Über den Kampf um Selbstbestimmung

Alba de Céspedes’ Das verbotene Notizbuch, eine Wiederentdeckung aus den Fünfzigerjahren. Ihre schonungslose Offenlegung der Unterdrückung von Frauen und den damit einhergehenden Aggressionen und Ängsten. Die Neuübersetzung ihres Romans zeigt heute wie damals ihren Mut zur Selbstreflektion, benennt und kritisiert die eigene Situation. 

Von Lukas Prießnitz

Bild: Via Pixabay, CC0

Erinnert ihr euch noch an euer erstes Tagebuch? War es nicht etwas Tolles, etwas ganz Besonderes? Es war paradox! Das Heft verschaffte die Möglichkeit, etwas loszuwerden, ohne eine andere Person wirklich in sein Geheimnis einweihen zu müssen, und dennoch konnte man sich die Dinge von der Seele schreiben. Es war der Ort allersehnlichster Wünsche und Hoffnungen, aber auch aller Ängste und Sorgen. Das Tagebuch würde jeder fremden Person das gesamte Seelenleben offenbaren. Ob des brenzligen Inhalts brauchte das Heft das sicherste Versteck. Was würde nur passieren, wenn die Eltern herausfänden, dass ihr die Vase zerbrochen hattet und nicht die Katze, oder die Geschwister die gut getarnte Zuneigung zu dieser einen tollen Person aus der Oberstufe erführen? Es hätte den Weltuntergang bedeutet, und dennoch war es aufregend und zugleich besänftigend, es zu besitzen.

Ähnliche Ängste und Sorgen, aber auch beflügelnde Gefühle hegt Valeria, die Protagonistin aus dem Roman Das verbotene Notizbuch von Alba de Céspedes. Erschienen zuerst als Fortsetzungsroman 1950 bis 1952 in Italien, wurde er 2021 vom Insel-Verlag zum ersten Mal auf Deutsch verlegt, in einer Übersetzung aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Valeria sorgt sich schon während des Schreibens wegen des brisanten Inhalts und sinnt immerzu über neue Verstecke nach. Ähnlich der Schreibintention bei unseren eigenen Tagebüchern ist es für Valeria eine Erleichterung, ihre Gedanken zu sortieren, zu formulieren und sich ihrer Sache und der Gedanken wirklich klar zu werden.

Von all dem, was ich in diesen Monaten gefühlt und gelebt habe, wird in wenigen Minuten nichts mehr übrig sein. Nichts als ein schwacher Brandgeruch in der Luft.

Einige Monate vor diesem Eintrag beginnt die Reise durch ihre Gefühle hindurch im Rom der 1950er Jahren. Und zwar beginnt sie mit einem harmlosen Gang zum tabaccaio. Valeria will eigentlich nur Zigaretten kaufen. In dem Laden entdeckt sie dann aber einen Stapel von Notizbüchern. Sie würde gerne eines kaufen, doch an Sonntagen darf nur Tabak gekauft werden, und was würde ihre Familie überhaupt dazu sagen, was würden die Nachbarn denken? Sie schämt sich schon beim Gedanken, den Kauf überhaupt in Erwägung zu ziehen, Geld für einen unnötigen Gegenstand, der nur für sie bestimmt ist, auszugeben. Denn für Valeria, die seit 23 Jahren mit ihrem Mann verheiratet ist und mit ihm zwei nahezu erwachsene Kinder hat, ist es ihre Bestimmung, die Familie zu umsorgen und sich zu kümmern.

Er sagte: »Es ist verboten«. Und da packte mich ein unbändiges Verlangen, es zu besitzen, in der Hoffnung, meine heimliche Sehnsucht, noch immer Valeria zu sein, schuldlos darin ausleben zu können. Stattdessen nahm meine Unrast damit ihren Anfang.

Sie will einfach nur Valeria sein. Nicht nur Mutter, nicht nur Hausfrau, sondern Valeria, eine unabhängige, freie Frau. Gleichwohl bereitet ihr das bloße Darüber-Nachdenken oder gar Darüber-Schreiben bereits Unbehagen und Scham. Sie ist Mutter und ansonsten nichts. Der Zorn, der in Folge solcher Situationen in ihr aufkommt, zeigt die Ambivalenz der Lage, in der sich die Protagonistin befindet. Mit dem Kauf des Notizbuches gelingt es Valeria zwar, sich über ihre Gefühle klarer zu werden, ihr Leben stärker zu reflektieren und über die Familie nachzudenken, allerdings hat das Heft auch Schattenseiten. Gleichwohl wird ihr erst mittels des Aufschreibens umfänglich bewusst, in welcher Lage, in welcher unfairen Situation sie sich befindet. Sie ist in ihren Umständen gefangen und sieht keinen Ausweg. Es darf und kann keinen Ausweg geben.

Leben zwischen Notizbuch und Realität

Nachdem sie das Notizbuch gekauft hat, bringt Valeria viele Stunden mit Schreiben zu. Sie schreibt bis tief in die Nacht und ist an den Folgetagen immer müde und erschöpft. Nach einer Vielzahl an langen und schreibintensiven Nächten fällt sogar ihrer Familie die Müdigkeit auf, jedoch nicht, weil Valeria erschöpft oder abgekämpft aussieht, sondern weil ungewaschenes Geschirr herumsteht oder die Wohnung nicht geputzt ist. Anstatt ihr Arbeit abzunehmen und Aufgaben im Haushalt zu übernehmen, fordert ihre Familie sie auf, im Büro kürzer zu treten. Frauen wie Valeria, die aus finanziellen Gründen arbeiten, sind etwas Suspektes. Die Ehemänner müssen in solchen Fällen entweder faul oder schlicht schlechte Partner sein. Und schon überhaupt schickt sich das Arbeiten für eine Frau von Valerias Stand nicht, weiß ihre Mutter gebetsmühlenartig zu betonen. Valerias Familie war einst wohlhabend, hat jedoch aus finanziellen Gründen ihr großes Haus verloren. Je mehr Valeria Zeit in ihr Notizbuch investiert und immer mehr Gedanken teilt, desto größer wird ihre Angst, aufzufliegen. Neben der Angst vor Entdeckung besteht die Sorge, sich rechtfertigen zu müssen. Erklären zu müssen, aus welchem Grund sie etwas für sich gekauft hat, nur an sich gedacht hat, und warum sie die Familie für sich und ihre Bedürfnisse vernachlässigt. Auf die Idee, dass sie etwas für sich haben möchte oder gar ein Tagebuch führt, kommt ihre Familie nicht, im Gegenteil. Als das Tagebuch der Tochter zu Sprache kommt, wird die Vorstellung, dass die Mutter eines führen könnte, als etwas Absurdes, etwas Unvorstellbares abgetan.

Tatsächlich spüre ich, dass ich mit dem Schreiben in dieses Heft eine schwere Sünde begehe, einen Frevel: Als würde ich mit dem Teufel sprechen. Wenn ich es aufschlage, zittern mir die Hände: Ich habe Angst.

Im Leben von Valeria existieren drei Welten. Die Welt ihrer Tochter Mirella und die ihrer Mutter, ihre Welt steht zwischen den beiden Extremen. Mirella möchte unabhängig, selbstbestimmt und frei sein, erstrebt, alles wollen und machen zu können. Valerias Mutter hingegen steht dem konträr entgegen. Für sie ist es wichtig, dass der Mann für die Familie sorgt und die Frau nicht zu arbeiten braucht. Ferner müssen Eltern stets Eltern sein und bleiben und dürfen kein Leben abseits ihrer elterlichen Pflichten haben oder gar ein unabhängiges Leben führen. Valeria steht zwischen diesen beiden Lebensentwürfen. Die Protagonistin möchte ihrer Mutter den nötigen Respekt erweisen, erkennt allerdings zugleich den gesellschaftlichen Wandel in der Welt an. Die Art, wie Mirella leben möchte, geht Valeria zu weit, und sie fühlt sich von ihrer Tochter wiederum nicht genügend respektiert. Folglich fügt sie sich den Zwängen und bleibt in den Strukturen der Gesellschaft hängen, weist teilweise ähnliche Verhaltensweisen wie die ihrer Mutter auf, welchen sie eigentlich entkommen will. Eben jener immer wiederkehrende Zwiespalt bedingt beim Lesen einen leichten Zugang zu Valeria, wirft allerdings die Frage auf, weshalb sie sich immer wieder im Kreis bewegt und nur in ihrem Tagebuch leicht aus ihrer Monotonie zwischen Hausarbeit und Geldverdienen herauskommt. 

Sie gehören zwei verschiedenen Welten an: Die eine ist mit der alten Zeit untergegangen, die andere ist daraus geboren. In mir prallen diese beiden Welten aufeinander, lassen mich aufstöhnen. Vielleicht fühle ich mich deshalb oft, als hätte ich keinerlei festen Bestand.

Kostbare Zeit der Aufmerksamkeit

Zur immer stärker werdenden Wut und dem großen Unverständnis ihren Kindern gegenüber kommt nun eine unerwartete und für Valeria nicht einzuordnende Zuneigung zu ihrem Chef hinzu, die dieser erwidert. Mit dem Ziel, ihm nahe zu sein, bleibt sie immer häufiger länger im Büro oder geht gar samstags zur Arbeit. Sie kostet die Minuten fernab ihres Alltags als Mutter und Hausfrau aus. Valeria genießt es, als Frau wahrgenommen zu werden, verwöhnt und umsorgt zu werden, nicht mehr nur »Mama« für alle zu sein. Anfangs verwehrt sie sich gegen ihre Gefühle, da beide verheiratet sind und eine Familie haben. Zudem könnten die Nachbarn etwas mitbekommen. Hier tritt eine weitere Ambivalenz in Valerias Leben zu Tage. Die Freiheiten, aber im Besonderen die sexuelle Freiheit, die sie ihrer Tochter verbietet, lebt sie heimlich aus.

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Alba de Céspedes
Das verbotene Notizbuch

Insel: Leipzig 2021
302 Seiten, 24,00€

Die in Form von Tagebucheinträgen dargestellte Geschichte von Valeria erzeugt bei den Leser:innen aufgrund der lebendigen Darstellung der Situation einer Frau und der deutlich illustrierten inneren Spaltung zwischen eigenem Leben und Familie eine Beklemmung. Beim Lesen kommen immer wieder Erinnerungen an Erzählungen und Ansichten der eigenen Verwandtschaft zurück ins Gedächtnis, und Valerias Worte erklären die eine oder andere Situation am Esstisch zu Weihnachten. Ferner wird die Protagonistin facettenreich und widersprüchlich und in sich gespalten präsentiert, wodurch ihre Ängste und ihr Zorn greifbarer werden. Gerade jener Widerspruch führt zu einem ambivalenten Verhältnis zu Valeria. Im einen Moment scheint sie sich von den Fesseln der Bevormundung durch die Gesellschaft zu lösen und macht einen Schritt auf die Lebenswelt ihrer Tochter zu, weg von den Gedanken der Mutter, dann packt sie wieder die Wut über ihre Situation oder das Verhalten ihrer Tochter und sie geht wieder zwei Schritte zurück. Mit Das verbotene Notizbuch gelang Alba de Céspedes ein aufwühlendes und mitreißendes Buch, das in all den Jahren nichts von seiner Wichtigkeit eingebüßt hat.

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