Sind wir zu sensibel?

In Svenja Flaßpöhlers neuem Buch Sensibel geht es um die zunehmende Sensibilisierung der Gesellschaft. Sie kritisiert dabei einige Aspekte dieser Entwicklung und ruft zu mehr Resilienz auf. Ob ihre Argumente überzeugend sind, ist zweifelhaft.

Von Magdalena Gerste

Bild: Via Pixabay, CC0

Die Philosophin Svenja Flaßpöhler thematisiert in ihrem Buch Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren die steigende Sensibilisierung unserer Gesellschaft. Dabei kritisiert sie, dass die zunehmende Empfindlichkeit zu weit gehe und stattdessen die Widerstandsfähigkeit der Einzelnen gestärkt werden sollte. Ob dieser Kontrast tatsächlich besteht, ist zweifelhaft.

Flaßpöhler stellt nachvollziehbar dar, dass sie die zunehmende Sensibilisierung für gesellschaftliche Ungerechtigkeiten wie Rassismus und Sexismus generell befürwortet. Allerdings betont sie auch, dass es mit der Sensibilität manchmal übertrieben werde. Als Beispiel nennt sie pauschale Verbote bestimmter Begriffe wie dem N-Wort, um eine mögliche rassistische Verletzung von diskriminierten Minderheiten zu verhindern. An dieser Stelle spricht Flaßpöhler sich für eine stärkere Differenzierung aus: Es sei ein Unterschied, ob das N-Wort im Rahmen eines historischen Theaterstücks, das auf die rassistische Kolonialgeschichte aufmerksam machen will, oder als Beleidigung verwendet werde.

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Svenja Flaßpöhler
Sensibel

Klett-Cotta: Frankfurt 2021
240 Seiten, 20,00€

Außerdem erklärt Flaßpöhler verschiedene philosophische Theorien, die unterschiedliche Sichtweisen auf die menschliche Empfindsamkeit darstellen. So beschreibt sie Nietzsches Ideal eines resilienten, also widerstandsfähigen Menschen, den Rückschläge nicht abschrecken, sondern stärker machen. In Kontrast dazu stellt sie andere Philosoph:innen wie Emmanuel Lévinas, die der Verletzlichkeit des Menschen eine berechtigte Bedeutung zuschreiben. Obwohl Flaßpöhler durchaus interessante Bezüge zu philosophischen Konzepten unterschiedlicher historischer Epochen herstellt, tragen diese nicht viel zur Suche nach einer Antwort auf ihre Ausgangsfrage bei. Die Theorien zeigen den Leser:innen zwar, wie Sensibilität philosophisch verstanden werden kann, aber erklären nicht, wie laut Flaßpöhler ein angemessenes Verhältnis zwischen Resilienz und Empfindsamkeit aussehen könnte.

Sensibel und resilient – widersprüchlich oder kompatibel?

Flaßpöhlers These des vermeintlichen Kontrasts von Sensibilität und Resilienz ergibt nicht zwangsläufig Sinn. Das wird bereits in ihrem Selbsttest zur eigenen Sensibilität am Anfang des Buches deutlich. Hier fordert Flaßpöhler ihre Leser:innen dazu auf, sich zwischen verschiedenen Handlungsoptionen zu entscheiden:

Sie sehen in den Abendnachrichten Bilder von einem gekenterten Flüchtlingsboot, unter den Ertrunkenen sind auch Kinder. A) Sie beginnen mit Ihrem Partner eine Diskussion darüber, wie solche Katastrophen zukünftig zu verhindern wären. B) Sie müssen sich spontan abwenden, weil Sie die Bilder des Leids schlicht nicht ertragen.

Aber ist es nicht denkbar, dass sensible Menschen gleichzeitig auch widerstandsfähig sein können? Vielleicht führt eine erhöhte Sensibilität für gesellschaftliche Probleme sogar erst zur Wahrnehmung dieser Probleme und folglich zur Motivation, dagegen Widerstand zu leisten? So kann die Person in Version A in Flaßpöhlers Beispiel nur über Lösungsmöglichkeiten diskutieren, weil sie sensibel für das Leid anderer ist. Der Widerspruch, den Flaßpöhler als Ausgangspunkt für ihr gesamtes Buch nutzt, wird auch in anderen Rezensionen, beispielsweise der Süddeutschen Zeitung oder der BR Kulturbühne, bezweifelt. Doch selbst wenn man Flaßpöhler zugesteht, dass diese Ambivalenz vorhanden ist, liefert ihr Buch keine Antwort auf diese Frage. Anstatt, wie in ihrer Einleitung als Ziel des Buches angekündigt, »die Sensibilität in ihrer Dialektik zu beleuchten […], um so Wege aus den Krisen unserer Zeit zu finden«, stellt sie am Ende ihrer Ausführungen lediglich fest, dass sowohl Resilienz als auch Sensibilität wichtig seien. Wie mit dieser Erkenntnis jedoch die von Flaßpöhler durchaus treffend benannten Probleme der Gegenwart, zum Beispiel die hochsensiblen und polarisierten Diskussionen im Internet, gelöst werden sollen, wird nicht deutlich.

Erotik am Arbeitsplatz

Besonders problematisch an Flaßpöhlers Buch sind ihre ungenauen Argumentationen. An vielen Stellen können die Leser:innen zwischen den Zeilen Flaßpöhlers eigene Meinung erkennen, die sie aber nicht explizit ausführt. So schreibt sie zu den Abstandsregeln in der modernen Gesellschaft, dass eine nette Berührung »des Kollegen am Arbeitsplatz« die Atmosphäre verbessern könnte. Allerdings relativiert sie dies im nächsten Absatz wieder und beschreibt, wie diese Berührung als sexuelle Belästigung verstanden werden kann. Offen bleibt an dieser Stelle, welche der beiden Ansichten Flaßpöhler selbst vertritt. Das wäre kein Problem, wenn sie sich für einen unpersönlichen Schreibstil entschieden hätte, der ihre eigene Meinung nicht preisgibt und einen Sachverhalt differenziert von mehreren Seiten beleuchtet. Doch stattdessen führt Flaßpöhlers Mittelweg zwischen einem analytischen und einem meinungsstarken Stil zur Verwirrung ihrer Leser:innen.

Während also an mehreren Stellen im Buch nicht ganz klar wird, was Flaßpöhler selbst denkt, bringt ihr Gespräch mit dem Philosophen Richard David Precht im ZDF mehr Klarheit. Hier kritisieren beide, dass durch die Verlagerung bestimmter Lebensbereiche in private Schutzräume »das Erotische« am Arbeitsplatz verloren gehe und dadurch die positive Herausforderung des sozialen Miteinanders verschwinde. Es käme zu einer Sterilisierung des öffentlichen Raums, nur um der zunehmenden Empfindlichkeit der Gesellschaft gerecht zu werden. Zwar betonen Precht und Flaßpöhler auch, dass sexueller Missbrauch am Arbeitsplatz keinesfalls annehmbar wäre, allerdings scheinen ihre anderen Äußerungen dem zu widersprechen. Es bleibt fraglich, wieso »das Erotische« überhaupt einen Raum am Arbeitsplatz einnehmen muss, an dem es doch um die Arbeit und nicht um sexuelle Interessen gehen sollte. Ebenso zweifelhaft ist, ob wirklich die Mehrheit der Gesellschaft Berührungen bei der Arbeit als »positive Herausforderung« ansieht und nicht eher als Belästigung.

Sensibilität als Hindernis für gemeinsames Essen

Ein weiteres Beispiel für Flaßpöhlers unplausible Argumentationen ist ihre Darstellung verschiedener Essgewohnheiten. Flaßpöhler zufolge wird das gemeinsame Essen immer schwieriger, wenn alle individuelle Vorstellungen dazu haben, wie sie sich ernähren wollen. »In dem Salat sind Nüsse? Dagegen bin ich leider allergisch. Fleisch? Ich bin Vegetarier. […] Je höher die Sensibilisierung, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass jeder allein is(s)t«. Flaßpöhler hat durchaus Recht damit, dass sich Essgewohnheiten immer weiter differenzieren und dies auch zu Spannungen führen kann. Doch kann man einer Person mit einer Allergie wirklich eine zu hohe Sensibilität vorwerfen, weil sie Lebensmittel meidet, die negative gesundheitliche Folgen für sie haben? Flaßpöhler stellt in ihrem Beispiel allerdings explizit Personen mit einer Nussallergie und vegetarische Personen auf eine Stufe. Dass sich vegetarisch lebende Personen jedoch im Gegensatz zu Menschen mit einer Allergie für diese Ernährung entschieden haben, übersieht sie vollkommen.

Auch in Prechts und Flaßpöhlers Gespräch wird die Ernährungsthematik als Beispiel für übertriebene Sensibilität angeführt. So geht es für Precht zu weit, »dass es Frauen gibt, die der Ansicht sind, man darf keine Milch trinken, weil das die Ausbeutung der weiblichen Kühe ist. Das eignet sich dann schon mal zum Schmunzeln«. Abgesehen davon, dass nicht nur Frauen Kritik am Konsum tierischer Produkte üben, können Veganer:innen Precht gute Gründe entgegenhalten, weshalb der Milchkonsum einer Ausbeutung von Kühen gleichkommt. Das Leiden in der Massentierhaltung ist längst ein anerkanntes Problem. Personen als »zu sensibel« zu bezeichnen, die sich für eine umweltschonende und leidfreie Ernährung einsetzen, ignoriert diese Argumente.

Obwohl Flaßpöhler interessante gesellschaftliche Phänomene benennt, die mit einer gesteigerten Sensibilität zusammenhängen, gelingt es ihr nicht, ihre Argumente schlüssig zu präsentieren. Dies ist vor allem enttäuschend, da sie als Philosophin diese Herausforderung besser meistern sollte. Vor allem feministischen Leser:innen werden ihre Ausführungen zum Gendern oder zum Umgang mit Opfern sexualisierter Gewalt negativ auffallen. Trotzdem lohnt es sich, ihr Buch zu lesen, wenn man sich für philosophische Sensibilitätstheorien interessiert oder mehr über die Ansichten außerhalb einer progressiven feministischen Weltsicht erfahren möchte.

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