Die eisblauen Fußballwikinger von der Vulkaninsel erobern das europäische Festland. Mit ihrer kämpferischen Erfolgsmannschaft wollen die Isländer bei der Fußball-Europameisterschaft 2016 in Frankreich zur Legende werden.
Von Sebastian Goetz
Bild: Normanvogel CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Die Isländer werden dieses Jahr als kleinste Nation an der Europameisterschaft in Frankreich teilnehmen. Möglich gemacht hat das ein sensationeller zweiter Platz in einer Qualifikationsgruppe mit turniererfahrenen Konkurrenten wie der Türkei und den Niederlanden. Für die Sportler von der Vulkaninsel ist dies die erste Teilnahme an einem großen Turnier. Nur einmal waren sie schon nahe dran, als sie 2014 in den Playoff-Spielen gegen Kroatien nur knapp die Qualifikation für die Weltmeisterschaft verfehlten. Grund genug, einmal die Hintergründe des Fußballs in Island näher zu betrachten.
Der Inselstaat mit etwas mehr als 337.000 Einwohnern verzeichnet 21.508 registrierte Fußballspieler. Das entspricht etwa 6,4 Prozent der Gesamtbevölkerung. In Deutschland ist Fußball jedoch noch deutlich populärer. Hier spielen rund 6,9 Millionen Menschen als Mitglieder im DFB Fußball, was einem Anteil von 8,5 Prozent entspricht. Nichtsdestotrotz ist Islands Prozentsatz in Anbetracht der strukturellen Voraussetzungen eine beeindruckende Zahl.
Þór, Þór, Þór! Island bald Europameister?
Tor, Tor, Tor? Wer jetzt gedacht hat, dass es sich hierbei um einen isländischen Torschrei handelt, der irrt sich. Gylfi Þór Sigurðsson ist das Gesicht eines isländischen Sensationserfolges. Der 26-jährige Mittelfeldstratege aus Reykjavík hat mit seinen sechs Toren entscheidend dazu beigetragen, dass die Fußball-Nationalmannschaft Islands das Jahr 2015 mit dem größten Erfolg der Verbandsgeschichte abgeschlossen hat. Damit drängt er die mittlerweile 37-jährige Stürmerlegende Eiður Guðjohnsen in den Hintergrund, der mit 83 Spielen und 25 Toren amtierender aktiver Rekordnationalspieler ist. Sein Geld verdient er mittlerweile an einem Ort, an dem man isländische Sportler eher nicht erwartet, nämlich bei Shijiazhuang Ever Bright F.C. in China. Er folgt damit allerdings einem Trend, der auch schon andere internationale Auswahlspieler in die Super League geführt hat.
Durch den Erfolg der letzten Jahre taucht Island plötzlich auf der Landkarte des europäischen Spitzenfußballs auf. Dass dieser Coup ausgerechnet im Fußball gelang, war nicht abzusehen, da immer noch Handball seinen Ruf als Nationalsport Islands behauptet. Daneben erfreuen sich die Bereiche Leichtathletik, Basketball und Wintersport im Allgemeinen großer Beliebtheit. Der Fußballverband (KSI – Knattspyrnusamband Íslands) wurde 1947 gegründet und im gleichen Jahr trat man auch der FIFA bei, auf deren Weltrangliste Island derzeit einen mehr als respektablen Platz 34 einnimmt – und dies vor den skandinavischen Nachbarn Dänemark (38), Norwegen (51) und den Färöern (89). Auch Schweden ist mit Platz 35 in Reichweite. Einer der Erfolgsgaranten für die enorme Entwicklung, die die isländische Mannschaft genommen hat, ist der schwedische Trainer Lars Lagerbäck. Er übernahm das Team am 14. Oktober 2011 und führte es in weniger als drei Jahren von Rang 90 auf das historische Hoch von Rang 33 im Jahre 2014. Mit nunmehr 47 Spielen an der Seitenlinie ist Lagerbäck der isländische Rekord-Nationaltrainer. Der erfahrene 67-jährige Schwede betreute auch schon neun Jahre lang die Nationalmannschaft im eigenen Land.
Islands Profis als Exportware
Der Star der Isländer ist eindeutig die Mannschaft, die als harmonisches Ganzes funktioniert und von ihrem Trainer taktisch hervorragend eingestellt wurde. Im letzten Qualifikationsspiel für die EM, im Oktober 2015 gegen die Türkei, belief sich der Marktwert der isländischen Startelf auf rund 30 Millionen Euro. Damit ist die elfköpfige Mannschaft auf dem Papier immer noch weniger wert als der türkische Kapitän Arda Turan vom FC Barcelona auf der Gegenseite, dessen Marktwert allein bei 35 Millionen Euro liegt. Deutschlands Topspieler Thomas Müller ist mit etwa 75 Millionen Euro sogar mehr als das Doppelte wert. Trotzdem haben die Isländer mehrfach die als favorisiert geltenden Gruppengegner geschlagen und nur zwei von zehn Spielen verloren. Dabei muss man auch bedenken, dass allein elf der ca. 41 Millionen Euro Marktwert des aktuellen Kaders auf den prominentesten Spieler Gylfi Sigurðsson entfallen, der sein Geld in der englischen Premier League bei Swansea City verdient.
Im endgültigen EM-Kader findet sich kein Spieler, der bei einem isländischen Vereinen aktiv ist. Die meisten Nationalspieler stehen im skandinavischen Ausland unter Vertrag, um dort auf höherem Niveau agieren zu können. Allein sieben Spieler des 23er-Kaders für das Turnier verdienen ihr Geld in Schweden – dazu kommen drei in Norwegen und zwei in Dänemark.
Statistisch betrachtet wechseln die meisten Isländer, die im Ausland eine neue Herausforderung suchen, nach Norwegen (42,1 Prozent), gefolgt von Schweden (21,1 Prozent), den Niederlanden (10,5 Prozent) und Dänemark (7,9 Prozent). In Deutschland spielen derzeit drei Isländer, nämlich Rúrik Gíslason (27, 1.FC Nürnberg) und die beiden Nationalstürmer Jón Daði Böðvarsson (23, 1.FC Kaiserslautern) und Alfreð Finnbogason (27, FC Augsburg).
Mehr als eine dilettantische Spaßliga
Dennoch darf man die 1912 gegründete isländische Liga »Úrvalsdeild« (isl. für Auswahldivision), die seit 2009 den Namen ihres Hauptsponsors Pepsi trägt, nicht als unbedeutende Spaßliga abstempeln. Sie wird zwar von der UEFA nur auf Platz 40 der europäischen Ligen geführt, bringt dafür aber für ihre Größe von nur zwölf Clubs eine beachtliche Anzahl an Talenten hervor. In Island wurde Úrvalsdeild unterdessen nie als professionelle Fußballliga betrachtet, sondern vielmehr auf eine Stufe zwischen Amateur- und Profibereich gestellt. Dass diese Gratwanderung zwischen Laientum und Professionalität in Island auch auf anderen Ebenen funktioniert, zeigt sich aber nicht nur im Fußball: In der Politik zum Beispiel schaffte es der Komiker Jón Gnarr zum Bürgermeister Reykjavíks (2010-2014).
Halbprofessionell geht es unterdessen auch in finanzieller Hinsicht zu: Das durchschnittliche Jahresgehalt eines Spielers der isländischen Liga beträgt nur 30.000 Euro. Durch die mangelnde Transparenz der Zahlungen in der Bundesliga ist ein Vergleich zwar nicht im Detail möglich, aber in Deutschland entspricht dieser Betrag ziemlich genau dem durchschnittlichen Monatsgehalt eines Spielers (Prämien und außergewöhnliche Gehälter für Starspieler nicht mitgerechnet). Nicht vergessen darf man dabei aber die Rolle der Finanzkrise, die von 2008 bis 2011 zu einigen Budgetkürzungen, wie eben bei den Gehältern, in der isländischen Liga geführt hatte. Die Saison dauert in Island innerhalb eines Kalenderjahres von Mai bis Oktober, während in Deutschland die Spiele meist von August bis Mai ausgetragen werden. Sollte also für die EM im Juni ein Spieler aus der isländischen Liga in die Nationalmannschaft berufen werden, so muss dieser aus dem aktuellen Spielbetrieb heraus abgestellt werden.
Die Bilanz der deutschen Nationalmannschaft gegen Island ist mit drei Siegen und einem Unentschieden in vier Partien eindeutig positiv. Jedoch spielt dieses 0:0 eine besondere Rolle, da sich Rudi Völler nach dieser Partie zu einem historischen Wutausbruch hinreißen ließ. Es handelte sich um ein EM-Qualifikationsspiel am 6. September 2003, in dessen Zusammenhang Völler sich vehement gegen die Kritik wehrte, dass dieses Spiel ein neuer Tiefpunkt gewesen sein soll. Zwar war Island 2003 auf Rang 58 der Weltrangliste, aber in den Augen der Öffentlichkeit nicht mehr als ein Fußballzwerg, obwohl es zum Zeitpunkt des Spiels aktueller Tabellenführer in der Qualifikationsgruppe war.
Island als neuer Geheimfavorit
Mittlerweile haben die Isländer sich ihren Respekt erspielt und können nicht mehr von sogenannten ›großen‹ Mannschaften in der Kategorie Pflichtsieg verbucht werden. Im Gegenteil: Nach ihrem Überraschungserfolg in der Gruppe gelten die Isländer für manchen schon als Geheimfavorit für das kommende Turnier. Auch wenn das etwas hoch gegriffen sein mag, so verdeutlicht es doch den enormen Schub, den der isländische Fußball erfahren hat. Gylfi Sigurðsson äußerte sich in einem Interview (http://www.fifa.com/world-match-centre/news/newsid/271/058/3/) über den Fanzuspruch in der Heimat, in dem er bestätigte, dass das Medieninteresse und die Anzahl der mitreisenden Fans im Vergleich zu den letzten 10 bis 15 Jahren enorm gestiegen sind. 3.000 Fans waren gekommen, um ihre Mannschaft beim Spiel in den Niederlanden anzufeuern, das sind etwa ein Prozent der Bevölkerung. Nationaltrainer Lagerbäck selbst spricht davon, dass dieser Erfolg alles, was er bisher mit Schweden erreicht hatte, in den Schatten stellt. Manch einer erhebt ihn zum Trainerhelden, was der bescheidene Taktiker von sich weist. Dennoch kann er nicht leugnen, dass er mit seinem Team Geschichte geschrieben hat.
Fußball ist ein aufstrebender Wachstumsmarkt in Island. Seit der Jahrtausendwende hat sich die Infrastruktur stark verbessert. Gab es Anfang 2002 nur eine Fußballhalle, so sind es mittlerweile sieben Hallenfußballfelder in voller Größe, 3 kleinere Hallen und 22 Kunstrasenplätze unter freiem Himmel. Dazu kommt, dass fast jede Schule einen eigenen Kunstrasenplatz besitzt, was weitere 130 Anlagen bedeutet. Die Finanzierung für diesen Ausbau gelang mit Hilfe von Geldern der UEFA, Unterstützung aus dem Parlament, privaten Investoren und den Kommunen. Ebenfalls gelobt werden muss die gute Arbeit der Jugendtrainer, die, so Lagerbäcks Co-Trainer Heimir Hallgrimsson, zu den weltweit besten zählen. Fans des isländischen Fußballs können also weiterhin optimistisch in die Zukunft schauen.
In Frankreich hat die Mannschaft nun in diesem Juni die Chance, ihren Qualifikationserfolg zu krönen. Dort erwartet sie Portugal, Österreich und Ungarn als Gruppengegner. Von außen betrachtet können es die Isländer eigentlich ganz entspannt angehen. Sie sind nicht der Top-Favorit und haben schon mehr erreicht als je zuvor – aber wer weiß, vielleicht brodelt in ihnen ja ein Vulkan, der bei der EM zum Ausbruch kommen will …
Wer sich dann mit den Isländern über einen Treffer freuen möchte, der ruft am besten nicht Þór, sondern ›mark‹ – so lautet nämlich das isländische Wort für ›Tor‹.