Spannungsvolle Zeiten im Zentrum

»Haben wir zu wenig Literatur?«, diese Frage hat sich das Team des Literarischen Zentrums bei der Zusammenstellung des neuen Frühjahrsprogramms selbst gestellt. Dabei zeigt das am 23. Januar vorgestellte Programm, wie wenig politische Themen in der Gegenwart auch im Bereich der Literaturveranstaltungen wegdenkbar sind.

Von Sophie-Marie Ahnefeld

Bild: Sophie-Marie Ahnefeld

Es ist die Farbe ›Lilac Breeze‹, die die neuen Programme des Literarischen Zentrums Göttingen in diesem Frühjahr ziert und als Hintergrund für die markanten Veranstaltungsplakate dient, die schon bald wieder das Stadtbild prägen werden – »vormals auch als Flieder bekannt«, wie Gesa Husemann schmunzelnd hinzufügt. Eine frische Brise soll nun auch das von Husemann und ihrer Co-Leitung Anna-Lena Markus vorgestellte Veranstaltungsprogramm bringen. Dazu Markus: »Wir haben ganz starke Stimmen im Programm, viel, was wirklich hochliterarisch ist.«

Gleich die erste Veranstaltung darf sich zweifelsohne dieser Beschreibung rühmen. Am 6. und 7. Februar wird Ulrike Draesner die diesjährige Lichtenberg-Poetikvorlesung halten. In der Paulinerkirche lotet Draesner an zwei Abenden unter dem Titel »Sich ein Herz fassen« die Grenzen des Denkbaren aus, erforscht die Räume des Sprechens und fragt: Wer ist das eigentlich, die hier spricht? Was bedeutet dieses ›Ich‹? Spannend sind diese Fragen gerade mit Blick auf unser allgegenwärtiges Gesprächsgegenüber der KI, die spricht, ›Ich‹ sagt und doch kein ›Ich‹ ist… richtig? Die Laudatio wird Literaturkritikerin Insa Wilke halten.

Neues Format für Schreibworkshops

Dass sich das Literarische Zentrum in seinem Wirkungsbereich nicht allein auf Literaturproduktion beschränkt, sondern zudem ein gesteigertes Interesse an literarischen Schaffensprozessen und Nachwuchsförderung hat, bezeugt der erstmalig am 18. Februar stattfindende Schreibtreff »Schreibgeschützt«. In Kooperation – sowieso ein Stichwort, dass die Veranstaltenden immer wieder betonen – mit weiteren niedersächsischen Literaturhäusern soll damit ein Grundstein für zukünftige Schreibtreffen und Workshops gelegt werden. Das Besondere: Die thematische Ausrichtung richte sich nach dem Interesse der Teilnehmenden und werde sich im Verlauf der Treffen formen.

Luisa Neubauer fragt nicht, was wäre, wenn wir mutig wären. Sie fragt: Was wäre, wenn wir mutig sind? (Rowohlt 2025). Am 28. Februar gibt die Klimaaktivistin im Hörsaal ZHG 010 Antworten darauf, wie wir noch über das Klima sprechen können, während das politische Klima zuletzt vor allem durch Resignation geprägt ist. Den politischen Nerv der Zeit trifft auch die Veranstaltung am 7. März: Dmitrij Kapitelman fühlt in Russische Spezialitäten (Hanser Berlin 2025) einer vergangenen Nostalgie an das Kyjiw seiner Kindheit nach, bis der russische Angriffskrieg auf die Ukraine alles veränderte und sich die russische Propaganda bis hinein in sein nächstes Umfeld, sein Elternhaus, gefressen hat.

Am 13. März spricht Literaturredakteur Alexander Solloch mit Jakob Hein über dessen absurd komischen Roman Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste (Galiani 2025). Höllenfahrt & Entenstaat (kookbooks 2024) nennt sich der Lyrikband von Monika Rinck, den diese am 8. April im Gespräch mit Anna Bers vorstellen wird. Mit an die 200 Sachen wird an diesem ›Lyrikabend‹ sprachlich über die Autobahn gefetzt, Richtung Unterwelt und schließlich hinein in den Entenstaat. Lahme Enten? Nicht bei Monika Rinck!

Über die Reichen, Rechten und Mächtigen

Dass Çiğdem Akyol sich mit Geschichte auskennt, konnte unter anderem ihre Erdoğan-Biografie zeigen. Dass sie außerdem Geschichten schreiben kann, beweist sie mit ihrem nun erschienenen Debütroman Geliebte Mutter – Canım Annem (Steidl 2024), den sie am 24. April mit Anke Detken besprechen wird. Die Macht des Geldes rückt am 29. April Julia Friedrichs im Gespräch mit Berthold Vogel in den Fokus. In ihrer Reportage Crazy Rich (Berlin Verlag 2024) ist ihr das Unwahrscheinliche gelungen: Ins Gespräch zu kommen mit den crazy rich. Schwindelerregend sind nicht nur die Nullen, die sich bei manchen Menschen auf dem Bankkonto aufreihen, auch die Figuren Ava und ihre Liebhaber:innen, die plötzlich gemeinsam auf einem Dach festsitzen, kommen ins Schwindeln. Am 9. Mai spricht Autor:in Hengameh Yaghoobifarah mit Alexandra Friedrich über den neuen, queeren Roman Schwindel (Blumenbar 2024).

Am 14. Mai kommen Julia Yael Alfandari und Lena Gorelik zusammen und zwar: trotzdem. Trotz zerbrechender Allianzen in der Welt, Mutlosigkeit, Entfremdung, eines allgemeinen Auseinanderdriftens, trotz all dessen – oder vielleicht auch gerade deshalb? – gibt es ihren Sammelband Trotzdem sprechen (Ullstein 2024), den sie mit Christian Röther diskutieren. Wie gelingt nun eine subtil suggestive Überleitung vom Rechtspopulismus zu Studentenverbindungen, um die es am 23. Mai gehen wird? Vielleicht gerade so. Im Deutschen Theater treffen hierzu der Regisseur des Stücks Das deutsche Haus Philipp Löhle und der Autor Leon Enrique Montero aufeinander und sprechen über studentische Verbindungen, an denen es in Göttingen nicht mangelt. Montero berichtet dazu in seinem Buch Reise nach Germania (suhrkamp nova 2025) von dem Selbstversuch, sich als »Schwarzer, steil links sozialisierter Typ aus armen Verhältnissen« in eine Hannoveraner Burschenschaft zu wagen.

Gartenblütenlese, gute Kommunikation und Thomas Mann

Pünktlich zum Juni dürfen wir uns auf eine Gartenblütenlese im Gemeinschaftsgarten Geismar mit Kenah Cusanit und Nataša Kramberger freuen. In Begleitung von Violine und Cello stellen die beiden Autorinnen am 5. Juni ihre Texte vor. Am 17. Juni treten dann die Philosophin Svenja Flaßpöhler mit ihrem Buch Streiten (Hanser Berlin 2024) und der Medienwissenschaftler Berhard Pörksen mit seinem Buch Zuhören (Hanser 2025) einander gegenüber. Mehr Streiten, sagt die eine, mehr Zuhören, sagt der andere. Besonders gelungen in den Vorüberlegungen: Moderiert wird der Abend von Freundschaftsforscher Janosch Schobin. Die vorerst letzte Veranstaltung ist für den 27. Juni geplant, Kennende wissen: Das ist nicht ganz der Geburtstag Thomas Manns, aber doch nah genug, um mit Tilmann Lahme und Kai Sina den 150. Geburtstag des großen Literaten zu feiern. In Sinas Was gut ist und was böse (Ullstein 2024) wird Mann als engagierten Demokraten porträtiert, in Thomas Mann. Ein Leben (dtv 2025) beschreibt Lahme den unglücklich liebenden Homosexuellen.

Wie breit aufgestellt das Zentrum in seinem Programmangebot ist, beweist nicht nur das Abendprogramm, sondern auch das von Marisa Rohrbeck vorgestellte Programm des Jungen Literarischen Zentrums, das neben einem Comic-Workshop in der Maßregelvollzugsanstalt Moringen mit Patricia Thoma und einem Familiensonntag mit Ralph Caspers noch viele weitere Highlights zu bieten hat.

Damit präsentiert das Literarische Zentrum ein vielseitiges Programm, das diverse drängende, aktuelle Debatten widerspiegelt und durch den »Zwang der Zeit« leitet, wie Markus bemerkt: »Die Aufgabe dieses Hauses ist es, Literatur zu präsentieren, zu vermitteln, spannende Texte einzuladen, die Aufgabe dieses Hauses ist es aber auch, gesellschaftlich zu arbeiten.« Die Mitarbeitenden haben sich zusammengesetzt und überlegt, welche Themen sie interessieren, auf die sie selbst keine Antwort haben. Daraufhin haben sie Menschen eingeladen, die sich mit genau diesen Problemen auseinandersetzen. Husemann ergänzt: »Draußen steht zwar ›Literaturhaus‹ dran, wir verstehen uns aber schon seit sehr langem als Debattenhaus. Die Zeiten, in denen man einfach eine:n Autor:in auf die Bühne gebracht hat und gesagt hat: ›Jetzt ließ mal vor‹, die sind vorbei.«

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