Unbekannte Nesseltiere

Korallen und der Mensch – der Kulturgeschichte der Nesseltiere widmet Jutta Person einen eigenen Band in Judith Schalanskys Reihe Naturkunden. Es bleiben der Hauch einer literarischen Schatzsuche in alten Bibliotheken und ein Kleinod für das eigene Bücherregal.

Von Steffen Bach

Bild: By Tom Fisk via pexels, Pexels Lizenz

Was haben Nelken, Federn und Heringe gemeinsam? Auf den ersten Blick nicht viel. Höchstens, dass sie alle dem sogenannten »Reich der Natur« entstammen. Und genau wegen dieser einen Gemeinsamkeit wurde allen dreien je ein Band in den Naturkunden im Verlag Matthes & Seitz Berlin gewidmet. In der von der Berliner Schriftstellerin und Typographin Judith Schalansky herausgegebenen Buchreihe erscheinen seit 2013 in loser Folge hochwertig gestaltete und illustrierte Bände verschiedener Autor*innen. Jeder Band hat einen Bereich der Natur zum Thema – wie etwa die schon erwähnten Nelken oder Heringe. Dabei geht es allerdings anders als im Programm eines Fachverlages nicht in erster Linie um Daten und biologische Forschung. Vielmehr steht die Kulturgeschichte der Natur im Mittelpunkt, also wie wir Menschen uns mit unserer Umwelt im Laufe der Geschichte auseinandergesetzt haben.

Statt trockenem Faktenwissen widmen sich die Bände der Naturkunden also vor allen Dingen dem Verhältnis von Natur und Mensch. Denn die Natur ist ja schon als Begriff nur entstanden, weil der haarlose Affe Homo sapiens sich für etwas Besseres hält als die Nelken oder Heringe. Letztere sind folglich nicht Teil unserer Kultur, sondern verbannt in die Natur – auch wenn wir vielleicht doch nicht ganz so grundverschieden zu unseren »natürlichen« Nachbarn sind, wie wir das gern hätten.

Nelken als Zierblumen und Heringe als Wirtschaftsfaktor

So jedenfalls lässt sich in den verschiedenen Bänden, 59 sind es mittlerweile an der Zahl, viel über uns Menschen und unseren Umgang mit der »natürlichen« Umgebung erfahren. Etwa wie die Nelke ihren Platz als Zierblume in Blumengeschäften weltweit gefunden hat, warum Federn in einigen Kulturen zu wichtigen Kultgegenständen wurden oder auch welche Bedeutung der Hering für die nordeuropäische Wirtschaft des Mittelalters hatte.

Sämtliche Bände werden von Judith Schalansky nicht nur herausgegeben sondern auch edel gestaltet. Hochwertige Papiere für Umschlag und Inhalt, Fadenheftung und ein farbiger Kopfschnitt erinnern an alte Bücher voller halb vergessenem Wissen und verleihen dem Lesen den Hauch einer literarischen Schatzsuche in alten Bibliotheken. Dazu tragen auch die aufwändig gedruckten Illustrationen in jedem Band bei. Schließlich ist die Schriftart ebenso nicht von der Stange sondern individuell gewählt und unterstreicht so den eigenen Stil der Reihe.

Infotainment für das Feuilleton

Im Grunde genommen handelt es sich bei den Büchern aus der Reihe Naturkunden um Infotainment für Feuilleton-Leser*innen – und das natürlich im besten Sinne. Die Mischung aus lockerem Tonfall, kenntnisreicher Erzählung von der Kulturgeschichte der Naturerkundungen und einer Prise biologischem Faktenwissen unterhält wirklich ungemein. Und die edle Aufmachung sieht nach der Lektüre auch noch gut im Bücherregal aus. Da ist der doch recht hohe Preis für die (größtenteils) schmalen Bändchen schnell verschmerzt.

Nun aber zu einem Blick auf den hier vorliegenden Band, den mit der Nummer 50, geschrieben von Jutta Person. Mit Korallen beschäftigt er sich, jenen Tieren (oder waren es doch Pflanzen?), die den meisten aus dem Tauchurlaub im Roten Meer oder den Medienberichten über das Absterben des Great Barrier Reef in Australien ein Begriff sein könnten.

Die Erforschung der Nesseltiere

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Jutta Person
Judith Schalansky (Hg.)
Korallen. Ein Portrait

Reihe: Naturkunden
Matthes & Seitz: Berlin 2019
192 Seiten, 20,00€

In lockerem, fast schon verspieltem Tonfall nähert sich Jutta Person der Geschichte der Erforschung dieser Nesseltiere an. Sie beginnt dabei in der Antike, als man die Unterwasserbewohner noch für versteinerte Pflanzen hielt, und arbeitet sich vor bis in die Neuzeit. Nicht nur Geschichtliches berichtet die Autorin dabei, auch eigene Recherchebesuche im Berliner Aquarium oder beim Tauchen vor Thailand flicht sie ein. Das Ganze wird begleitet von hochwertig gedruckten Bildtafeln, etwa aus Brehms Tierleben von 1911.

Hier zeigt sich der Reiz der Naturkunden-Bände. Die Fakten über Gorgonien, Anemonen und Co. könnte man sich sicher auch bei Wikipedia zusammenlesen. In diesem Buch aber erfährt man auf unterhaltsame Art, welche Rolle Korallen in der Menschheitsgeschichte eingenommen haben. Wie unsere Vorfahren über sie gedacht haben, und was das über ihr Weltbild aussagt. So können wir uns bei der Lektüre des Bandes im besten Fall auch als Vertreter der Art »Mensch« selbst besser kennenlernen.

Kommunistische Arbeiterkorallen

Jutta Person berichtet uns also davon, wie der Edelkoralle auch in Nordeuropa mit der Zeit eine magische Schutzwirkung gegen den »Bösen Blick« zugesprochen wurde. Oder davon, wie Joseph Roth den Korallenhändler Nissen Piczenik zum Protagonisten seiner Erzählung Der Leviathan machte. Nachdem die Forschung endlich herausgefunden hatte, dass es sich bei den Korallen nicht um Pflanzen, sondern um Kolonien kleiner Polypen handelt, die gemeinsam Plankton aus dem Wasser fischen, dienten sie sogar der politischen Rhetorik. So führt Karl Marx sie in seinem Kapital als Beispiel für die Macht der Arbeit an – so wie Milliarden kleine Polypen zusammen Atolle aus Korall erschaffen können, vermögen die Massen, wenn sie zusammenarbeiten, Unerhörtes.

All diese Facetten der Kulturgeschichte der Korallen stellt Jutta Person überaus abwechslungsreich und klug zusammengestellt dar. Da verzeiht der Leser es auch, wenn manche Betrachtungen ins Abstruse abrutschen, wie der Versuch, aus dem Porträt des Korallenforschers Jean-André Peyssonnel Rückschlüsse auf seinen melancholischen Charakter zu ziehen.

Korallen und der Klimawandel

Zum Schluss hin kehrt Jutta Person dann den Blick von der Geschichte vollends auf die Gegenwart und auf die Herausforderungen, die sich den Korallen aktuell stellen. Dass der Klimawandel mit steigenden Meerestemperaturen vielen Korallen den Garaus machen könnte, sollte die Menschheit nicht nur wegen des Verlustes dieser einzigartigen Tiere bekümmern. Die Riffe der winzigen Baumeister schützen auch viele Inseln und Küstenstriche vor den Auswirkungen von Stürmen und Fluten. Ohne diese Bollwerke muss auch der Mensch mehr und mehr um seinen Lebensraum fürchten.

Auf den letzten Seiten wird der Band also durchaus politisch. Denn wenn dem*der Leser*in bewusst wird, dass die Unterwasserwelten, von denen das Buch handelt, schon bald der Vergangenheit angehören könnten, sollte das Zwei-Grad-Ziel der Pariser Klimakonferenz verfehlt werden, erscheint der Klimawandel viel weniger abstrakt. Doch selbst ohne diesen leisen Appell ließe der Band einen sicher nicht kaltherzig zurück. Die Korallen werden im dazugehörigen Naturkunden-Band lebendig und bleiben dies in der Vorstellung auch, wenn der Buchdeckel zugeklappt ist. Dem eindrücklichen Text Jutta Persons und der herausragenden Gestaltung Judith Schalanskys sei Dank.

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