Paco Rocas jüngste Graphic Novel La Casa folgt drei Geschwistern zurück ins Haus ihrer Kindheit – und beobachtet sie einfühlsam bei ihrer Annäherung an den verstorbenen Vater, den letzten Bewohner des Hauses.
Von Steffen Bach
Bilder: @ Paco Roca / Reprodukt-Verlag
Eine Comicseite. Drei mal vier Bilder. Eine Küche ist zu sehen, ein alter Mann steht an der offenen Hintertür. Viel geschieht nicht: Der Mann zieht sich seine Jacke an, geht schon fast aus der Tür. Hält kurz inne. Fasst sich an den Kopf, er scheint zu schwindeln, aber er kommt wieder zu sich, lässt die Tür los, an der er sich festgehalten hatte, tritt hinaus und sperrt von außen ab. Die Küche liegt leer da, ein Bild lang, zwei Bilder. Ende der Seite.
Paco Roca ist in Deutschland wenigen bekannt, nur unter Comicfans genießt er hierzulande den Ruf, der ihm eigentlich weit und breit vorauseilen sollte: der eines begnadeten Geschichtenerzählers. In seiner spanischen Heimat hingegen ist Paco Roca einer der erfolgreichsten Comicautoren seiner Generation, 2008 wurde ihm für die Graphic Novel Kopf in den Wolken vom spanischen Kulturministerium der nationale Comicpreis verliehen. Dem Berliner Verlag »Reprodukt« ist es zu verdanken, dass nach und nach auch deutsche LeserInnen in den Genuss von Rocas meisterhaft gestalteten Bildergeschichten kommen. Seit 2012 veröffentlichte »Reprodukt« bislang die Graphic Novels Der Winter des Zeichners, Die Heimatlosen sowie Kopf in den Wolken. Im letzten Jahr stieß dann auch La Casa hinzu, das auf Spanisch bereits 2015 erschien.
Sein Können zeigt Paco Roca schon auf eben jener ersten Seite von La Casa, auf der es ihm mit wenigen Panels gelingt, die ProtagonistInnen vorzustellen: den alten Mann, Vater dreier Kinder, und eben das Haus. Dieses, so erfahren die LeserInnen kurze Zeit später, steht seit einem Jahr leer, weil der Alte als letzter Bewohner verstorben ist. Jetzt ist das Haus nicht länger geschätzter Wohnort, sondern Erbmasse, vermacht an die erwachsenen Kinder. Diese haben keine Verwendung für ein selbstgebautes Wochenendhäuschen auf dem Lande, und so machen sie sich auf aus den Orten, an denen sie mittlerweile ihre eigenen Leben leben, um der Fassade noch einmal etwas Farbe zu verpassen und so vielleicht ein bisschen mehr am Verkauf zu verdienen.
Paco Roca
La Casa
Reprodukt Verlag 2016
128 Seiten, 20€
Was jetzt an Story folgt, könnte ein furchtbar abgegriffener Hut sein. Drei Geschwister kehren nach dem Tod der Eltern ins Haus der Kindheit zurück. Dabei kommen Erinnerungen hoch, brechen alte Wunden wieder auf, werden die Beziehungen zueinander und zu den Eltern neu und mitunter hitzig ausgehandelt. Dutzende Romane entstanden aus diesem Plot, und man könnte meinen, er sei auserzählt. Dieses unwohle Gefühl begleitet die LeserInnen allerdings nur bis zum Umblättern der ersten Seite, dann ist man mittendrin. Denn Rocas Bilder erzählen die Geschichte von Erinnerung und Verlust auf großartig feinfühlige, präzise Art und Weise.
Was an »Action« da ist, lässt sich in wenigen Sätzen wiedergeben: José, der jüngere Bruder, ist Schriftsteller und bekommt dafür wenig Respekt von Vicente, dem ältesten, der eine Autowerkstatt leitet und ganz nach dem Vater kommt: schweigsam und unfähig ruhig zu sitzen, wenn man stattdessen auch die alte Mauer des Hauses ausbessern könnte. Dann ist da noch Carla, das Nesthäkchen, die ihrer kleinen Tochter genau den Orangenbaum zeigt, an dem sie als Mädchen Vaters selbst gepflanzte Früchte pflücken durfte. Und der es dabei so scheint, als würde der alte Mann gleich um die Ecke kommen und den Ast mit der Orange daran hinunterbiegen, damit das Mädchen herankommt. Und der bewusst wird, dass genau das nie wieder passieren wird.
Die Zeit der Gemeinsamkeit, in der die Geschwister ihre Vergangenheit streichen, reparieren und ausbessern, wird überlagert von Rückblicken; beispielsweise als die Familie jedes Wochenende im Häuschen verbrachte um zu arbeiten. Die drei denken mit Schaudern an jenes Jahr, als sie die Grube für den Pool ausheben mussten, und als der endlich fertig war, war es schon Herbst und zu kalt zum Baden. Jedes Möbelstück ist mit Erinnerungen verknüpft, allesamt sind es ausrangierte Dinge, zu schäbig für die Hauptwohnung, aber grade recht für das Freizeitdomizil.
Vicente stößt es sauer auf, dass er als junger Mann immer noch damit beschäftigt war, dem Vater unter die Arme zu greifen, während der jüngere José schon lange studierte und keine Zeit mehr hatte, um am Familientraum weiterzuwerkeln.
José wiederum ruft sich ins Bewusstsein zurück, wie er die Trophäe dort im Regal gewonnen hat: sein erster Schreibwettbewerb in der Schule, und sein Vater, übergroß in Josés Erinnerung, gab ihm den entscheidenden Tipp zu einem Werbeslogan der örtlichen Molkerei. Großartig kam ihm der Vater damals vor, der erzählte, er habe früher in einer Werbeagentur gearbeitet. Nur eine Seite später hat sich das Verhältnis verkehrt: José überragt nun als junger Erwachsener den älter gewordenen Vater, der eingestehen muss, dass er in der Werbeagentur nur als Anzeigenbote tätig war. Sein Ansehen bekommt da bei dem jungen Mann, der Schriftsteller werden will, eine ordentliche Delle.
Die Vergangenheit wird von Paco Roca nicht in schwergängigen, langen Rückblenden gestaltet, sondern leichtfüßig von Panel zu Panel. Details aus der vorangegangenen Seite werden herangezoomt, der Blick aufs Meer vom Haus aus etwa ist graphisch unterschiedlich angelegt: aus der Kindheitsperspektive von Vicente und aus der seines Teenagersohnes, selbst nicht viel älter als Vicente damals. Auch mit den Farben versteht es Roca zu erzählen: Verschiedene Grundfarben zeigen an, welche Jahreszeit gerade herrscht. Und so vergeht konstant die Zeit, dargestellt anhand der Pflanzen im Garten: Vor rosa Hintergrund erblüht der Orangenzweig, vor goldgelbem reifen die Früchte, und vor düster-grauem sind sie wieder abgefallen, der Zweig ist kahl, Herbst und Winter sind da.
Mit La Casa ist Paco Roca ein wunderbares Buch gelungen, und das nicht nur für Comicfans. Das neuerliche Zueinanderfinden der drei Geschwister, die ihrem Vater am Ort der Vergangenheit auf die Spur kommen und damit auch der Frage, was ihm im Leben eigentlich wichtig war ‒ das ist eine hervorragende Bearbeitung einer bewährten Handlung.
Es bleibt zu hoffen, dass der »Reprodukt«-Verlag auch die letzten nur in Spanisch vorliegenden Werke Paco Rocas Stück für Stück in Deutschland auf den Markt bringt. Und bis dahin lässt es sich mit La Casas Erzählung vom Damals und Heute ganz wunderbar die Zeit vertreiben.