Vom Lagerfeuerplausch zur Instastory

Das Autor:innenteam Samira El Ouassil und Friedemann Karig – ein multitalentiertes Duo, das im Podcast Piratensender Powerplay das Weltgeschehen in scharfsinnigen und sprachgewaltigen Analysen wöchentlich pointiert zusammenfasst – führt durch eine außergewöhnliche »Heldenreise« der Menschheitsgeschichte(n).

Von Mareike Röhricht

Bild: Via Pixabay, CC0

Das Autor:innenteam Samira El Ouassil und Friedemann Karig – ein multitalentiertes Duo, das im gemeinsamen Podcast Piratensender Powerplay das Weltgeschehen in scharfsinnigen und sprachgewaltigen Analysen allwöchentlich pointiert zusammenfasst – entführt die Leser:innen ihres Sachbuchs Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien. Wie Geschichten unser Leben bestimmen im akademischen Plauderton auf eine außergewöhnliche »Heldenreise« der Menschheitsgeschichte(n):

Unsere epische Entwicklung als Spezies stellt uns vor die größte Herausforderung unserer Geschichte: die fortschreitende Zerstörung unserer Lebensgrundlage. So weit die schlechte Nachricht. Die gute lautet: Wie in jeder Heldenreise ist die Lösung dieses Problems längst in uns angelegt.

Anschaulich und unterhaltsam vermitteln sie, wie Geschichte und Geschichten entstehen, fragen nach deren Wirkmacht und den damit verbundenen Chancen und Errungenschaften sowie Risiken und Nebenwirkungen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Bemerkenswert sind nicht nur die Bandbreite der zur Veranschaulichung versammelten Kulturgüter von Alice im Wunderland und Aschenputtel über Illias und King Kong bis hin zu Welt in Angst und You Me Her, sondern auch die Vielfalt der Forschungsdisziplinen, die die Autor:innen in ihrem Werk hinzuziehen. In den ersten Kapiteln lernen die Leser:innen nicht nur diverse erzähltheoretische Ansätze kennen, sondern auch, was es mit Noam Chomskys Idee einer Universalgrammatik auf sich hat und was im Gehirn passiert, während wir mittels verschiedener Medien in Erzählungen abtauchen. Schnell wird klar – da passiert eine ganze Menge. Und den geneigten Leser:innen dämmert allmählich, dass der Modus des Erzählens sich wohl weder ohne Grund noch ohne Konsequenzen derart etablieren konnte, denn: »Der Stamm mit den besseren Geschichten hatte bessere Überlebenschancen.« Diente das Erzählen von Geschichten am Lagerfeuer in grauer Vorzeit vor allem der mnemotechnisch komfortablen Weitergabe überlebenswichtiger Informationen, so avancierte es im Laufe der Zeit zum Motor für die Ausbildung kollektiver Selbstverständnisse und individueller Identitäten. Und es scheint, dass Geschichten heute, im digitalisierten Anthropozän, mehr denn je wegweisend auf das Weltgeschehen einwirken – global und im Leben jedes:r Einzelnen!

Einladung zum Brillenwechsel

Die Ausführungen zu Erzählungen als sozialem Kitt und ihrer Bedeutung für die Gestaltung des individuellen Lebens und des Miteinanders erinnern an Yuval Noah Hararis Eine kurze Geschichte der Menschheit. Harrari verweist auf die These der kognitiven Revolution, der zufolge die Entwicklung neuer Denk- und Kommunikationsformen entscheidend für die Durchsetzung des Homo sapiens gegenüber den Neandertalern war. El Ouassil und Karig spitzen die These zu: Weil der Mensch »sich von allen anderen Lebewesen dadurch unterscheidet, dass er seinen Sprechapparat nutzt, um zu erzählen«, sei es treffender, ihn fortan als Homo narrans – den erzählenden Menschen – und nicht länger als Homo sapiens – den klugen Menschen – zu bezeichnen.

Mit Blick auf gegenwärtige Entwicklungen wird das Buch spannender, sobald Theorien der Postmoderne eingebunden werden. Die hinter den identitätsstiftenden Narrativen stehenden psychologischen Prozesse bekommen eine neue Dimension gesellschaftspolitischer und wirtschaftlicher Wirksamkeit, wenn mit Andreas Reckwitz, Eva Illouz, Georg Franck und Jean-François Lyotard Analysen aus ganz verschiedenen Perspektiven vorgenommen und kombiniert werden. Allmählich wird greifbar, wie Erzählungen durch ihre psychologische Wirkung gestalterische Wirkmacht erlangen: Würden wir anders erzählen, würde die Liebe womöglich nicht kapitalisiert, wäre Aufmerksamkeit ein weniger durchökonomisiertes Gut, fänden wir vielleicht eher einen Weg, mit dem Ende der großen Erzählungen umzugehen. Scheinbar können wir gar nicht anders, als die neuen Medien zur Selbstinszenierung und Selbstoptimierung zu gebrauchen…

Beeindruckend ist die interkulturelle Perspektive, die El Ouassil und Karig eröffnen, wenn sie die Wechselwirkungen zwischen lokaler Umwelt und Lebensweisen erklären und aufzeigen, wie daraus Wertvorstellungen oder Denkmuster und Handeln erwachsen. Schon 1946 offenbarte Erich Auerbach in Mimesis, das leider unerwähnt bleibt, wie sich Wirklichkeitskonzepte und kulturelle Differenzen in der Literatur, im Erzählen niederschlagen. Die Autor:innen gehen einen Schritt weiter, indem sie die schwerwiegenden Folgen skizzieren, die daraus für individuelles und kollektives Handeln im privaten wie im öffentlichen Raum resultieren. Die ambivalente Kraft von Worten wird am Beispiel des ehelichen Ja-Worts und dem Begriff der ›Rasse‹ verdeutlicht. Sprachsensibel tragen die Autor:innen Problematiken wie dieser im eigenen Schreiben Rechnung. Am Beispiel des Antisemitismus wird erklärt, wie abstruse Behauptungen effektvoll erzählt seit jeher verhängnisvolle Wirkmacht erlangen können. Sie decken auf, was die Verschwörungstheorien rund um den Globus gemeinsam haben und erläutern, wie diese durch Algorithmen das Netz unterwandern:

Der Einstieg in Verschwörungsmythen ist heute nicht nur deutlich niedrigschwelliger, sondern auch popkultureller aufgeladen und reizvoller; es erscheint spannend, sich auf diese faschistoiden Narrative einzulassen. Wie in einem Computerspiel kann man ein Rätsel lösen.

Die großen gesellschaftspolitischen Themenfelder unserer Zeit werden in ihrer Genese, besonders hinsichtlich ihrer narratologischen Gemachtheit, in einzelnen Kapiteln erhellt. So werden zum Beispiel das Scheitern der Klimarettungsbestrebungen und die anhaltende Misogynie durch Erzähltraditionen aus der Bibel und antiken Mythen erklärt, bevor das von Einzelkämpfertum geprägte Format der Heldenreise von dem der Heldinnenreise, in der Herausforderungen gemeinschaftlich gelöst werden, differenziert und so ein plot twist eingeleitet wird.

500 Seiten Sachbuch – 500 Seiten gelungene Unterhaltung

Mit viel Sprachgefühl und Humor vermitteln El Ouassil und Karig anhand diverser Evergreens der Popkultur Grundlagen verschiedenster Fachdisziplinen – von der Narratologie über Rhetorik und Sprachphilosophie bis hin zur Kognitionslinguistik. Sie erläutern, wie historische und gegenwärtige gesellschaftspolitische Entwicklungen und Ereignisse in ihrer Wirkmacht von der Art und Weise, über sie zu sprechen und zu denken, abhängen. In poststrukturalistischer Manier werden Geschichten zerlegt, Narrative freigelegt, und Möglichkeiten zu neuen Erzählweisen und deren Wirkmacht erfragt. Erzählende Affen ist gleichzeitig ein fundierter Crashkurs in Sachen Medienkompetenz und ein Kompendium für politische Bildung.

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Samira El Ouassil, Friedemann Karig
Erzählende Affen

Ullstein: Berlin 2021
528 Seiten, 25,00€

Auf den ersten Blick scheint es, als ob das provokante Finale nur einfordern kann, was zuvor mit Blick auf die anhaltende politische Untätigkeit in Sachen Klimakrise kritisiert wurde: das Engagement von Privatpersonen. Doch verbirgt sich dahinter in diesem Fall kein Narrativ der Ohnmacht, sondern eine Einladung und Anleitung zur demokratieverträglichen Selbstermächtigung durch die bewusste Rezeption und Gestaltung von Erzählungen. Der umfangreiche Fußnotenapparat wird klug genutzt, um Anregungen zum Weiterdenken zu geben und die inhaltliche Vernetzung der Kapitel transparenter zu machen. Dadurch wird auch eine interessengeleitete Lektüre der 500 Seiten möglich.

Dennoch ist, wie Denis Scheck schon anmerkte, ein erneutes Lektorat vor der Neuauflage zu empfehlen. Unter anderem scheint bei der Differenzierung der Begriffe Geschichte, Erzählung und Narrativ – dem Handwerkszeug –etwas durcheinandergelaufen zu sein. An der Richtigkeit der brillanten Schlussfolgerungen über die vielschichtige Macht des Erzählens ändert das zum Glück nichts! Die Autor:innen könnten bei der Gelegenheit überlegen, Hayden Whites literaturwissenschaftlich inspirierte Theorie zur Analyse historischer und somit gesellschafts- und damit identitätspolitisch wirksamer Narrative (wenigstens als Fußnote) in ihr fulminantes Feuerwerk zu integrieren.

Die Lektüre dieser ganz besonderen »Heldenreise« empfiehlt sich unabhängig von Alter, Religion, Gender, politischer Orientierung oder medialen Vorlieben. Das Buch zeigt einerseits gleich einem Prisma, wie sich unsere Weltwahrnehmung und in der Konsequenz Denken und Handeln aus Geschichten und unserem Umgang mit ihnen ergeben und fragt andererseits wiederholt danach, was passieren könnte, wenn die einzelnen Bausteine der Geschichte(n) wie in einem Kaleidoskop endlich anders miteinander kombiniert und anders gelesen werden. Dieses Buch bietet so die großartige Chance, multiperspektivisch wenigstens ein bisschen besser zu begreifen, was die Welt und jede:n Einzelne:n im Innersten zusammenhält. Es ermutigt dazu, das Denken out of the box zu wagen – und davon zu erzählen!

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