In Eine Frage der Chemie erzählt Bonnie Garmus vom Kampf einer Frau um ihre Karriere in einer Gesellschaft, in der Frauen in wissenschaftlichen Berufen nahezu unsichtbar und ungewollt sind. Unerwartet muss sie die Rolle der alleinerziehenden Mutter übernehmen. Dabei kann sie sich nur treu blieben, wenn sie den Status quo verändert.
Von Sophie Blomeyer
»Hallo, ich bin Elizabeth Zott, und Sie sind bei Essen um sechs«– so begrüßt Bonnie Garmus‘ Heldin in Eine Frage der Chemie (übersetzt von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel) die Zuschauer:innen ihrer Kochsendung. Ein Job, den Elizabeth Zott notgedrungen annimmt, um sich, Tochter und Hund als alleinerziehende Chemikerin Ende der 50er-Jahre durchzubringen. Ihren früheren Beruf im Forschungslabor verlor sie, sobald ihre Schwangerschaft bekannt war. Doch auch als Moderatorin einer Kochsendung muss sie sich gegenüber einem gesellschaftlichen Rollenbild behaupten, das sie entmündigen und objektivieren will. Zott hält an ihrer Passion zur Wissenschaft und dem Vertrauen in sich fest und inspiriert auf ihrem Weg nicht nur viele andere Figuren, sondern auch die Leser:innen selbst.
Alptraum Arbeitsplatz, Liebe am Arbeitsplatz
Bonnie Garmus
Eine Frage der Chemie
Übers. von Klaus Timmermann, Ulrike Wasel
Piper: München 2022
464 Seiten, 24,00€
Von Beleidigungen durch vorwiegend männliche Kollegen und bewusstem Kleinhalten bis zum Diebstahl ihrer Forschungsergebnisse – Elizabeth Zotts misogyner Berufsalltag schreit nach einer Kündigung. Für Zott ist dieser Schritt eine Unmöglichkeit. Schwer genug ist es, in den 50er-Jahren als Frau eine Position in der Wissenschaft zu bekommen, unterbezahlt, ungesehen, ungewollt. Währenddessen lernt Zott den Chemiker Calvin Evans kennen und lieben, eine Beziehung, die auf intellektueller Augenhöhe, Respekt und der gemeinsamen Leidenschaft für die Chemie basiert, im Laufe der Handlung aber auch weitere Bereiche ihres gemeinsamen Lebens beflügelt. Überschattet wird ihr Glück jedoch von Neid und den Zwängen der Gesellschaft und verlangt beiden Opfer ab.
Eine Frage der Chemie ist aber mehr als eine Liebesgeschichte, es ist vor allem die Geschichte einer Frau, die sich selbst treu bleibt in einer Gesellschaft, die das nicht zulassen will. In ihrem unbeirrbaren Wesen gelingt es Zott, andere zu inspirieren, ebenfalls aus der Norm zu brechen. So will eine der Zuschauerinnen ihrer Kochsendung Herzchirurgin werden, ihre Nachbarin sich der unglücklichen Ehe annehmen und ihr Produzent – von Zott mehrfach an den Rande eines Nervenzusammenbruchs getrieben – findet den Mut, sich zunehmend seiner Unsicherheit zu stellen.
So kämpft jede Figur ihre eigenen Schlachten. Manche Figuren betreten mit ihren kontroversen Wünschen und den daraus entstehenden Konflikten eine moralische Grauzone. Für die beinahe zu perfekten Hauptfiguren Elizabeth Zott und Calvin Evans erscheinen die schwere Kindheit und gesellschaftliche Geißel ein wenig dick aufgetragen. Beides wird jedoch im weiteren Verlauf in die Geschichte eingewoben, zunehmend handlungstreibend und damit einigermaßen ertragbar für Leser:innen. Dennoch ist es nahezu erfrischend, wenn stellenweise aus der Perspektive einer Figur erzählt wird, die ohne eine ganze Enzyklopädie an Schicksalsschlägen aufwachsen durfte.
Pfiffiger Stil
Im Punkto Perspektive überrascht Garmus mit brillantem Wechsel zwischen mehreren Figuren. Dadurch gestaltet sie nicht nur die Handlung abwechslungsreich und spannend, sondern auch ein szenisches Gesamtbild, das Zuneigung oder brennenden Hass gegenüber Charakteren in genialer Weise schürt. Wird ein Trauerfall aus der einfachen und ehrlichen Sicht des Hundes erzählt, ist es unmöglich, beim Lesen nicht nach dem Taschentuch zu greifen.
Der Perspektivwechsel schafft vor allem Verständnis dafür, mit welchen Rollenbildern Generationen aufgewachsen und teils in Konflikt geraten sind. Aber auch Bewusstsein dafür, dass deren Präsenz gelegentlich noch heute spürbar ist. Umso motivierender ist es, von einer Elizabeth Zott zu lesen, die nie aufgibt, ihren Wert in ihrer Arbeit sieht und sich allen Widrigkeiten stellt. Dabei durchläuft sie eine Wandlung, von passiver Ablehnung gegen so ziemlich alles »Typische« zur aktiven Gestaltung ihres Lebens. Besonders einer möglichen Ehe mit Calvin Evans widersetzt sie sich vehement, bremst dadurch jedoch stellenweise ihr eigenes Glück aus. Spätere Probleme, entstanden durch die nicht vorgenommene Eheschließung, verdeutlichen wiederum umfassend den Mangel an Gleichberechtigung der Geschlechter.
Tragik durch Humor?
Widersprüchlich wie ihre Figuren (zum Beispiel der lügende Pfarrer) ist die Geschichte um Elizabeth Zott erzählt. Mit unerwarteten Wendungen lässt Garmus die Leser:innen aufmerken, hin und wieder schmunzeln und fängt stilistisch eben jenen steten Wandel der Zustände ein, von dem sie erzählt. Konflikte und aufwühlende Szenen halten sich die Waage mit trockenem, teils bissig-ehrlichen Humor, der sich durch den gesamten Roman zieht. Dadurch entwickelt sich nicht nur ein unterhaltsames Leseerlebnis, sondern Garmus gelingt es, Humor gezielt einzusetzen, um die Reichweite tragischer Momente hervorzuheben. Somit ist Eine Frage der Chemie ein Roman, der nicht nur mitfiebern und lächeln lässt, sondern vor allem inspiriert. Zu Recht eines der erfolgreichsten Bücher aus dem Jahr 2022.