Das Genre True Crime boomt – und hat einen denkbar schlechten Ruf. Die ZDF-Sendung Aktenzeichen XY…ungelöst ist ein Vorläufer und hat eigentlich ein nobles Ziel: die Aufdeckung von Straftaten. Über ein Genre und seine Möglichkeiten.
Von Sophia Wallisch
Bild: Via Pixabay, CC0, Bearbeitung: Hanna Sellheim; ZDF/Nadine Rupp
Das Genre True Crime boomt – und das schon seit Jahren. Egal ob Serien, Podcasts, Magazine oder Bücher, die Realität der Verbrechen zieht ihre Aufmerksamkeit auf sich. Mittlerweile gibt es eine große Bandbreite an True-Crime-Formaten, die sich stets wachsender Beliebtheit erfreuen. Auch Abwandlungen in Form von Podcasts, wie etwa Verbrechen von Zeit Online erzielen hohe Aufmerksamkeit und sind stark nachgefragt. Dabei wurde bereits 1965 mit dem True-Crime-Roman In Cold Blood der Grundstein für den Boom rund um das Genre gelegt, wobei nicht zuletzt die Dokumentation Making a Murderer im Jahr 2015 erneut für einen Hype sorgte. Darüber hinaus erzielte der Podcast der Journalistin Sarah Koenig knapp ein Jahr zuvor große Aufmerksamkeit, indem sie von dem 15 Jahre zurückliegenden Mord an einer Schülerin berichtete, für den ein Mitschüler verhaftet worden war. Auch im Deutschen Fernsehen gibt es mittlerweile zahlreiche True Crime Formate, dabei gilt die im Jahr 1967 erstmalig ausgestrahlte ZDF-Fernsehreihe Aktenzeichen XY…ungelöst als Vorläufer.
Doch was reizt uns an solchen Sendungen? Ist es die Realität, die Spannung, vielleicht sogar die Furcht? Zwar werden in den meisten True-Crime-Formaten Fälle und Verbrechen bewusst schaurig und grausam inszeniert, deshalb auch der schlechte Ruf des Genres als Guilty Pleasure. Nicht jedoch bei Aktenzeichen XY, wie ich finde. Durch gekonnte Darstellung sollen hier relevante Aspekte zum Vorschein kommen, um das Verbrechen aufzudecken – in meinen Augen eine durchaus gute Tat. Der negative Beigeschmack des Genres True Crime geht eindeutig mit der oftmals überzogenen und übertrieben gewaltvollen Darstellung einher, was dann auch kaum mehr »true« ist, sondern reine Fiktion darstellt. Im Gegensatz dazu bedient sich die Fernsehreihe Aktenzeichen XY…ungelöst ausschließlich der Realität und minimalster Ausgestaltung.
True Crime auf Deutsch
Pünktlich zur Primetime um 20.15 Uhr lockt die Sendung zahlreiche Zuschauer:innen vor den Fernseher. Rund 700 Folgen kann das Format Aktenzeichen XY mittlerweile aufweisen. Dabei werden jährlich circa 12 Folgen ausgestrahlt und sollen dazu dienen, ungeklärte Straftaten mithilfe der Öffentlichkeit aufzudecken. In etwa zehnminütigen rekonstruierten Filmen wird den Zuschauer:innen der Tathergang gezeigt, damit sie anschließend die Polizei bei den Ermittlungen unterstützen zu können. Darüber hinaus gibt es noch die sogenannten Studiofälle. Hier werden im Anschluss an die nachgestellten Verbrechen live im Studio mit Expert:innen beziehungsweise leitenden Ermittler:innen oder Kommissar:innen relevante Gegenstände oder aber auch Phantombilder eingeblendet, die helfen sollen, den:die Täter:in zu überführen. Glaubt man den Angaben der Redaktion, dann werden im Schnitt rund 40 Prozent der ausgestrahlten Fälle gelöst – eine bemerkenswerte Zahl. Doch was steckt hinter dem Erfolg von Aktenzeichen XY… ungelöst?
Selbstverständlich hat das Aktenzeichen XY wenig mit der professionellen Aufmachung von amerikanischen True-Crime-Serien zu tun. Dagegen wirkt es schon fast altbacken, schlicht und wenig aufregend, dennoch gehört das Format zu den Dauerbrennern bei den ZDF-Zuschauer:innen und das bereits seit einer Zeit, in der das Genre noch gar nicht populär war. Außen vor bleibt hingegen die so typische Effekthascherei. True-Crime Formate stehen häufig in der Kritik für die Sensationalisierung von Serienmörder:innen oder Beziehungstaten. Nicht jedoch bei Aktenzeichen XY, das auf harten Fakten basiert und dennoch geschickt mit minimaler Ausgestaltung in Form von erweiterten Dialogen den Nerv der Zuschauer:innen trifft. Warum ist das so – ist es vielleicht gerade der realitätsnahen Inszenierung von Aktenzeichen XY geschuldet? Denn die Sendung suggeriert wahre, sogar ungelöste Verbrechen, was eine erhöhte emotionale Reaktion bei uns auslöst. Wir werden dazu animiert, uns rekonstruierte Fälle anzusehen, um den wahren Übetätern auf die Schliche zu kommen – eine Chance, selbst Detektiv zu spielen. Im Unterschied zu anderen True-Crime-Formaten wie beispielsweise Podcasts ist bei Aktenzeichen XYwohl vor allem das aktive Mitmach-Element der ausschlaggebende Grund für die Beliebtheit der Fernsehreihe: Die Zuschauer:innen können hier selbst Detektiv spielen. Zugegebenermaßen sitze auch ich selbst jedes Mal wieder gespannt vor dem TV und frage mich, ob ich nicht rein zufällig, ohne es zu ahnen, Zeuge einer Straftat geworden bin und der Polizei wichtige Hinweise liefern kann.
Realität toppt Fiktion
Reihe
Ob Essen oder Popkultur: Der Begriff »Guilty Pleasure« beschreibt alles, für das wir uns schämen, wenn wir es mögen. Doch warum glauben wir überhaupt, dass mancher Genuss schamvoll ist? In unserer Reihe »Unguilty Pleasures« wollen wir dem Begriff auf den Grund gehen und ihn dabei hinterfragen. Dafür erzählen Litlog-Autor:innen, welche Unterhaltungs-Genres und Trash-Formate sie am liebsten konsumieren – und fordern: Vergnügen ohne Scham! Weitere Beiträge findet ihr hier.
Trotzdem scheint es moralisch nicht ganz einwandfrei, voller Spannung auf die nächste Folge Aktenzeichen XY…ungelöst zu warten, und den kommenden Verbrechen hinzufiebern. In ihrer erst kürzlich erschienenen Kolumne Boulevard für Besserverdienende greift Margarete Stokowski die Diskussion rund um das Genre True Crime auf und weist dabei insbesondere auf den pietätlosen Charakter zahlreicher Formate hin. Ein wenig morbide Faszination ist bei der Begeisterung für das Gerne wohl dabei – und vielleicht auch nachvollziehbar. Denn wenn wir einmal ehrlich zu uns selbst sind: Verbrechen haben die Menschheit schon immer fasziniert, denkt man zum Beispiel an Jack the Ripper, dessen Identität heute noch Anlass zu Spekulationen gibt.
Liegt das Interesse für Kriminalität also etwa in der Natur des Menschen? Angesichts der Vielzahl an True-Crime-Formaten scheint dies gut möglich. Zudem war die Öffentlichkeit stets ein wichtiger Faktor bei der Aufklärung von Verbrechen: So konnten in den letzten Jahren zahlreiche Missbrauchsskandale aufgedeckt werden, auch durch die Debatte rund um #metoo. True Crime hat das Potenzial, gesellschaftlich ähnlich zu wirken. Um die Sensation rund um das Thema reale Verbrechen aufrecht zu erhalten wurde bei Aktenzeichen XY mittlerweile sogar der XY-Preis – Gemeinsam gegen das Verbrechen ins Leben gerufen, der Menschen, die mit ihrem Einsatz Kriminalfälle verhinderten oder gar aufdeckten, ehren soll. Wohl auch ein möglicher Grund für den Zulauf der Reihe Aktenzeichen XY…ungelöst, die durch ihr Programm, reale Verbrechen nicht nur aufzuzeigen, sondern auch aktiv an ihrer Auflösung beteiligt zu sein, zahlreiche Zuschauer:innen in ihren Bann zieht.
Alles in allem ist die ZDF-Fernsehreihe Aktenzeichen XY…ungelöst –vor allem wegen ihrer realitätsgetreuen Ausgestaltung und dem Potenzial, jahrelang zurückliegende Verbrechen aufzudecken anstatt sich nur zum Vergnügen zu gruseln – für mich ein Format, für das man sich keinesfalls schämen sollte.