Same Procedure as Every Year

Zum 33. Göttinger Literaturherbst zeigt Martina Hefter als Gewinnerin des diesjährigen Deutschen Buchpreises Gutmütigkeit und Bescheidenheit. Der Roman Hey guten Morgen, wie geht es dir? steht im Vordergrund, doch es gibt an diesem Abend auch Einblicke in das Leben der Autorin.

Von Lisa Marie Müller

Bild: Lisa Marie Müller

Die diesjährige Buchpreisträgerin Martina Hefter war am Samstag, den 19. Oktober, beim 33. Göttinger Literaturherbst zu Gast. Jedes Jahr findet die erste öffentliche Lesung nach Vergabe des Buchpreises im Rahmen des Göttinger Literaturherbstes statt – die letzten Jahre immer im Alten Rathaus. Um mehr Leute an der Lesung teilhaben lassen zu können, wurde die Veranstaltung dieses Jahr in die Sheddachhalle gelegt, ein weniger eingestaubter aber auch weniger zentraler Veranstaltungsort. Nach dem Tod von Stefan Lohr hat nun, wie schon letztes Jahr wegen einer Krankheit Lohrs, ein Kollege und Freund von ihm die Moderation übernommen: Joachim Dicks vom NDR Kultur.

Zu Beginn wird zuerst eine Person aus dem Publikum gewürdigt: Oberbürgermeisterin Petra Broistedt. Dicks moderiert sie kurz an, sie steht auf, Einzelne klatschen verunsichert. Was diese Herausstellung soll, ist unklar. Anschließend wird betont, wie wichtig es sei im Hinterkopf zu behalten, dass mit dem Deutschen Buchpreis ein Werk und keine Autorin ausgezeichnet wurde. Hefter tritt als bescheidene Person auf, die jedoch an den richtigen Stellen selbstbewusst hinter ihrem Roman und den darin verhandelten Themen wie fehlender Barrierefreiheit steht. Nach einer 16-jährigen Prosa-Abstinenz ist das nun wieder der erste Roman, den sie publiziert. In der Zwischenzeit lag der Fokus auf Lyrikbänden.

Scam und griechische Mythologie

Der bebuchpreiste autofiktionale Roman Hey guten Morgen, wie geht es dir? erzählt von zwei Hauptfiguren, Juno und Jupiter, deren Namen der römischen Mythologie entlehnt sind und im Griechischen Hera und Zeus entsprechen. Sie sind ein Paar, Juno pflegt ihren schwerkranken Mann Jupiter. Juno ist ähnlich wie Hefter Künstlerin, Tänzerin und macht viel im Theaterbereich. Sie hat eine »Sucht nach Schlaflosigkeit«, die sie in Internetbeziehungen treibt. Juno chattet mit Love-Scammern, also sogenannten modernen, digitalen Heiratsschwindlern, die über Fake-Profile (die sie meist als mittelalte, weiße und gut situierte Männer darstellen) versuchen, ein Vertrauensverhältnis zu einsamen Frauen aufzubauen. Dieses wird dann im Laufe der (Fake-)Beziehung genutzt, um Geldsummen für spontane Krankenhausaufenthalte oder andere vermeintliche Schicksalsschläge zu erhalten.

Das Phänomen ist real, Hefter nennt beispielhaft die Zahlen für Sachsen: Im Jahr 2023 gab es 368 Fälle mit einem Schaden von über 4,6 Millionen Euro. Es wird von einer Dunkelziffer ausgegangen, die noch wesentlich höher ist. Die Romanfigur Juno weiß ähnlich wie Hefter über Love-Scammer Bescheid. Dennoch schreibt sie mit ihnen, vielleicht aus einer Faszination heraus? Sie nimmt die Rolle einer bedürftigen Frau an und die Männer im Internet glauben ihr schnell. Sie testet, wie weit sie gehen kann. Ein Mann namens Benu (ägyptische Mythologie) aus Nigeria und sie chatten regelmäßig. Im Chat heißt Benu Owen_Wilson223 und gibt vor, aus Texas zu kommen. Es entsteht eine Art Beziehung und eine Unsicherheit, wer wen (nicht) betrügt, liegt in der Luft. Dennoch wird Benu ein wichtiger Bezugspunkt im Leben Junos, sie schickt ihm spontan Bilder aus ihrem Alltag, er kommentiert, sie freut sich.

Rhythmusgefühl

Es soll zwar ums Buch gehen, dennoch wird erstaunlich viel über die reale Person Martina Hefter gesprochen. Insgesamt werden nur zwei längere Abschnitte und ein kurzer am Ende gelesen: Zuerst eine Passage über eine Buchpreisverleihung (weil passend). Der Textabschnitt bezieht sich auf eine tatsächliche Preisverleihung: 2023 gewann Hefters Mann Jan Kuhlbrodt für Krüppelpassion den Alfred Döblin-Preis in Berlin. Später folgt ein Auszug über Junos Verhältnis zum Ballett.

Immer wieder wird die Autorin gefragt, wie es um die Anteiligkeit von Fiktion und Wirklichkeit in Hey guten Morgen steht. Dabei fällt auf, dass es keinen großen Mehrgewinn bringt, darüber genau Bescheid zu wissen. Aber here we go: Wenig ist hinzugedichtet. Statt eines Teiches war es in echt der Wannsee am Rand einer Szene – für die Rezeption nicht elementar. Hefter kennt sich mit Love-Scamming so gut aus, weil sie selbst (wie die Protagonistin) auf Chatnachrichten eingegangen ist. So weit, so banal. Der Moderator hat jedoch großes Interesse am Thema Autofiktion (es sei ihm nicht verübelt, der Buchmarkt ja auch), sodass Hefter ein Statement dazu abgibt: »Sobald man einen Satz über sich selbst aufschreibt, schreibt man eigentlich schon nicht mehr (ganz) über sich.«

Dicks fragt zum Schreibprozess, ob das Tänzerische Teil ihrer Sprachgestaltung sei. Ihre Antwort: Sie prüfe immer wieder laut oder mit der inneren Vorlesestimme, ob der Rhythmus gut sei. Hake es irgendwo, überarbeite sie die Stelle. Sie überlege jedoch nicht, wie vom Moderator nahegelegt, ob ihr Schreiben tänzerisch sei. Aber sie achte darauf, ob das Gefühl stimme und ihr Anspruch an einen eigenen Rhythmus erfüllt werde. Und ihre Lektorin natürlich ebenso. Diese habe sich für einen gewissen Kitsch im Text stark gemacht und der heimlichen Protagonistin Wildbiene Raum zur Entfaltung gegeben. Nach der Nominierung für die Shortlist haben sich Hefter und ihre Lektorin die besagte Wildbiene auf den Unterarm tätowieren lassen. Die hat an diesem Abend auch einen kleinen Auftritt und es ist schön zu sehen, dass sie so unspektakulär am Unterarm der Autorin unter ihrem Hemd hervorlugt.

Über Geld reden

Letztlich wird nicht das Buch das Preisgeld bekommen, sondern Martina Hefter – egal wie oft man betont, dass ja das Werk selbst ausgezeichnet wird. Und um dieses Preisgeld gab es einiges an Aufregung, schon direkt nach der Preisverleihung. Auch auf der Shortlist für den Buchpreis für seinen Roman Die Projektoren war Clemens Meyer. Kurz nach der Verkündung, wer gewonnen hat, wurde er sauer. Beleidigend und beleidigt gibt er sich seitdem. Er hätte das Geld gut gebrauchen können (35.000 Euro Steuerschulden, teure Scheidung). Und naja, das ist nachvollziehbar. #Relatable. Aber auch unkollegial und fies, der Jury eine Unfairness zu unterstellen, weil eine andere Person gewonnen hat als man selbst. Meyer hätte sich vom Preis erhofft, mehr Bücher zu verkaufen und am Ende des Jahres mal eine Vierteilmillion Euro einzunehmen. Während er versucht hat, ein Buch für den Buchpreis zu schreiben, sieht Caroline Wahl sich aus anderen Gründen auch als verdiente Buchpreisträgerin: Nämlich weil sie schon so viele Bücher verkauft hat (22 Bahnen, Windstärke 17). Fair ist die Buchpreisvergabe sicher nicht, aber solche Statements sind in erster Linie eins: irgendwie peinlich. Können sie ihrer Kollegin das Preisgeld und Prestige nicht einfach gönnen?

Martina Hefter hat mit ihrem aktuellen Roman nicht nur den Deutschen Buchpreis (25.000 Euro) erhalten – sondern auch den Wiesbadener Literaturpreis (10.000 Euro) und den Großen Preis des deutschen Literaturfonds (50.000 Euro). Außerdem ist ihr Buch für den Bayrischen Buchpreis nominiert (Meyers Die Projektoren übrigens auch – es geht um 10.000 Euro). Sie sieht eine solche Preisanhäufung auch kritisch, geknickt wirkt sie deshalb jedoch nicht. Sie übernimmt Verantwortung, indem sie sich für weniger hörbare Stimmen in der Literatur einsetzt. Steuerschulden müssen scheinbar nicht bezahlt werden, Hefter will das Geld im Bereich ihres Ehrenamts ausgeben. Sie veranstaltet regelmäßig Leseabende, da könnten z.B. schöne Plakate für entstehen und gedruckt werden. Es könnten ganz schön viele Plakate werden in Anbetracht der Summe, auf die sich die Preisgelder belaufen. Doch in erster Linie macht der Preis Folgendes mit der Autorin: Sie sieht sich als Botschafterin fürs Lesen für ein Jahr.

Apropos Lesen und Lesung: Die verging wie im Flug. Wen es interessiert, eine Aufzeichnung ist nicht nur als Videostream abrufbar (kostenlos mit Kulturticket), sondern auch als Tonmitschnitt vom NDR veröffentlicht (kostenlos für alle). Doch wer sich tatsächlich für das mit dem Buchpreis ausgezeichnete Buch interessiert, kann das auch einfach lesen und einen eigenen Eindruck von guter Gegenwartsliteratur gewinnen.

Geschrieben von
Mehr von Lisa Marie Müller
Zwischen analog und digital
Der Roman Pixeltänzer erzählt auf mehreren Ebenen die Suche des Ursprungs eigentümlicher...
Mehr lesen
Hinterlasse einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert