen Figuren in Das Leben auf der Praça Roosevelt, die das Leben um das kleinste bisschen Glück betrogen hat. Ihre Nöte sind existenziell; niemand jammert hier auf hohem Niveau.
Ohne Anzug wäre die Sache mit der neuen Anstellung natürlich auch Essig – an Hans lässt sich beispielhaft studieren, welchen Rattenschwanz es nach sich ziehen kann, arbeitslos zu sein.
Alle haben ihr Kreuz zu tragen
Nur unwesentlich besser ergeht es Concha (Andrea Strube). Sie hat wenigstens noch ihren Job, als Sekretärin in einer Waffenfabrik. Doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis Vito (Christoph Türkay) sämtliche Arbeiter*innen auf die Straße setzt. Bis dahin übt er sich Concha gegenüber in Zynismus:
Wie er da sitzt in seinem weißen Hemd und einem Rautenpullunder, auf der Nase eine Hornbrille, adrett wie Schwiegermutters Liebling, wirkt er zunächst durch und durch konformistisch, blind für das, was sein Unwille zur kritischen Reflexion letztlich anrichtet. Später hingegen zeigt sich, dass weniger – wie man annehmen könnte – ein Kosten-Nutzen-Kalkül hinter dem Plan steckt, die Werktore zu schließen, als ein Schlüsselereignis, das Vito dazu brachte, klarzusehen: Er beobachtete den Polizisten Mirador, wie er »auf einen minderjährigen Jungen gezielt [hatte]. Ob er ein Dealer oder ein Polizist ist, vollkommen egal. Er trug meine Waffe, ich hatte sie hergestellt. Meine Arbeiter. Er hätte den Jungen töten können, und es wäre mein Mord gewesen«, so gesteht er der Zahlenansagerin einer Spielhalle mit dem Kosenamen Bingo (Judith Strößenreuter). In sie verliebt er sich zusehends.
Auch sie hat ihr Kreuz zu tragen; die Spielhalle wird demnächst schließen. Hatte Bingo einst noch an allerlei Zukunfsträume geglaubt, so bleibt ihr jetzt nur noch das Gefühl, »irgendwann eine Abzweigung verpaßt« zu haben; »jetzt findet [i]hr richtiges Leben ohne [s]ie statt«. Und dann gibt es da noch Conchas beste Freundin, die transsexuelle Aurora. Als Gerd Zinck in dieser Rolle von einer Vergewaltigung erzählt, die er als Junge erlebt habe, und sich so gut es geht mit Sarkasmus über den Gewaltakt hinwegtröstet, sich einredet, einen Nutzen davon gehabt zu haben, weil er seitdem gelernt habe, Freier ordentlich blechen zu lassen, ist das der traurigste Part in einem pechschwarzen Stück. Und doch erfährt man im weiteren Verlauf sukzessive noch von zusätzlichen Schicksalsschlägen, von denen kaum jemand verschont bleibt.
Von Solidarität keine Spur
Gerahmt wird das Ganze von der Lebensgeschichte Miradors (Paul Wenning). Er selbst liegt im Koma, sein Sohn starb infolge einer Fehde mit der Drogenmafia. In der Rolle der Gattin Miradors tritt Angelika Fornell an das Krankenbett ihres Mannes. Offenbar trägt sie ihr Brautkleid – ein selbstgenähtes, wie man später erfährt. Hin- und hergerissen zwischen Verzweiflung und Verständnis ringt sie mit Vorwürfen an ihn. Das rollbare und flexibel zusammenklappbare Bettgestell wird zeitweilig zur Waage zwischen ihrer Position und der seinigen; Wenning selbst tritt mit schwarzem Rollkragenpullover auf und erzählt in Rückblenden via Publikumsansprache, wie das alles kam mit dem Hinabgleiten des Sohnes ins kriminelle Milieu.
Ort der Handlung ist eigentlich ein sozialer Brennpunkt in São Paolo, doch die Betonteile, die auf der Bühne vom Niedergang zeugen, der alles überformt, könnten genauso gut überall her stammen. Gedemütigte wie Hans, Aurora, Concha, Bingo und wie sie nicht alle heißen wirft der Kapitalismus quasi im Sekundentakt aus – rund um den Globus. Das Leben auf der Praça Roosevelt gibt ihnen ein Gesicht und verortet sich selbst somit in einer Tradition politisch engagierter Literatur. In einer Studie über Das Theater von Dea Loher rückt Birgit Haas das Stück im Speziellen in die Nähe von Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz und Dea Loher im Allgemeinen unter anderem an Bertolt Brecht, Ödön von Horváth und Heiner Müller heran, hebt dabei jedoch »eine kritische Distanz zu jeglicher Ideologie« hervor, auch zu kommunistischer.
In Das Leben auf der Praça Roosevelt begegnen einem nicht etwa Kämpfer*innen, die sich klassenbewusst in Kollektive einreihen. Vielmehr sieht man von neoliberalen Leistungspostulaten übers Ohr gehauene Vereinzelte, hilflos im Regen stehengelassen. Jede*r ist mit sich und dem Wissen, überflüssig zu sein, allein. Von Solidarität bleibt kaum eine Spur. Im Gegenteil, ganz unten sind die Ellenbogen besonders angespitzt. Es herrscht ein Hauen und Stechen sondergleichen. Die Opfer wissen keinen Ausweg, außer sich in Galgenhumor zu flüchten.
Bettelarm durchs Leben
Dea Loher schrieb das Stück 2004 für die Biennale in São Paulo. Im gleichen Jahr erfolgte die Uraufführung am Hamburger Thalia Theater. Danach war es in Brasilien an diversen Standorten und 2012 in Bremen zu sehen. Am Göttinger DT inszeniert man nun nicht zum ersten Mal ein Stück der Autorin; 2013 gab Wojtek Klemm dort mit Am Schwarzen See ein Stück über den Suizid zweier Teenager, 2015 Mark Zurmühle das vergleichsweise häufig gespielte Fremdes Haus, ein Stück über die Familie eines jugoslawischen Regimekritikers. Letztere Inszenierung war damals eher einfallslos: dem Publikum wurde vor allem etwas vorgeraucht – unvergessen bleibt, wie Florian Eppinger ein ganzes Paket an Zigaretten auf einmal wegqualmte. Diesmal, bei Das Leben auf der Praça Roosevelt, ist Abwechslungsreichtum angesagt: Während eine Drehbühne ausdrucksstarke Kulissen ins Blickfeld der Zuschauer*innen fährt, kämpfen die Figuren gegen die Trostlosigkeit an und klammern sich an jede noch so flüchtige Hoffnung.
Dabei hat sich das Team um den Regisseur Aurelius Śmigel und den DT-Chefredakteur Matthias Heid für direkte Ansprachen der Zuschauer*innen als besonders dominierendes dramatisches Mittel entschieden. Damit appelliert die Inszenierung einerseits emphatisch daran, sich in das Elend der Figuren hineinzufühlen. Andererseits gibt es Momente, die genau das untergraben (Brecht lässt grüßen). Zum Beispiel reckt Majewski in der Rolle des Hans dem Publikum den Stinkefinger entgegen, bevor er von der Bühne abgeht. Zu Recht? Lachen die relaxt im Polster Versinkenden über seine abgewrackte und tollpatschig wirkende Erscheinung, weil sie eher niemals in die Verlegenheit geraten werden, selbst bettelarm durchs Leben gehen zu müssen? Das nahezulegen und gleichzeitig in der Schwebe zu halten, auf eindeutige Schuldzuweisungen zu verzichten und Moralinsäure eher sparsam einzusetzen, macht die Inszenierung zu einer besonders reizvollen.