Schuld und Schirach

Ferdinand von Schirach gehört zweifellos zu den erfolgreichsten deutschen Schriftstellern der Gegenwart. In Regen beschäftigt er sich mit für ihn typischen Themen: Schuld, Justiz und Co. Doch zwischen Lamento und Kulturpessimismus geht die Substanz verloren. 

Von Marie Bruschek

Bild: via Pixabay, CC0

Eine Schuld lastet auf dem namenlosen Protagonisten, für die ihn kein Gericht verurteilen wird, eine Schuld, die niemand ihm erlassen kann: Ein für Ferdinand von Schirach typisches Dilemma, mit dem er seine Leser:innen in seinem neuesten Buch Regen – Eine Liebeserklärung, erschienen 2023 im Luchterhand Literaturverlag, konfrontiert. Von diesem eponymen Regen ist die Hauptfigur durchnässt, als sie eine Bar betritt, die zu ihrer Bühne wird: Der Protagonist beginnt in einem ausufernden Monolog zu philosophieren. Ob an eine einzelne Person oder ein ganzes Publikum gerichtet, das bleibt unklar. Sein eigenes existenzielles Drama inspiriert Gedanken zu Schuld, Vergebung, Liebe, dem modernen Menschen. Doch: An Substanz fehlt es dem Theatermonolog.

Autor ohne Werk                                                                                                                               

Ausgang ist – typisch Schirach – die Justiz. Der Protagonist wurde zum Schöffen berufen und besucht vor seinem Barbesuch den Ort, wo die Tat stattfand, über die er zu entscheiden hat: Es ist der Abend des ersten Verhandlungstages, es geht um Mord. Ein Streit zwischen einem Paar, der eskalierte die Frau wurde von ihrem Partner erstochen, verblutete auf den Treppenstufen. Nachdem der Protagonist 20 Minuten vor dem Haus des Paares gestanden hat, betritt er die gegenüberliegende Bar und sein Auftritt beginnt: »Regen, das ist White Noise, weißes Rauschen. Es gibt mittlerweile eine Fülle von Regenaufnahmen. Die hören Sie, wenn Sie nachts nicht einschlafen können.« Dass es sich hier nicht bloß um ein Selbstgespräch handelt, wird an den Interaktionen mit einer oder mehreren Personen angedeutet. Da heißt es dann »Nein, so geht es nicht, ich versuche es anders« oder »Kennen Sie die Pareto-Regel überhaupt?« Ob sein Gegenüber nicht nur Einbildung sein könnte, bleibt unklar.

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Ferdinand von Schirach
Regen

Luchterhand: München 2023
112 Seiten, 20,00 €

Schnell wird offensichtlich, dass der Fall Auslöser zur Reflexion über eigene Probleme des Protagonisten ist. Das Schreiben einer sogenannten dienstlichen Erklärung weckt eigene Schuldgefühle. Grund für diese: Die Anwältin des Angeklagten hat ihn als Schöffen abgelehnt. Sie hält ihn für befangen, und nun muss er schriftlich darlegen, ob er seine Unparteilichkeit gefährdet sieht. Die Schreibaufforderung trifft auf das Selbstverständnis des Monologisten, denn der bezeichnet sich selbst als Schriftsteller. Aber statt Werk ohne Autor handelt es sich hier um einen Autor ohne Werk. Seit 17 Jahren hat er nichts mehr verfasst, seine einzige Veröffentlichung ist ein kurzer Gedichtband. Den Grund für die lange Pause erklärt der Untertitel Eine Liebeserklärung: Die einzige Person, welche seine Gedichte las, war seine damalige Partnerin, sein »Lebensmensch«.

Als der Band von Statt Gedichte vom Drucker kurzerhand zu Stadtgedichte umbenannt wurde, hatte es den Protagonisten erzürnt. Und dann: »Sie wollte mir ein Glas Wasser holen und schlug mit dem Gesicht auf das Parkett auf.« Todesursache: Aneurysma. Der Verlust hindert ihn am Schaffen, Schuldgefühle sind in seine Trauer verwickelt. Tod steht damit im Kern des Monologs. Sein Verständnis von diesem führt schließlich dazu, dass er dem Angeklagten eine Frage stellt die Frage, wegen der die Anwältin ihn als Schöffen ablehnt: Welche Strafe würde sich der Angeklagte selbst geben? Seine daran anschließenden Ausführungen zum Thema Schuld sind jedoch treffend, prägnant, Highlight des Monologs: »Sehen Sie, wir können jedem vergeben. Unseren Eltern, unseren Kindern, unseren Freunden und selbst unseren Feinden. Nur uns selbst können wir nicht vergeben, das ist nicht möglich. Niemand kann sich selbst seine Schuld erlassen, das kann nur der Gläubiger tun. Ihre eigene Schuld verjährt nicht. Damit müssen Sie leben. Oder eben auch nicht.«

Rückkehr zum Schaffen und Kreieren

Das klingt in der Theorie faszinierend. Unfreiwilliger Richter, existenzielle Themen, mündlich und spontan gesprochen. Doch Schirachs Geschichte mangelt es an Substanz. Der den Monolog auslösende Fall verschwindet im Hintergrund als bloßer Katalysator, und die etlichen Themen werden nur oberflächlich angerissen. So setzt der Protagonist an, das Kennenlernen von ihm und seinem »Lebensmensch« zu beschreiben, und schweift dabei ab zu Anekdoten über Fitzgerald und Hemingway, über Schriftstellertum, Kultur, Gesellschaft, natürlich über Liebe, und so weiter und so fort. Was all diese Exkurse verbindet, ist eine unfassbare Menge an kulturellem und akademischem Wissen: Das geht von der Pareto-Regel über griechische Mythologie bis zu biologischen Experimenten. In dieser Menge ist das aber nicht mehr bloße Intermedialität und -textualität, die zur semantischen Sinnerzeugung des Textes beiträgt. Stattdessen wirkt das wie penetranter Pseudo-Intellektualismus.

Am Ende führen diese Reflexionen dazu, dass er entscheidet, was er in der dienstlichen Erklärung schreiben wird. Doch es ist klar: Dabei handelt es sich vielmehr um die Rückkehr zum aktiven Schaffen. Es soll um die verstorbene Frau gehen, um ein Mädchen aus seiner Kindheit, um seine ehemalige Partnerin: »Ich werde darüber schreiben, dass wir voneinander wussten, und dass es in diesem Leben nur darum geht und um nichts anderes.«

Prätentiöses Lamento und klischeehafter Kulturpessimismus

Womöglich soll das tiefgründig wirken – hat aber eine etwas alberne Note. Schließlich reichen für diese Erklärung zwei bis drei simple Sätze, doch dies zeigt ein anderes Problem der Erzählung: Die Weltfremdheit des Protagonisten. Rucksäcke werden zu Wegen in die Hölle, der Versuch, den Schöffendienst abzulehnen, zur philosophischen Grundsatzdiskussion, und als ihm nur Demokrit einfällt, um eine Frau anzusprechen, hält er sich für »idiotisch«. Hat Schirach versucht, einen klugen, melancholischen Menschen darzustellen, ist er gescheitert. Ein gutes Buch ist nicht von sympathischen Charakteren bedingt, im Gegenteil doch ein Monolog lebt von seinem Sprecher, dessen hier nur schwer zu ertragende Art nicht intendiert wirkt. Prätentiös erscheinen seine Beschwerden, dem Kulturpessimismus fehlt es an Biss, ein Klischee reiht sich an das nächste.

Aber das liegt möglicherweise auch an der Kürze des Buches, vielleicht hätte mehr Raum die Möglichkeit gegeben, um die Themen mit wahrer Tiefe zu behandeln. Die eigentlichen 108 Seiten Text werden nämlich ab etwa Seite 60 von einem Interview ausgefüllt, und auch nur mittels großer Schrift mogelt der Verlag den kurzen Text zu seiner Länge. Das ist ärgerlich, schließlich ist das Interview nicht exklusiv, sondern erschien bereits in gekürzter Form in der Süddeutschen Zeitung. Inhaltlich doppeln sich die Themen, manche Sätze klingen fast identisch. Das ist eine Enttäuschung, in unter zwei Stunden lässt sich der Band beenden für den man 20 Euro bezahlt.

Debüt als Schauspieler

Ferdinand von Schirach stellt ab Oktober sein Buch vor und tritt dabei erstmals als Schauspieler auf Bühnen in ganz Deutschland. Ob er diesen Monolog so besser verkaufen kann, wird sich zeigen. Bestimmte Passagen wirken geschrieben nicht wirklich glaubwürdig, ihnen fehlt es an Tiefe, die eine Performance ihnen potenziell verleihen kann. Womöglich sind manche Schwächen des Buches daher dem Format des Theatermonologs geschuldet, womöglich kann Regen aber auch einfach nicht mit dem Erfolg von Schirachs anderen Büchern mithalten.

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