Tiefenecholoten nationaler Zustände

Oksana Sabuschkos prophetisch anmutender Essay Der lange Abschied von der Angst (2016) nimmt den russischen Angriffskrieg in der Ukraine als logische Folge einer von Scham und Schuld fehlgeleiteten internationalen Politik und nationaler Traumata vorweg – ein Aufruf zum bewussteren Umgang mit Geschichte und Kultur.

Von Mareike Röhricht

Bild: Via Pixabay, CC0

Schon 2016 beschrieb Oksana Sabuschko in ihrem Essay Der lange Abschied von der Angst die deutlichen Vorzeichen russischer Gräueltaten, die dieser Tage in der Ukraine vollzogen werden. Anlass zu ihrer scharfsinnigen Skizze des erstarkenden russischen Totalitarismus bot Sabuschko ihre Lesereise nach Paris nach der Veröffentlichung der französischen Übersetzung eines ihrer Bücher im Dezember 2015. Damals stand ihr Pariser Publikum noch vollkommen unter den Eindrücken des Terroranschlags im Bataclan, der am 13. November 2015 ganz Europa erschüttert hatte und sich als »schwarzer Freitag« in die Gedächtnisse einschrieb. Erst Ende Juni dieses Jahres endete der außergewöhnliche Prozess gegen 20 Mittäter. Sabuschkos Lesereise nach Frankreich wurde vor dem Hintergrund dieses Anschlags für sie zu einer eindrucksvollen Erfahrung, wie ihre Beschreibung des Publikums zeigt:

Es handelt sich um das Publikum einer verwundeten Stadt. Das beste Publikum der Welt.

Diese Aussage beruht, wie sie erklärt, auf dem »Gefühl eines Déjà-vu«, denn ein Publikum in ähnlicher Verfassung hatte sie bereits bei einem Vortrag im Vorjahr in ihrer Heimat, der Ukraine – im »Kiewer Terrorwinter« – erlebt.

Und weil dieser vielen vielleicht nicht mehr allzu präsent ist (was sich ändern sollte), hier ein kurzer Exkurs: Dieser Winter begann am 22. Januar 2014, als der Regierungsgegner Jurij Werbizkij tot im Wald aufgefunden wurde. Keine zehn Tage später wurde der seit demselben Tag vermisste Oppositionsaktivist Dmitri Bulatow lebend, aber mit Folterspuren im Gesicht gefunden. Einen Monat später, am 22. Februar 2014, der als »schwarzer Donnerstag« in die ukrainische Geschichte einging – und auch im Gedächtnis Europas präsenter sein sollte – wurde Wiktor Janukowytsch durch Beschluss des ukrainischen Parlaments seines Amtes enthoben und Oleksandr Turtschynow übergangsweise zum neuen Präsidenten ernannt. Sabuschkos Essay ist auch eine Einladung dazu, die ein oder andere Suchmaschine oder Enzyklopädie zu konsultieren und sich näher mit der europäischen Geschichte und insbesondere der Bedeutung der Ukraine für die internationale Politik zu beschäftigen.

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Oksana Sabuschko
Der lange Abschied von der Angst

Übersetzung: Alexander Kratochvil
Literaturverlag Droschl: Graz 2018
64 Seiten, 13,00€

Von der Wirkung und Bedeutung von Kultur und Literatur

Was die Bevölkerung solcher in Folge politisch-ideologischer Attentate und Umbrüche unter Schock stehender Regionen laut Sabuschko zum besten Publikum der Welt macht, ist das gesteigerte Bewusstsein für die Wirkmacht und Bedeutung kultureller Veranstaltungen:

Ein Publikum, dass eine Kulturveranstaltung mit einer Haltung besucht, als ginge man auf die Barrikaden, es versteht intuitiv, dass man in diesem Krieg – sei es auch der dritte oder vierte Weltkrieg (wenn man den Kalten Krieg mitrechnet) – sich selbst anspornen muss: »Fürchte Dich nicht! Schwächeln gibt’s nicht!« (auch, wenn es nur um eine Abendveranstaltung geht).

Der Besuch einer kulturellen Veranstaltung ist immer auch Ausdruck einer Haltung, eines (kulturellen) Selbstverständnisses, ein Akt der Sichtbarkeit und des Sichtbar-Machens ausgewählter Werte und Normen. Es ist das Gegenteil von Kleinbeigeben oder Davonlaufen.

Aus dieser Überzeugung heraus und die ›schwarzen Tagen‹, fokussierend, die (inter-)national Schrecken auslösten, beginnt Oksana Sabuschko eine außergewöhnliche Gegenüberstellung zweier Nationen und ihrer inneren Zustände. Dabei reflektiert sie den übergeordneten Zusammenhang von Literatur und Kultur für das individuelle wie auch gesellschaftliche Selbstverständnis und betont besonders die Bedeutung der nationalen Literatur,  

die ihre ›Echolote‹ in die Tiefen des kollektiven Unbewussten senkt, wo sich die Umrisse der künftigen gesellschaftlichen Verwerfungen abzeichnen, die kein Soziologe aufzuspüren vermag – denn er hat dafür kein Instrument.

Sie zieht Parallelen zwischen Michel Houellebecqs Romanen und ihrem eigenen Schreiben auf thematischer wie auch stilistischer Ebene, übt jedoch Kritik am Umgang mit Houellebecqs Werk am Beispiel von Unterwerfung, einem Roman, den sie als »nachhaltige Erschütterung [ihres] Vertrauens in die Résistance des französischen Geistes« bezeichnet:

Wenn einer der namhaftesten Gegenwartsautoren Frankreich solche Dinge schreibt, sollte man das ernster nehmen als die tonnenweise auf Bestellung produzierte Propaganda. Denn es handelt sich dabei eben nicht um Propaganda, sondern um Diagnose, die aus dem Inneren des nationalen Organismus heraus stattfindet. Houllebeqc hat im Grunde seinem Vaterland den Akt der geistigen Kapitulation skizziert – und das lange vor dem Attentat des 13. Novembers 2015 und ›Charlie Hebdo‹ am 7. Januar 2015.

Für Sabuschko ist es undenkbar, dass ein:e ukrainische:r Autor:in ein vergleichbares Buch verfasst. Denn es würde bedeuten, sich der russischen Herrschaft nur mit der Bitte um Bewahrung der ukrainischen Kultur zu unterwerfen, weil »der Russe nun mal schon da ist«. Vermutlich sei die Erfahrung eines Lebens unter kolonialer Herrschaft, wie sie die Ukraine Frankreich voraushat, ausschlaggebend für die Verweigerung dieses literarischen Gedankenexperiments.

Ihr Essay von 2016, der sich aus heutiger Sicht liest wie die Prophezeiung des russischen Angriffskrieges, ist das logische Ergebnis einer aufmerksamen und ganzheitlichen Analyse der gesellschaftspolitischen Entwicklungen im Bewusstsein historischer Geschehnisse und Zustände, die in die Gegenwart fortwirken. Der Text stimmt mehr als nachdenklich – denn Sabuschkos Deutung der französischen Literatur der Gegenwart zeigt, dass alte, den europäischen Frieden bedrohende Kräfte, auch im Westen eine Renaissance erfahren. Es ist ein Aufruf zu einem verantwortungsvollen politischen Umgang mit historischen Geschehnissen und Zuständen, aus dem Wissen um deren anhaltende soziokulturelle und weltpolitische Wirkmacht heraus. Deutlich wird, dass vieles hätte verhindert werden können, hätten sich andere Nationalregierungen und Regierungszusammenschlüsse den Tatsachen gestellt, anstatt unnötige und lebensgefährliche Nachsicht aus wirtschaftlicher Bequemlichkeit und historischen Schuldgefühlen heraus walten zu lassen. In den Massakern in der Ukraine brechen sich, wie Sabuschko in einem Gastbeitrag in der NZZ schreibt, russische Machtgier und Enttäuschung, Neid und Angst aus unaufgearbeiteten und weitervererbten Traumata der Sowjetunion Bahn.

Von anderen Tiefenmessinstrumenten und der »ukrainisch-barocken Üppigkeit«

Komplexe Sätze, samt langer oft eingeklammerter Einschübe und voraussetzungsreiche Verweise, sind charakteristisch für den Stil des Essays. Aber es lohnt sich durchaus, den ein oder anderen Satz ein zweites Mal (am besten laut!) zu lesen und sich auf der Zunge zergehen zu lassen: Denn wer dranbleibt, kann Gefallen an dem bitteren Humor finden, mit dem sich Sabuschko das für sie Offensichtliche von der Seele schreibt. Pointen- und spitzenreiche, zuweilen flapsig formulierte Folgesätze – von oft ebensolcher Länge – belohnen das Durchhaltevermögen. Neben den nationalen Literaturen zieht sie zur Ausleuchtung des nationalen Unterbewusstseins erwähnter Nationen auch Überlegungen aus ihrem Roman Feldstudien über ukrainischen Sex heran, in dem sie aus sexuellen Vorlieben – gemessen an den Klick-Raten auf Pornowebsites – nationale Machtverständnisse und -verhältnisse ableitet und erläutert. Hinsichtlich des russischen Klickhits »Analsex« konstatiert sie schließlich:

Hierbei handelt es sich nicht um einen ›nationalen Eros‹, denn genau genommen gibt’s hier auch keinen ›nationalen Körper‹, der ›Andere‹ als Lustobjekt existiert nicht, es existiert nur die symbolische Repräsentierung der Herrschaft, die sich selbst Quell des Orgasmus ist (was etwa Vladimir Sorokin anschaulich in der Szene mit der ›Raupe‹ in Der Tag des Opritschniks zeigt, dem Roman, der seinerzeit von den ukrainischen Massenmedien übergangen wurde, da sie voll und ganz damit beschäftigt waren, Sachar Prilepin anzupreisen, und zwar bis zum sogenannten russischen Frühling 2014).

So verworren manche Sätze auf den ersten Blick auch erscheinen mögen – die Lektürearbeit lohnt sich, denn Oksana Sabuschko benennt Dinge schonungslos und enthüllt so, was in gesellschaftspolitischen Diskursen sprachlich allzu oft kaschiert wird; der Begriff des Krieges fällt, die Zustände von 2016 bezeichnend, nicht nur einmal. Damit wird die Frage aufgeworfen, seit wann Russland und die Ukraine sich eigentlich tatsächlich im Krieg miteinander befinden und, noch basaler, die Frage, was Krieg eigentlich bedeutet. Im letzten Kapitel des Essays schließt sich in logischer Konsequenz die Frage an, wie und inwiefern die Ukrainer:innen diesen Krieg gewinnen können. Wieder bemüht sie literarische Vorbilder zur Klärung der situativen Sachverhalte: Sie stellt die international betriebene russische (Des-)Informationspolitik aus Demoralisierungs- und Destabilisierungskampagnen neben Kunderas Gefährliche Liebschaften, genauer den Vicomte de Valmont, der für den Sittenverfall des Ancien Régime steht.

Manche Analogie, wie etwa diese, irritiert kurzfristig und sicherlich sind manche Thesen in diesem Heft diskutabel. Diskussionswürdig, weil brisant, war der Essay allerdings vor allem mit Blick auf die internationale Politik schon zu seinem Erscheinen – was versäumt wurde, nämlich hinzusehen, zu diskutieren und sich zu solidarisieren, sollte schnellstens mindestens lesend nachgeholt werden.

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