Unschuld – eine Heldinnenreise?

Takis Würger erzeugt in seinem Gesellschaftsroman Unschuld entlang der Kriminalgeschichte einen fesselnden Sog – und lässt abstrakte zwischenmenschliche Dynamiken über Generationen und verschiedene Ebenen gesellschaftlicher Systeme an komplexe Charakteren einfach konkret werden. Eine schnelle Lektüre mit doppeltem Boden.

Von Mareike Röhricht

Bild: Via Pixabay, CC0

Anders als Takis Würgers letztes Buch verursachte sein neuer Roman Unschuld bisher keinen Literaturskandal. Insgesamt ist es um die Neuerscheinung bisher sehr ruhig geblieben. Auch für diesen Roman war der frühere Journalist zu Recherchen an den Orten des Geschehens; zwei Monate in den USA nahe New York. Das Nachwort, das auf den ersten Blick sehr lose angehängt scheint, verweist mit Fakten zur Waffenproblematik in den USA und der Situation von Menschen, die von Huntington, einer tödlich verlaufenden Erbkrankheit, betroffen sind. Ein Buch mit didaktischem Impetus? Nein. Dabei nimmt auch dieser Roman, der zwischen Kriminal- und Gesellschaftsroman changiert, mitunter wie eine Familiensaga anmutet und in anderen Passagen auch als Liebes- oder Entwicklungsroman erscheint, wichtige Themen in den Fokus.

Mit Blick auf diese verschiedenen Labels, die im Lektüreverlauf angemessen erscheinen, könnte man vermuten, dass der Roman zu viel sein will. Ein ähnlicher Eindruck könnte entstehen, wenn erwähnt wird, dass verschiedene Figurenperspektiven entlang der Haupterzählung einer äußerst unzuverlässigen Erzählstimme in tagebuchartigen Bruchstücken zu Wort kommen und Gedichte eingestreut sind. Und in der Tat: Das Buch liest sich schnell, manches wirkt zunächst platt, die eingestreuten Perspektiven und Intertexte haken oder überraschen. Und auf manches Betragen der Protagonistin folgt innerlich ein »Warum?!« und ein innerliches Hand-vor-den-Kopf-Schlagen. Mit etwas Abstand betrachtet, wird es interessanter.

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Takis Würger
Unschuld

PenguinRandomhouse: München 2022
304 Seiten, 22,00€

Ein etwas anderer Generationenroman

Außerdem erzeugt Takis Würger in seinem Roman entlang des Plots einen Sog, der an die Lektüre bindet. Auf den ersten Blick scheinen sich die Figuren klischeehaft schnell in die Guten und die Bösen unterscheiden zu lassen: Die einen haben gelitten, geben sich aber zumindest Mühe, ihr Leid nicht weiterzugeben, haben also das Herz am sprichwörtlich richtigen Fleck. Manche, wie die Protagonistin und ihr Vater, übertreten mitunter gerade deswegen – weil sie Schwächere schützen oder Unschuldige retten wollen – gesetzliche Grenzen. Die anderen stellen ihre eigenen Bedürfnisse stets über die ihrer Mitmenschen und lassen Gewalt sprechen, anstatt überhaupt nach Worten zu suchen, sobald ihnen etwas nicht passt. Auf den zweiten Blick wird deutlich, dass die Wunden tiefer liegen – systemischen Ursprungs oder Folge vermeintlicher gesellschaftlicher Ideale sind. Das Leben ist verstrickt. Und auch Würgers Figuren sind in vielfältigen Beziehungen und Abhängigkeiten zu Menschen und Substanzen verstrickt. Doch es scheint, dass es dreien von ihnen zumindest kurzfristig gelingt, sich im Laufe des Romans aus diesen Wirren zu befreien. Bezeichnend ist, dass es diese drei jungen Charaktere sind, die zur Handlungszeit des Romans allesamt unter den Folgen ein und desselben konkreten Ereignisses aus der Vergangenheit leiden. Ältere Erwachsene haben das zu verantworten. Deren bewusste Nicht- und Falschkommunikation, und in einigen Fällen auch deren Ignoranz, Egoismus und strafbares Handeln, haben für unnötig viel Leid in der nachfolgenden Generation gesorgt.

Der Plot ist im Wesentlichen eine Suche nach der Wahrheit im undurchsichtigen Rechtssystem der USA, dass in Teilbereichen von Bundesstaat zu Bundesstaat variiert und auf Präzedenzfällen beruht. Motiviert ist diese Suche nach der Wahrheit durch die unerschütterliche Liebe einer erwachsenen Tochter, Molly Carver, zu ihrem an Huntington erkrankten Vater. Sie ist von seiner Unschuld überzeugt ist – auch wenn er wegen eines gestandenen Mordes im Gefängnis sitzt. Warum musste ihr Vater sich ausgerechnet im benachbarten Bundesstaat erwischen lassen, in dem er weder lebte, noch arbeitete – und in dem auf Mord die Todesstrafe steht? Molly kann das Geständnis ihres Vaters nicht glauben und so schleust sie sich als Hausmädchen im Hause des Verbrechens ein, mit dem Ziel, den wahren Mörder des damals 16-jährigen Caspar Rosendale zu finden. Sie sieht sich selbst nicht als Heldin. Auf diese Idee wurde Molly von einer Journalistin gebracht, bei der sie normalerweise putzt. Die Dame erhofft sich eine reißerische Story, Molly hat allerdings keinen Moment vor, diesen Artikel wirklich zu schreiben. Dennoch bricht sie zu einer klassischen Heldenreise auf – sie will ihren Vater um alles in der Welt retten.

Was hinter den Klischees steckt

Die Entwicklung der 23-jährigen Protagonistin auf dieser Reise ist so fein, dass sie in Begegnungen mit anderen zuweilen fast sprunghaft wirkt. Dabei fehlt es nicht an Phasen der Hilflosigkeit, in denen alte Wunden und ungesunde Coping-Strategien und jede Menge angestauter Emotionen ihr gefährliche Beine stellen. Würgers Lieblingsfigur, verriet er auf seiner Lesung beim Literaturherbst, ist Lou, die erste große Liebe des erschossenen Caspar. An ihr wird besonders deutlich, wie sehr die Außenwirkung eines Charakters über dessen innere Befindlichkeiten, Nöte und Bedürfnisse hinwegzutäuschen vermag – und wie der sozioökonomische Status allen Talenten zum Trotz Chancen zu verbauen und Träume einzufrieren vermag.

Die tagebuchähnlichen Passagen aus der Sicht des ermordeten Caspar hingegen verdeutlichen, dass auch ein guter sozioökonomischer Status eine unglaubliche Bürde sein kann und der Entdeckung des Selbst nicht zwingend zuträglich ist – die Liebe hingegen sehr wohl. Dieser Eindruck erhärtet sich dadurch, dass auch der kleine Bruder des Ermordeten sich Jahre später erst durch die richtige Person in seinem Leben aus den inneren und äußeren Verstrickungen befreien kann. Ausnahmslos jede Figur hat ein individuelles Päckchen zu tragen. Die Mütter, drei an der Zahl, sind permanent abwesend – im wortwörtlichen oder übertragenen Sinne. Auffälliger sind die männlichen Figuren: Denn sie sind, trotz allem, selbstlos und bis zur Selbstaufgabe für die, die sie lieben, da.

Poetisch muss nicht kompliziert sein

Takis Würgers Sprache wirkt zunächst einfach und eindeutig: Im ersten Moment vermeintlich als Phrasen aufgefasste Sätze – wie »Du lebst ja gar nicht richtig« – werden aber wieder aufgegriffen und auf psychoemotionaler Ebene ausbuchstabiert, sodass das Werk an Tiefe gewinnt. Der Roman eignet sich nicht nur wegen der kurzen Sätze wunderbar fürs Vorlesen, sondern auch, weil Takis Würgers Sprache eine in Anaphern und auf Ebene des Humors klingende Sprache ist. Gespräche, Beschreibungen und Introspektionen sind ausgewogen kombiniert. Manche Szenen irritieren, etwa, wenn Molly die Mutter des getöteten Jungen zum zweiten Mal in einer Klosterkur besucht und diese Frau – die Molly beim ersten Mal einen Revolver schenkte – nichts anderes im Sinn hat, als Molly zu schminken. Die irritierenden Momente der Lektüre und der unzuverlässige Erzähler stehen sinnbildlich und strukturell für die Verwirrungen, die auf allen gesellschaftlichen Ebenen vorherrscht. Diese rührt aus der über Generationen im Sinne der Etikette antrainierten Vermischung von Schein und Sein. Dadurch ist die Mehrzahl der Akteur:innen in einsame Leben verbannt worden. Denn wo kein Platz für Authentizität ist, kann keine wirkliche Nähe entstehen. Das erfährt auch Molly, die lange gegen das Stottern ankämpft, das geradezu Inbegriff dieses anerzogenen Konfliktes ist. Der Roman, der wie eine klare Kriminalgeschichte wirkt, ist eine komplexe Gesellschaftsskizze.

Verwunderung und Lektüreermutigung

Warum also bleibt es bisher so still um Unschuld? Vielleicht hat der Roman noch nicht für so viel Aufsehen gesorgt, wie er könnte, weil er in den USA angesiedelt ist, aber auf Deutsch erschienen ist. Vielleicht hat er nicht als Auslöser für eine neue Auflage der Eisbucket-Challenge gereicht, weil das Leid der an Huntington erkrankten Figuren nur am Rande sichtbar wird. Vielleicht ging noch kein großer Aufruhr durch die Feuilletons, weil der Autor anders als viele zeitgenössische Romane nicht die Selbstfindung an sich in den Vordergrund stellt, sondern das Werden junger Menschen anhand eines Kriminalplots in übergeordneten Maßstäben betrachtet.Er betrachtet es in Verstrickungen, die über die Eltern-Kind-Beziehung hinaus gehen und begreift die systemische Dimension individuellen Leids neu. Und er erzählt weder das Geschehen noch das Werden aus einer in Selbstreflexionen verfangenen Ich-Perspektive, sondern vermittelt es durch einen unzuverlässigen Erzähler. Und diese Instanz steht symptomatisch für die Subjektivität jedes einzelnen Lebens, die damit einhergehende Subjektivität von Wahrheit und die Notwendigkeit, manche Fragen mit Abstand und aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten.

Vielleicht wird der Roman in den USA die Debatte um den Waffenbesitz erst anstoßen, sobald er ins Englische übersetzt wird. Vielleicht wird er aber auch einfach im Stillen die Sensibilität der Leser:innen für Medikamentenmissbrauch und Kindesmisshandlung steigern und sie ebenso still von diesbezüglich herrschenden Vorurteile der Relevanz des sozioökonomischen Faktors befreien. Der Waffenlobbyismus und die Erbkrankheit bleiben im Hintergrund, motivieren den Kriminalfall aber entscheidend, wie sich später herausstellt – und im Grunde wird sogar die Frage aufgeworfen, ob aktive Sterbehilfe nicht um der Menschenwürde Willen erlaubt sein sollte.

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