Tiefe Abgründe

Triggerwarnung: Sexueller Missbrauch, häusliche Gewalt

Monster, die die Zeit überdauern: Ulrike Almut Sandig thematisiert einen nie endenden Teufelskreis von körperlicher und seelischer Gewalt, der in der Kindheit seinen Ursprung findet. Monster wie wir hält der Gesellschaft skrupellos den Spiegel vor das Gesicht.

Von Jasmin Ritter

Bild: Via Pixabay, CC0

Die Lyrikerin Ulrike Almut Sandig weiß mit Sprache umzugehen. Dies beweisen die zahlreichen Dichtungen und anderen klangkünstlerischen Werke, für die sie unter anderem mit dem Wilhelm-Lehmann-Preis ausgezeichnet wurde. Nun versucht sie sich in der Gattung Prosa und glänzt auch hier durch assoziatives Geschick. Ihr Erzählen ist ein aufwühlender Wechsel aus Andeutung, Vermutung, Metapher und tatsächlicher Äußerung, der viel Spielraum für eine individuelle Interpretation lässt. Der Debütroman Monster wie wir thematisiert häusliche Gewalt und den Missbrauch von Kindern im Familienumfeld und ist derart komplex, dass ein gelegentliches Zurückblättern nicht ausbleibt.  

»Und wie eine richtig gute Geschichte hat sie weder Anfang noch Ende«

Der Roman ist in drei große Abschnitte gegliedert. Hinzu kommt ein kurzer Prolog, in dem die Protagonistin und Musikerin Ruth einen intensiven Einblick in ihre gegenwärtigen Gedanken gewährt. Ihre Worte richten sich an ihren Lebenspartner Voitto. Bereits beim Erzähleinstieg werden Hinweise auf Ruths Vergangenheit preisgegeben, die sich erst zu einem späteren Zeitpunkt einordnen lassen.

Im ersten Abschnitt erzählt Ruth rückblickend von ihrer Kindheit und der ihres besten Freundes Viktor. Auch da spricht sie immer wieder Voitto an und erläutert bestimmte Vorkommnisse, sodass sich ein Gefühl von Vertrautheit einstellt und eine intime Gesprächsbasis zu den Lesenden aufgebaut wird.  In einer auf Viktor fokussierten, auktorialen Erzählung wird im Anschluss die Jugend beider Protagonist:innen geschildert. Viktors Teil steht dabei nicht einzig durch die Änderung der Fokalisierung in einem starken Kontrast zu den anderen. Während Ruths Geschichte durch eine besondere Ausdrucksstärke und einen beinahe poesiehaften Erzählstil hervorsticht, wirkt die darauffolgende Rahmenhandlung aus Viktors Perspektive sprachlich unüberlegter und inhaltlich teilwiese sehr pathetisch. Im letzten Abschnitt ergreift Ruth wieder das Wort und rekapituliert die prägendsten Erlebnisse ihrer konfliktreichen Beziehung mit Voitto.

»Also nochmal von vorn. Komm schon. Da capo al fine.«

Die kleine Ruth und ihr Bruder Fly wachsen in einem Pfarrhaus im Ostdeutschland der späten DDR-Jahre auf. Bei Ärger gibt es selbstverständlich Klapse auf den nackten Po. Richtige Prügel zu bekommen, ist was anderes, da sind sich beide Kinder einig. Und auch sonst ist alles ganz normal. Fly quält Tiere und Ruth ist überzeugt davon, dass ihr Großvater ein Vampir ist. Für die Eltern ist das kaum beunruhigend und deshalb wird auch nicht weiter darüber gesprochen. Im Kindergarten lernt Ruth den schneeblonden Viktor kennen, der mit seinem »faltigen Lächeln« aussieht wie ein Troll. Gegenseitig vertrauen sich die beiden beinahe all ihre Geheimnisse an. Viktor liebt den Mond und fürchtet sich vor den Wochenenden. An denen kommt seine unausstehliche Halbschwester mit ihrem Mann vorbei. Nur Ruth weiß, welche furchterregenden Sachen sein Schwager mit ihm macht, wenn dieser ihn in seinem Kinderzimmer besucht. 

Ruth entflieht mit Leib und Seele in die Musik, während Viktor, im Versuch, der Angst vor seinem Schwager aus dem Weg zu gehen, bei einer Gruppe Neonazis Zuflucht findet und seine Gefühle gänzlich abstellt. In seiner Jugend droht er dem Rausch der Gewalt vollständig zu verfallen, doch stattdessen beschließt er abzuhauen. Er verlässt seine Heimat, um ein Au-pair-Jahr in Frankreich anzutreten. Dass Viktor dort in eine Familie mit ebenso gravierenden Schwierigkeiten gerät, kann er nicht ahnen.

»War es wirklich Großvater – oder nur ein übler Traum?«

Im Kindesalter versucht Ruth ihre traumatisierenden Erlebnisse und das daraus entstehende Gefühlschaos mit dem Einsatz von Fantasie zu bewältigen. Sie nimmt ihren Großvater als düsteres Wesen wahr, das sie zunehmend aussaugt und nachts an ihrem Bett verweilt. Durch das Hinzuerfinden und Weglassen von Details ist Ruth sich schließlich selbst nicht mehr sicher, was Wahrheit und was Fiktion ist.

Die Autorin verweigert auch der erwachsen gewordenen Ruth eindeutig zu werden, wenn es um ihre Missbrauchserfahrungen geht. Die Lesenden erkennen so erst spät die vollständige Reichweite des Horrors, wodurch der plötzlich auftretende Schock des Erkennens und dessen Nachwirkung noch gewaltiger sind. Die Gewalttaten, die Viktor und schließlich auch die Kinder der Gastfamilie erleben, werden hingegen deutlich ausführlicher beschrieben als die von Ruth, zuletzt sogar derart detailliert, dass das Lesen an diesen Stellen zur Qual wird.

»War nur Spaß, lachte ich verlegen.«

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Ulrike Almut Sandig
Monster wie wir

Schöffling: Frankfurt am Main 2020
240 Seiten, 22,00€

Bei den wenigen Versuchen, die Eltern auf die Übergriffe aufmerksam zu machen, werden die Andeutungen der Kinder ignoriert oder heruntergespielt. Die im Laufe der Handlung immer offensichtlicher werdenden Warnsignale werden sowohl von Ruths als auch von Viktors Familie und der Gastfamilie übergangen. Die Mutter aus Viktors Gastfamilie weiß über die Gewalttaten ihres Mannes Bescheid. Sie sieht zuletzt mit eigenen Augen, wie dieser sich an ihrem Sohn vergeht. Daraufhin vertuscht sie aktiv die schrecklichen Vorfälle und verantwortet, dass ihre Kinder weiterhin dieser Gefahr ausgesetzt sind.

Gewalt zieht sich durch alle Generationen. Besonders deutlich wird dies durch das Verhalten und die Schilderungen von Ruths Mutter, die mit ihren Geschwistern ebenfalls unter den Gewalttaten ihres Vaters litt: »Die einen hatten Bisse am Hals. Die anderen rote Backen, Hintern oder blaue Rücken. Manche hatten beides. Das ist wie Karies, sagte Mutter im Vorbeigehen.« Als die kleine Ruth der Mutter kurz darauf offenbart, dass ihr Opa ein Vampir ist, reagiert diese erschrocken und verzweifelt, bleibt allerdings untätig. Verunsichert kichernd widerruft die Tochter ihre Anschuldigung.

»Alles ist gleichzeitig da, Vergangenheit und Gegenwart, das wiegt schon einiges.«

Die Erzählung illustriert einen nie endenden Teufelskreis, dessen Eindrücklichkeit durch die geschickte Machart des Romans unterstützt wird. Bei jeder Chance auf Heilung, die insbesondere bei Viktor angedeutet wird, tritt nach einem anfänglichen Misstrauen erneut eine Katastrophe ein. Alle beschriebenen Szenarien wirken in ihrer Skrupellosigkeit erschreckend glaubwürdig und werden kaum abgefedert. Sowohl die psychische als auch die physische Flucht werden als unwirksame Lösungsansätze dargestellt. Die Verharmlosung von Gewalt, das Scheitern von Bewältigungsversuchen und das Sich-Abfinden der Opfer mit ihrem Schicksal machen hoffnungslos. Betroffene Personen sollten sich der expliziten Darstellungen bewusst sein und sich nur damit auseinandersetzen, wenn sie es möchten.

Ulrike Almut Sandig zeigt gesellschaftsinterne Belastungen auf, die ihre Aktualität nie verlieren. Kindesmisshandlung und häusliche Gewalt sind tatsächlich trauriger Alltag: Im Jahr 2019 wurden 3.430 Fälle von Kindesmisshandlung angezeigt, die Polizei geht jedoch besonders im Bereich von sexuellen Gewaltdelikten im Familienumfeld von einer hohen Dunkelziffer aus. Ein solches Trauma sitzt tief und wiegt nicht nur einiges, es ist eher kaum zu bewältigen. 

Die Radikalität des Romans provoziert die ein oder andere Diskussion und rückt die dargestellte Thematik in die Öffentlichkeit, wo diese bislang nur wenig behandelt wird. Viele Missbräuche werden aus Scham oder Angst vor den beschwerlichen Gerichtsverfahren und den verhältnismäßig milden Strafen für die Täter:innen nicht gemeldet. Damit sich daran etwas ändern kann, ist eine breite Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Missständen besonders wichtig. Die Sensibilisierung kann unter anderem eine Normalisierung von psychologischer Hilfestellung ermöglichen.

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