Die Historikerin Dagmar Herzog analysiert die Geschichte und Entwicklung der Psychoanalyse in ihrem Buch Cold War Freud. Sie stellt eine stark von außen beeinflusste Disziplin dar, die sich niemals nur auf die Technik der Therapie konzentrierte.
Von Lennart Speck
Bild: Robert Huffstutter: Sigmund Freuds Sofa. (Ausschnitt). Via Wikimedia Commons, CC BY 2.0 DEED
Ob in der Universität als Studium, als Methode in anderen Fächern oder als medizinische Praxis: Die Psychoanalyse prägte das 20. Jahrhundert auf unvorhersehbare Weise, sie war eines der diskursprägenden Phänomene, die diesem und dem letzten Jahrhundert ihren Charakter verliehen. Die Historikerin Dagmar Herzog veröffentlichte 2017 in Cambridge eine Geschichte der Psychoanalyse, die nun auch auf Deutsch vorliegt.
Die Therapie ist gegenwärtig wieder in aller Munde: Mag es daran liegen, dass allerorts zur Reflexion aufgefordert wird, Achtsamkeitsliteratur wie Das Café am Rande der Welt von John Strelecky hohe Verkaufszahlen erzielt oder es zu einer – weiß Freud – Sensibilisierung gegenüber Traumata und Despressionen gekommen ist. Schon 1977 ist an Woody Allens Film Der Stadtneurotiker zu sehen, wie das Thema Therapie in der öffentlichen Wahrnehmung an Geltung gewonnen hat. Doch wie ist das Wissen der Psychoanalyse transformiert worden, seitdem es zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entwickelt und systematisiert wurde? Dieser Frage geht Dagmar Herzog in ihrem Buch Cold War Freud. Psychoanalyse in einem Zeitalter der Katastrophen nach. Die Autorin ist selbst keine Psychoanalytikerin, sondern Professorin in New York. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Geschichte der Sexualität, Gender und Religion, was sich auch in ihrem Buch niederschlägt.
Der in deutscher Übersetzung aus dem Amerikanischen von Aaron Lahl vorliegende Band (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2023) ist ein Gang durch die Denkschulen der Psychoanalyse. Vor allem aber beleuchtet Herzog die amerikanische Psychoanalyse und deren Institutionen. Dabei nimmt sie die diskursiven Verstrickungen, Positionen und Äußerungen von Analytiker:innen in den Blick, die zwischen zwei verschiedenen Polen oszillieren, die im Feld nach der Frage der Aufgabe der Psychoanalyse entstanden sind: Sollte die Psychoanalyse nur für die Analyse von Klient:innen und die theoretische Ausgestaltung des Faches zuständig sein oder sollte sie auch soziale und gesellschaftliche Veränderungen mitdeuten und mitdiskutieren? Eine sich im Buch von Herzog selbst gestellte Mammutaufgabe, die sich durch diskursanalytisches Können mit viel Personal und erzählerischer Geschicklichkeit bewältigen ließe.
Eine Disziplin und ihre Geschichte
Dagmar Herzogs Buch ist in drei Teile und sechs Kapitel unterteilt, in denen sie sich den Motivationen und Transformationen des psychoanalytischen Wissens nähert. Der Titel ist ernst zu nehmen, innerhalb des Kalten Krieges kommt es im Fach wie in der Welt zu »Kalten Kriegen«, also Auseinandersetzungen, die nicht ohne ideologischen Unterbau geführt werden. Herzog setzt sich mit diesen Kriegen auseinander, indem sie mit einem lästigen Vorurteil aufräumt, was schon den Beginn des Buches auch für Laien so attraktiv macht: Die Psychoanalyse ist nicht Teil der Wissenschaften, die in ihrem Elfenbeinturm verharren. Sie ist nicht gefeit vor sozialen und politischen Einflüssen. Dies stellt Herzog dar, indem sie das Ziel verfolgt »jeden Paradigmenwechsel [der Psychoanalyse] in der Komplexität seines historischen Ursprungskontextes zu verorten.«
Sie setzt ihre Rekapitulation in den 1930er Jahren in den USA an und zirkelt von da über die Kriege innerhalb der Psychoanalyse um die Analysegrundlage des menschlichen Geistes zu den homophoben Bestrebungen innerhalb der analytischen Kaste. Sodann untersucht sie die durch den Nationalsozialismus verursachten Traumata, die Entstehung und Rezeption des Begriffs und wie die Analytiker:innen in Europa, den USA und Israel damit umgegangen sind. Im dritten Teil, der sich bis 2017 erstreckt, bleibt nicht unbeachtet, was Auswirkungen auch auf kulturwissenschaftliche Universitätsfächer hatte: Unter dem Label des Poststrukturalismus bekannt gewordene Theorien beschäftigen sich mit den Denkmodellen und Techniken Freuds und interpretieren diese auch als Medien- und Machttheorien um. Natürlich fallen hier die Namen Jacques Lacan, Melanie Klein, Felix Guattari und Gilles Deleuze.
Antisemitische und homophobe Erbschaften
Für eine:n Nicht-Psychoanalytiker:in ergeben sich bemerkenswerte Erkenntnisse aus den Erklärungen und Beschreibungen der Geschichte der Psychoanalyse. So zeigen sich die Verstrickungen innerhalb des Faches mit der Religion und dem religiösen Hintergrund der Theorie selbst: Herzog deckt auf, wie mit antisemitischen Tendenzen die Gedanken Freuds christianisiert wurden und durch emotionale Diskurse selbst die Rezeption in den USA religiös motiviert ist.
Diese gelungene Darstellung verbindet – wie von Herzog gewollt – kontraintuitive Ereignisse, dass zum Beispiel Papst PiusXII. die Therapie nicht nur negativ sah, wie viele andere Theologen, mit der internen Logik des psychoanalytischen Diskurses und brilliert mit einer sozialen und politischen Einordnung. Vom Urvater Freud nicht so gesehen, zeigen sich im Fach homophobe Äußerungen, die ein dunkles Kapitel der Geistes- und Politikgeschichte in den USA wie in Europa offenbaren:
»Von Baltimore, New York und Boston über Chicago und Topeka nach Los Angeles herrschte trotz anhaltend heftiger Kontroversen über die psychoanalytische Theorie und Technik eine bemerkenswerte Einigkeit darin, dass Homosexuelle gestört seien und geheilt werden müssten – das heißt, dass sie in der Tat als jene ›abgetrennte‹ Kategorie von Menschen aufgefasst wurden, von der Sigmund Freud nachdrücklich behauptet hatte, dass sie es nicht seien.«
Darauf antwortete mit außerordentlicher Kraft die sexuelle Revolution .
Der zweite Teil sollte angesichts des Erstarkens rechter Ideologien auf der Welt und in Deutschland aufmerksam verfolgt werden, da es in ihm um persistierende Elemente der faschistischen Ideologie des Nationalsozialismus geht. Hier stellt Herzog die Geschichte des Faches anhand der Auseinandersetzung innerhalb der Disziplin um die Etablierung der psychoanalytischen (Behandlungs-)Kategorie von PTBS – Posttraumatische Belastungsstörung – dar. Nach dem zweiten Weltkrieg und der Shoah gab es in Westdeutschland unter Bundeskanzler Konrad Adenauer ein Gesetz, welches Opfern der Shoah Renten zusprach. Doch, wie Herzog auf bald 80 Seiten darstellt, war der Diskurs um diese Renten harsch im Ton und vor allem von Seiten der ablehnenden Ärzte und Politiker zum Teil antisemitisch und rassistisch. Bei der Darstellung dieses Diskurses verzichtet die Autorin berechtigterweise auf eine wertfreie Distanz und bezieht Stellung, öffnet der Bericht doch ein Fenster in die Geschichte der Nachkriegszeit und die »Erbschaften des Nationalsozialismus«, so der Titel des zweiten Teils. Die behandelnden Ärzte wollten die psychischen Schmerzen nicht auf die Shoah zurückgeführt wissen, und auch Politiker stellten Fragen wie: »›Ist es richtig, daß die durch das Wiedergutmachungsgesetz Betreuten in zahlreichen Fällen besser gestellt sind, als wenn sie niemals verfolgt worden wären?‹«
Kriegin der Welt und Kriege im Fach
Herzogs anspruchsvoll geschriebener Studie lässt sich epistemisch einiges abgewinnen. Die Kulturgeschichte eines Faches ist niemals nur die Kulturgeschichte der einzelnen Wissenschaft. Vielmehr sind – gerade bei der Psychoanalyse – Gründe für neue Geistesanstrengungen und Wandlungen in der Ausdeutung diskursiv bedingt und vielfältig. Es kann hier nicht mit einer Stimme gesprochen werden, zumal die Psychoanalyse zusätzlich einen so intimen wie persönlichen Bereich abdeckt, der über das eigene Reden innerhalb der Analyse hinausgeht. Das Reden innerhalb der Analyse und die Aussagen, die die Fachdebatten mit ausgestalten, sind immer ein pluralistisches Gewirr aus Stimmen, wo sich bestimmte Deutungen und Ströme durchsetzen. Im Fach, im Diskurs, in der Analyse und in der Interpretation.
Diskurse gestalten den Inhalt und die Geschichte der Disziplin aus und stehen in Wechselwirkungen mit anderen Fächern. So hilft etwa psychoanalytisches Vokabular Methoden in den Sozial- und Geisteswissenschaften auszuarbeiten, die neue Blickwinkel auf die Kultur legen.
Dagmar Herzog
Cold War Freud. Psychoanalyse in einem Zeitalter der Katastrophen
Suhrkamp Verlag: Berlin 2023
380 Seiten, 28,00 €
Cold War Freud löst ein, was es verspricht, legt die Psychoanalyse selbst auf die Couch und lässt sie reden über die Zeit, in der die USA und die Sowjetunion im Krieg miteinander liegen, ohne dass Waffenfeuer zu hören ist. Innerhalb des Kalten Krieges gibt es intradisziplinäre Kriege, die sich niemals erwehren können, die ›Welt draußen zu lassen‹. So zu sehen an dem Kampf zwischen den Neofreudianern und der Ich-Psychologie. Letztere negierten im Vergleich zu Erstgenannten die Verbindung und Zirkulation zwischen gesellschaftlichen Zwängen und der Psyche fast gänzlich.
Sei es die Christianisierung der Psychoanalyse in den USA oder das antisemitische Wettrennen in der jungen Bundesrepublik – beide Themen haben intuitiv nichts mit der Psychoanalyse zu tun, transformieren aber den Gehalt des Faches. Genauso ist hier zu erkennen, dass Denkschulen national geprägte Diskurse führen, die aber international rezipiert werden, die bisweilen eine amorphe Masse ausbilden und so die Themen und Gestalt des Faches verändern. Am Ende gilt: Die Psychoanalyse ist kein einzelnes Fach, was nur in die Niederlassungen von Psycholog:innen oder die Kliniken mit Psychiater:innen gehört, es ist auch ein »Werkzeugkasten für Kulturkritik«, der sich stets verändert. Dieses Buch geht also alle etwas an, die ihrem Werkzeugkasten für Kulturkritik etwas hinzufügen wollen, da es die oben diagnostizierte Mammutaufgabe – die Psychoanalyse und ihre Geschichte auf ihren Standort und ihre Haltung hin zu befragen – meistert.