Über Klasse schreiben

Litlogs neue Reihe trägt den Titel Klasse?! und beginnt mit den (Un-)Möglichkeiten der Definition von Klasse. Was Litlog als Medium und der Klassenbegriff als Werkzeug leisten können.

Von Lisa Marie Müller und Anna-Lena Heckel

Bild: Via Pixabay, CC0, Bearbeitung: Lisa E. Binder

In der Litlog-Redaktion entstand die Idee, etwas zu ›Klasse‹ zu machen. Wir hatten zuerst ein diffuses Interesse und noch keine feste Vorstellung, was das sein könnte. Wollen wir uns intern dazu fortbilden? Oder etwas dazu publizieren? Allgemein: Wie nähert man sich dem Thema an? Erstmal Theorie ballern? Den drölfsten Marx-Lesekreis gründen? Eine Bestandsaufnahme machen, was wir eigentlich zu dem Thema denken? Litlog im Diskurs dazu verorten? Litlog als Medium nutzen, um Theaterstücke, Bücher, gesellschaftliche Phänomene daraufhin zu untersuchen und zu diskutieren?  So einigten wir uns auf: Alles. Diese Vielfalt an Gegenständen und Zugängen zu vermitteln, ist Ziel unserer Reihe Klasse?!.

Zum Auftakt schlagen wir Definitionsversuche zu den Klassen vor und was es bedeutet, sich als Teil einer Klasse zu verstehen. Da es so ein breites Angebot an Definitionen und Perspektiven auf den Themenkomplex gibt, kann dieser Text nicht viel mehr sein als die (wirklich kurze) Kurzzusammenfassung einer für uns schlüssig klingenden Analyse. Weil bei uns im Sprechen über die Reihe Klasse und Klassismus immer wieder vermischt wurden, versuchen wir uns im zweiten Abschnitt des Artikels an einer Definition und Kritik des Klassismus. Den Ton des Textes versuchen wir auszubalancieren zwischen akademisch und leicht verständlich. Schließlich wurde in den Debatten zu den Reihen-Texten allemal deutlich, dass die Frage, wie über Klasse zu sprechen sei, stets auch eine des Stils ist.

Wie man Klasse bestimmt

Mario Candeias betont in seinem Lesebuch zur Klassentheorie: Klasse ist keine Eigenschaft qua Geburt, der nicht zu entkommen ist.  Es ist eine Kategorie, für die ein Mensch sich als politisches Subjekt entscheiden kann. Hier liegt ein wichtiger Unterschied zum Begriff Armut. Die eine Klassenidentität gibt es nicht, und so ist für ein Verständnis von Klasse ausschlaggebend, ob man sich aktiv und in Solidarität aufeinander bezieht.1Vgl. Hierzu und zu den folgenden Ausführungen: Mario Candeias: Crashkurs Klassenanalyse. Eine Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): KlassenTheorie. Vom Making und Remaking. Hamburg 2021, S. 9–35. Diesem Verständnis schließen wir uns an. Die Artikel, die in diesem Rahmen entstehen, können jeweils prüfen, ob sie sich dieser Sichtweise anschließen oder ob Widerspruch vorzubringen ist.

Die Reihe will Zugriffe auf gesellschaftliche Verhältnisse ausprobieren, die wir hier mit dem Begriff der Klasse fassen. Inwiefern etwa einige Sozialwissenschaftler:innen lieber von Milieu sprechen, was direkt viel (durch)lässiger klingt, ist an dieser Stelle zweitrangig, kann aber natürlich in diesem Rahmen diskutiert werden. Für die Texte, die in diesem Zusammenhang entstehen, ist aber vor allem wichtig, dass Klasse gesellschaftliche, kulturelle und ökonomische Unterschiede beschreibt.

Klasse setzt sich unterschiedlich zusammen. Wo Klassenlinien verlaufen, das hängt nicht nur von der Perspektive, sondern auch vom Feld und von der historischen Situation ab. Die Prozesse der Klassenformierung sind sowohl komplex als auch dynamisch.

Reihe Klasse?!

Was ist das, eine Klasse? Haben wir alle eine? Wie prägen Klassen und Ideen von Klassen unseren Gesellschaften und den Umgang miteinander? Wie stellt man sie dar? Und wie können wir uns dazu verhalten? In dieser Reihe machen sich die Autor:innen Gedanken über gegenwärtige Gesichter von Klasse und Klassismus. Sie entwickeln sie beispielsweise anhand von literarischen Texten oder Sachbüchern, im Theater, als Forschende und persönlich. Die Texte erscheinen in unregelmäßigem Abstand; sie sind hier zu finden.

Was diese Litlog-Reihe leisten möchte, ist das Panorama und die ebenso vielfältigen wie widersprüchlichen Differenzierungen aufzuzeigen. Dem liegt auch zugrunde, dass es gar nicht einfach ist, über Klassen zu schreiben, ohne sich zu positionieren. Vielleicht ist das gerade in diesem Fall auch unmöglich. Die Absicht kann aber nicht sein, allen Artikeln eine bestimmte oder gar dieselbe Position zu unterstellen.

Brot und Rosen

In der historischen Forderung nach Brot als Verbesserung des Lohnes und Rosen nach Angemessenheit der Lebensbedingungen wird deutlich: Die Klassengegensätze zeigen sich immer wieder unterschiedlich, wenngleich die Forderung gleich bleibt: Es geht um menschenwürdige Verhältnisse.

Klasse zeigt sich in verschiedenen Berufen (Arbeit im Entsorgungsbetrieb oder als Vorstandschef) ebenso wie in Kultur (Haftbefehl oder Mozart), Konsumverhalten (Fernseher oder Spa-Wochenende), Sprechweisen und Geschmack (TK-Pizza oder Sternerestaurant). Sie prägt Bildungsbiographien ebenso wie die menschliche Gesundheit. Verbunden mit race und gender äußert sie sich unterschiedlich. Die hier in Klammern eingefügten Gegenüberstellungen sind natürlich plakativ. Und doch arbeiten sie mit kulturellen Codes, die Teil der gesellschaftlichen Realität sind. Und diese Verhältnisse ändern sich. Unschwer zu erkennen ist dies daran, dass die Arbeiter:innenklasse sich heute anders zusammensetzt als in der fordistischen Fabrik: Mobile Krankenpflege, scheinselbständiger Lieferservice und individualisierte Start-Up-Kultur sind nur wenige Beispiele dafür, wie heterogen sich der Sektor prekärer Arbeit darstellt.

Klasse als Diskriminierungsmerkmal

Klasse wird im medialen Diskurs seit einiger Zeit als Diskriminierungskategorie besprochen. Das passiert unter dem Begriff Klassismus, also der Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer (vermeintlichen) sozialen Herkunft. Ein Beispiel dafür ist die Tatsache, dass Kinder aus armen Familien eine geringere Chance haben, eine Hochschule zu besuchen oder abzuschließen. Darunter fällt aber beispielsweise auch die abwertende Bezeichnung ›Asi‹ für bestimmte Kleidung, Sprache und Musikpräferenzen eines ökonomisch schlecht dastehenden Milieus.

Der Begriff des Klassismus und die breite Diskussion darüber in der deutschen Gesellschaft ist relativ neu. Der Diskurs über Klassismus setzt eher am Individuum und einer Veränderung des Verhaltens untereinander an. Der größte Kritikpunkt an dieser Sichtweise ist, dass es für eine Analyse mit Blick auf Klasse vielversprechender ist, sich die gesellschaftlichen Bedingungen anzuschauen, unter denen die Abwertung passiert. Eine gesellschaftliche Schlechterstellung ist in einem solchen Analyseverständnis Ausdruck der kapitalistischen Ordnung, jedoch nicht die Ursache. Die besteht in der ungleichen Stellung der Menschen im Produktionsprozess, auf die das System ausgelegt ist. Diese Tatsache tritt bei Klassismus-orientierten Ansätzen in den Hintergrund, wodurch Klassengegensätze nicht abgeschafft, sondern sprachlich geglättet werden.

Der Begriff ›Klasse‹ sollte weiterhin in erster Linie zur Analyse der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse genutzt werden können. Beides lohnt sich auseinanderzuhalten: Klassismus beschreibt die Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Klasse, Klasse ist ein wichtiges Analysetool der politischen Ökonomie und Soziologie. Es spielt beides natürlich ineinander, doch bei einem Kampf gegen Klassismus ist das Ziel eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft, während es bei dem Kampf der Arbeiterklasse (aus marxistischer Sicht) um nicht weniger als die Abschaffung der Klassengesellschaft selbst geht.                          

Zugriffe

Die hier vorgestellten Definitionsversuche sollen den Autor:innen und Leser:innen der Reihe etwas geben, an dem sie sich abarbeiten, auf die sie sich beziehen, hinterfragen oder weiterdenken können. Das Konzept ist offen, es wird Beiträge zu ChatGPT und Klasse geben, Intersektionalität, Buch- und Theaterrezensionen, Reflexionen über ›Trash‹-TV und einiges mehr. Die Texte erscheinen in unregelmäßigem Abstand; sie sind hier zu finden.

Gegenseitige Bezugnahme, Reflexion oder Fragen von Klassenbewusstsein sollen so nicht nur abstrakt in dieser Reihe thematisiert werden. Vielmehr sind sie gerade in autofiktionalen Texten, Alltagspraktiken und Literatur zu vermuten. Hier liegt die Stärke literarischer Reflexion: Die jeweilige Perspektivierung zu gestalten, gerade auch hinsichtlich der Kategorien von gender und race und historischer sowie geographischer Klassensituation.

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