Schweigen ist keine Option

Mit seinem Memoir Ich bin Linus leistet Linus Giese Aufklärungsarbeit am eigenen Beispiel. Er erzählt seine ganz persönliche Coming-Out Geschichte und vom Leben danach als trans Mann. Das Buch berührt und setzt sich zugleich deutlich für die Sichtbarkeit der trans Community ein.

Von Marie Goerz

Bild: Via Pixabay, CC0

»Ich bin Linus«,entgegnet der damals 31-jährige Linus Giese am Mittwoch, dem 4. Oktober 2017, einem Starbucks-Barista, der ihn nach seinem Namen fragt. Ein Name, den der studierte Germanist, Literaturblogger und Buchverkäufer schon lange für sich ausgewählt hatte, aber für den er noch nicht genug Mut besaß, um ihn auch auszusprechen. Mit diesen Worten, lautem Herzklopfen und dem Kaffeebecher in der zittrigen Hand beginnt er sein neues Leben als trans Mann.

Der Tag, an dem ich zum ersten Mal Linus sagte, war der Tag, an dem sich mein Leben in ein Davor und ein Danach teilte.

Nach jahrelangen Selbstzweifeln und Scham kann er nun endlich der Mann sein, der er seit seiner Kindheit träumt zu sein. Seine Autobiographie Ich bin Linus zeichnet den langen Weg für Giese, seinen Körper und seinen Identität nach seinem Coming-Out nach und setzt sich für die Sichtbarkeit und Akzeptanz von trans Menschen ein. Wie bereits auf seinem Twitter-Account, auf dem Gieses Follower:innen seit Jahren sein Leben begleiten können, schreibt er auch in diesem Buch verblüffend offen über seine zweite Pubertät, euphorische Gefühle in der Herrenabteilung, Arzt- und Therapiebesuche, körperliche Veränderungen und sogar sein Sexualleben. Auch dunkle Zeiten wie Hasskommentare im Internet, Stalking, Einsamkeit und Zweifel lässt er in seiner enorm persönlichen Geschichte, die die Leser:innen auf eine Reise voller Mitgefühl, Unverständnis, Wut und Bewunderung mitnimmt, nicht aus. Denn Schweigen ist für Giese keine Option.

Wie alles mit einem Kaffeebecher beginnt

Bereits seit seiner Kindheit ist Giese, der aufgrund seines Körpers lange von seiner Familie und Umgebung als Frau wahrgenommen wurde, sich sicher: Er ist ein Junge. Doch aus Sorge darüber, wie Menschen darauf reagieren könnten und weil ihm Begriffe wie trans, queer oder nicht-binär fehlen, um sich selbst verstehen und zugehörig zu fühlen, verschweigt er viele Jahre, wer er wirklich ist. Das Grundgefühl seiner Kindheit beschreibt Linus Giese mit dem verstörenden Song »Wrong« von Depeche Mode. Er wächst ohne Vorbilder auf, mit denen er sich identifizieren kann oder die ihm Hoffnung und Mut schenken und führt daher lange ein unglückliches Leben als lesbische Frau mit einem Geschlecht, das nicht seins ist und einem Namen, der nicht seiner ist.

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Linus Giese
 Ich bin Linus

Rowohlt Polaris: Hamburg 2020
221 Seiten, 15,00€

Als er 25 Jahre nach der Erkenntnis, ein Junge zu sein, das Coming-Out und somit den Schritt in ein neues Leben endlich wagt, erwartet Giese das Gefühl völliger Befreiung. Bestärkt durch die Akzeptanz und den Rückhalt seiner Freund:innen zieht es ihn nach Berlin, wo er unter seinem neuen Namen anfängt, in einer Buchhandlung zu arbeiten und seine Transition beginnt. Zunächst ändert er nach vielen bürokratischen Hürden auch offiziell seinen Namen. Der Wunsch nach dem passenden Körper bringt für Giese eine regelrechte Tortur an Arztbesuchen und Therapiestunden mit sich, die er jedoch hinter sich bringen muss, um Testosteron verschrieben zu bekommen.

Aufklärungsarbeit über das Leben danach

Von seiner Transition berichtet Giese in kurzen, fast Tagebucheintrag-ähnlichen Kapiteln, die durch ihre ungeschönte und ehrliche Erzählweise wirken wie Geschichten eines guten Freundes. Giese versucht mit seiner ganz persönlichen Geschichte ein Vorbild für alle trans Menschen zu sein, das ihm selbst immer gefehlt hat und widmet ihnen daher mit folgenden Worten das Buch:

Für alle trans Menschen, die dieses Buch lesen: Ihr seid gut, so wie ihr seid!

Mit der detaillierten Beschreibung seines Transitionsprozesses und dem Mut, auch die unschönen Momente zu thematisieren – wie den Schmerz einer Testosteronspritze, die qualvollen Besuche bei der Gynäkologin, das Gefühl der Dysphorie oder Schuldgefühle, wenn er sich selbst noch manchmal misgendert oder beim alten Namen nennt – leistet Linus Giese einen wichtigen Beitrag zur Aufklärungsarbeit.

Überhaupt spricht Giese in seinem Buch viele wichtige Dinge an. In der Selbstreflexion seiner ganz persönlichen Transition setzt er sich kritisch mit gesellschaftlichen Klischees und Erwartungen an eine Geschlechtsangleichung auseinander. Er zeigt, wie es ist, Tag für Tag dafür kämpfen zu müssen, als der Mensch anerkannt und akzeptiert zu werden, der man ist, nur weil das vom Körper zugewiesene Geschlecht nicht zur eigenen Identität passt. Dies offenbart zugleich auch, wie dankbar man dafür sein kann, sich über sowas keine Gedanken machen zu müssen und wie verletzend alltägliches Gendering ist. Linus Giese betont somit immer wieder, warum Sprache mächtig ist und weshalb wir bedachter mit ihr umgehen müssen. Indem Giese sein Innerstes preisgibt, öffnet er seinem Publikum die Augen, liefert Denkanstöße, selbst für Menschen, die sich bereits für tolerant und offen halten und macht die Problematik des binären Geschlechtersystems durch seine ganz eigene Geschichte greifbarer denn je.

Auch 2020 ist es keine Selbstverständlichkeit, sichtbar zu sein und laut zu sagen: Ich bin schwul, lesbisch, bisexuell, nichtbinär oder trans.

Trotzdem hat es für Giese nichts mit Mut zu tun, dieses Buch zu schreiben und seine intimsten Gedanken preiszugeben, um Geschlechterrollen aufzubrechen und für Anerkennung, Sichtbarkeit und Raum für trans Menschen zu kämpfen. Für ihn ist das überlebensnotwendig, damit er sein kann, wie er ist, und nicht länger etwas vortäuschen muss, um gesellschaftliche Erwartungen zu erfüllen. Das löst beim Lesen häufig Bewunderung aus.

Jeder Horizont kann diese Erweiterung gebrauchen

Auch wenn Ich bin Linus einfach geschrieben ist, ist es keine leichte Lektüre und benötigt immer wieder kurze Lesepausen, um die Thematik zu verarbeiten. Die Seiten des Buches, auf denen Giese von den Schattenseiten seiner Transition, dem Verdrängen der eigenen Identität, dem Hass im Internet, Einsamkeit, gewaltsamen sexuellen Erfahrungen, Stalking und sogar Bedrohung berichtet, sind erschreckend und bewegend zugleich. Es vermittelt nur eine Ahnung davon, wie schmerzhaft diese Aspekte seiner Transition gewesen sein müssen. Das beschämende Gefühl, die Angst und die Verzweiflung, die Giese in solchen Momenten gefühlt haben muss, werden eindrücklich vermittelt und schnüren beim Lesen die Kehle zu. Gieses Emotionen wirken durchgehend authentisch und sind für die Lesenden nachvollziehbar.

Die emotionale und persönliche Ebene, auf der dieses komplexe und in Deutschland noch immer kaum angesprochene Thema behandelt wird, schafft es ein vielseitiges Publikum anzusprechen: trans Menschen auf der Suche nach Informationen und Verbündeten, Eltern auf der Suche nach Rat oder allgemein am Thema interessierte Menschen. Linus Giese räumt mit Vorurteilen auf und unterbreitet mit seiner Geschichte ein Gesprächsangebot, ohne dabei den Anspruch absoluter Wahrheit zu erheben oder für alle trans Menschen sprechen zu wollen. Das macht dieses Buch wertvoll und gibt Hoffnung auf eine Gesellschaft mit mehr Empathie, Akzeptanz und Toleranz:

Ich wünsche mir, dass wir […] großzügig und wohlwollend bleiben, denn Unwissen bedeutet nicht immer gleich Feindlichkeit.

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