Mit dem Vortrag Stück für Stück ins Grab. Abschied vor 4000 Jahren wird eine Sonderausstellung transparent gemacht, die von Masterstudierenden und Promovierenden des Seminars für Ur- und Frühgeschichte der Uni Göttingen im Archäologischen Museum Wolfenbüttel konzipiert wurde.
Von Dominique Franke
Bild: Ausschnitt aus dem offiziellen Plakatentwurf zur Vortragsreihe »Um die Ecke gedacht – Perspektiven geisteswissenschaftlicher Nachwuchsforschung«
Ein Rätsel der Archäologie
Der Schöninger Braunkohletagebau hat bereits mit den 300 000 Jahre alten »Schöninger Speeren« internationale Bekanntheit erlangt. Im Oktober des Jahres 2000 eröffnete sich hier für die archäologische Fachwelt eine neue Sensation: Ein kleines Gräberfeld der sogenannten »Glockenbecherkultur«. Die Knochen der Toten aus insgesamt sechs freigelegten Gräbern trugen teilweise Spuren offensichtlicher Gewalteinwirkung. Was auf den ersten Blick wie eine martialisch anmutende Bestattung wirkte, offenbarte sich beim näheren Hinsehen als ein Ausdruck von Fürsorge und Hingabe: Anthropologische Untersuchungen am Knochenmaterial belegten sowohl ein mehrstufiges Totenritual, als auch den Nachweis einer fachkundigen medizinischen Versorgung vor mehr als 4000 Jahren.
Dieser spektakuläre Befund gab Anlass zu einem nicht ganz alltäglichen Projekt. Durch eine Kooperation vom Braunschweigischen Landesmuseum und dem Seminar für Ur- und Frühgeschichte Göttingen wurde es StudentInnen ermöglicht, eine eigene Ausstellung zu konzipieren, die seit dem 10. März dieses Jahres im Archäologischen Museum Wolfenbüttel zu besichtigen ist.
Ein besonderer Fundplatz
Das kleine Gräberfeld lag prominent auf einer Hügelkuppe. Es wurden die Bestattungen von drei Männern und zwei Frauen sowie eine Kinderdoppelbestattung freigelegt. Aufgrund der Ausrichtung der Bestatteten und der Beigaben ließ sich das Gräberfeld der jungsteinzeitlichen Glockenbecherkultur zuordnen. Nach der Entdeckung der Gräber wurde klar, dass eine sachgerechte, wissenschaftliche Dokumentation im Gelände zeitlich unmöglich war. Es erfolgte daher eine Bergung der Gräber im Block – also mit dem sie umgebenden Erdreich –, um sie dann unter anderem im Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege unter Laborbedingungen freilegen zu können.
Es stellte sich heraus, dass einer der bestatteten Männer eine besondere Fraktur am Schädel aufwies. Offenbar wurde er im Alter von 65 Jahren mittels einer Streitaxt erschlagen. Die computertomographische Untersuchung ergab, dass der Mann die Verletzung am Schädel aufgrund der Knochenheilung mindestens sechs Monate überlebt haben muss. Dies spricht für eine vortreffliche Wundversorgung. Zudem konnte durch den Beleg von stark einseitig ausgeprägten Muskelmarkern an den Armen, unabhängig vom archäologischen Befund, ein Bogenschütze identifiziert werden. Dies ist deshalb so besonders, da ArchäologInnen von einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 40 Jahren in diesem Zeitraum ausgehen und man älteren Menschen keine Tätigkeit als Krieger mehr zugeschrieben hätte. Der Fund von Schöningen erzählt eine andere Geschichte. Ein betagter Mann, der noch ausgesprochen fit war für sein Alter, fällt im Kampf und wird über Monate hinweg versorgt und behandelt.
Reihe
Die Vortragsreihe der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen (GSGG) Um die Ecke gedacht – Perspektiven geisteswissenschaftlicher Nachwuchsforschung bietet an insgesamt fünf Terminen Einblicke in diverse Forschungsfelder der Geisteswissenschaften. Essays der Vortragenden werden auf Litlog veröffentlicht und bieten einen Ausblick auf Themenbereiche, für die häufig »um die Ecke gedacht« werden muss. Der nächste Vortrag findet am 18. Mai um 18.15 Uhr statt.
Eine weitere Besonderheit stellt zudem die Bestattung einer fünfzigjährigen Frau dar. Anthropologische Untersuchungen ergaben bei ihr eine trapezförmige Schädelfraktur durch Schlageinwirkung. Offenbar hatte sie einen gewaltsamen Tod gefunden. Des Weiteren befanden sich Schnittkerben seitlich des Hinterhauptloches und auf der Schädelbasis, die durch eine Abtrennung des Schädels vom Rumpf verursacht werden. Zudem wurden der Frau Zähne entfernt. Ebenso fehlen zwei Halswirbel, die rechte Kniescheibe sowie viele Hand- und Fußknochen. Für eine zeitweilige Lagerung an der Erdoberfläche sprechen feine Oberflächenrisse an den Knochen und das Abblättern der oberen Knochenschicht sowie Hinweise auf Nagespuren am Ende des rechten Waden- und linken Schienbeines. All diese Indizien deuten darauf hin, dass dieser Frau ein mehrstufiges Totenritual zuteil wurde. Offenbar wollte man sie auf besondere Weise würdigen. Mehrstufige Totenrituale bedeuten weitaus mehr Aufwand für die Hinterbliebenen und sprechen für eine besondere Position der Verstorbenen in der Gemeinschaft sowie für eine spezielle Fürsorge für die Toten. Das Skelett der Frau weist starke Muskelmarker auf. Möglicherweise war sie ebenfalls eine Kriegerin, auch wenn sich dies archäologisch anhand von Fundmaterial nicht nachweisen lässt. Vielleicht ist sie im Kampf gestorben. Die Aufbahrung im Freien nach dem Tod könnte ein Reinigungsritual dargestellt haben. Warum der Schädel abgetrennt wurde, manche Knochen fehlen oder bewusst nicht im anatomischen Verband ins Grab gelegt wurden, kann nicht genau erklärt werden. Doch jeder Schritt muss eine Bedeutung für die damalige Gemeinschaft gehabt haben. Es kann erwartet werden, dass der Schädel später als die restlichen Gebeine ins Grab gegeben wurde, um die Verstorbene noch etwas länger zu ehren.
Das Phänomen »Glockenbecherkultur«
Die Glockenbecherkultur wurde nach den Gefäßen benannt, die mit in die Gräber gelangten. Stellt man diese auf den Kopf, erinnert die Form stark an eine Glocke mit aufwändigen Verzierungen. Die Verbreitung der Glockenbecher wird als inselartig über Westeuropa hinweg dargestellt. Die Datierungen sprechen jedoch für einen Ursprung in Portugal. Sind die Menschen damals von Portugal in den Norden gewandert und verbreiteten neben anderen Gruppen ihr Wissen zur Metallverarbeitung und boten sich als Kämpfer an? Oder wanderte nur die Idee?
Egal wie es sich verhalten hat, die ArchäologInnen erfassen immer wieder Einzelbestattungen oder kleine Gräberfelder, die auf ein und dieselbe Weise europaweit angelegt sind. Alle Gräber sind nach Nord-Süd ausgerichtet. Die Blickrichtung der Toten geht nach Osten und es erfolgt eine Unterscheidung in der Niederlegung nach Geschlecht. Männer wurden als linksseitiger Hocker mit dem Kopf im Norden und Frauen als rechtsseitiger Hocker mit dem Kopf im Süden bestattet (die sogenannten »Hockerbestattungen« beschreiben die Hocklage von Toten, platziert in bestimmte Himmelsrichtungen).
Abgesehen von Glockenbechern können sich auch geflügelte Flintpfeilspitzen, »Armschutz«-Platten, V-durchlochte Knöpfe, Perlen und Nadeln aus Bernstein und Knochen sowie Kupferdolche in den Gräbern befinden. Allerdings liegen auch Gräber ohne jegliche Beigaben vor.
Bestanden hatte die Glockenbecherkultur von etwa 2500 bis 2050 v. Chr. Abgesehen von 300 Jahren überschneidet sie sich somit mit einer anderen archäologischen Kulturgruppe, der »Einzelgrabkultur« oder »Schnurkeramischen Kultur«. Diese Kultur war wiederum über große Teile Europas verbreitet und hier ist ebenfalls ein konkretes Schema für die Bestattungen überliefert. Die Bestattungen erfolgten nun mit einer West-Ost-Ausrichtung. Der Blick der Toten richtet sich gen Süden. Männer wurden entsprechend als rechtsseitiger Hocker mit dem Kopf im Westen und Frauen als linksseitiger Hocker mit dem Kopf im Osten niedergelegt. Es erfolgte somit eine genau umgekehrte Bestattungsweise, die dennoch sehr ähnlich ist. Wollten sich die »Glockenbecherleute« von den »Einzelgrableuten« abgrenzen? Welche Kontaktpunkte haben sie? Waren es wirklich unterschiedliche Gruppierungen? Wo siedelten sie?
Mit dem Vortrag am 20. April laden wir dazu ein, noch tiefer in diese faszinierende Zeit vor mehr als 4000 Jahren einzutauchen und möchten ebenfalls erläutern, wie aus drei Konzepten zu einer Ausstellung ein einziges wird, das sich sehen lassen kann.