Wie jedes Jahr öffnet die Leipziger Buchmesse ihre Türen, sobald die ersten Sonnenstrahlen stark genug sind, um die große Glashalle des Messe-Geländes aufzuheizen. Und wie jedes Jahr gesellt sich zum Überangebot an Neuerscheinungen eine Reizüberflutung durch unzählige Lesungen, Gespräche und kuriose Verlagsstände. »Wo bleiben da die Inhalte? Wo bleibt der Tiefgang?«, fragen einige. Aber die erfahrene Messe-Besucherin weiß: In Leipzig geht es um weit mehr als um Inhalt und Tiefe. Es geht ums Sehen, ums Gesehen werden, um Sekt, um Häppchen, um Literaturbetriebsklassenfahrt, um das Aufeinandertreffen von bärtigen Bücherbloggern und maskierten Manga-Mädchen, um überteuerte Würstchen, um tanzende Autoren und natürlich um ganz viel Gossip.
Von Marisa Rohrbeck und Christian Dinger
Bild: Marisa Rohrbeck
Wir waren auf der Messe als rasende Reporter für Litlog unterwegs und haben versucht, in unserem Messe-Log ein unrepräsentatives Bild der Ereignisse nachzuzeichnen – für all diejenigen, die lieber eisschleckend durch die Fußgängerzone flanierten statt nach Leipzig zu reisen.
Mittwoch, 19 Uhr
Die Pforten öffnen sich. Nein, noch nicht zur Messe, erst einmal gilt es, dieses Spektakel gebührend zu eröffnen. Das tun wir im Leipziger Gewandhaus. Alles ist da, was Rang und Namen in der Buchbranche hat. Bereitwillig hört man sich Reden an zum Stand des Buches, ob es nun untergeht und warum gerade heute natürlich das geschriebene Wort so wichtig ist. Kommt einem vage bekannt vor aus den letzten Jahren. Aber wer hätte gedacht, dass Literatur wichtig für die Gesellschaft ist? Nach dieser allgemeinbildenden Einführung und einigen belebenden Intermezzi des Leipziger Gewandhausorchesters spricht endlich der diesjährige Träger des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung. Eingeführt durch eine kluge und wunderbar persönliche Laudatio von Leyla Dakhli geht Mathias Énard auf in erfrischend neuen Blickwinkeln: »Wer war Europa und was bedeutete sie einmal?«, fragt er und nähert sich aus der griechischen Mythologie dem Thema. Kompass – für diesen Roman wurde er ausgezeichnet – habe er im Zeichen der Hoffnung geschrieben, so Énard. Mit der Hoffnung auf die Wiederentdeckung der Erotik des Wissens, dem Begehren nach Wissen als Potential, sich fortwährend neu zu begegnen.
Mit diesen klugen Worten gehen wir über zum zweiten Teil des Abends: der Empfang. Alles schart sich um ein Buffet aus ausgesuchten Häppchen, labt sich am nicht enden wollenden Angebot an Wein und Bier, das fortwährend auf silbernen Tabletts vorüberzieht und sich anbietet. Immer wieder ertönen gellende Freudenschreie, man fällt sich in die Arme. (Szenerien, die an Begegnungen im amerikanischen Teenie-Film erinnern.) Das Klassentreffen hat begonnen. Einmal im Jahr sieht man sich, genau hier, und das muss gefeiert werden. Wir fangen uns ein Glas Rotwein ein und mischen uns unter das Volk.
Auf dem Weg nach draußen bekommen wir noch die alljährliche Tüte in die Hand gedrückt – ach ja, das Gastland Litauen. Seine 100-jährige Geschichte beschaut das Land unter dem Motto »Fortsetzung folgt«. Dem nehmen wir uns an und entschwinden in gespannter Erwartung auf die kommenden Tage.
Donnerstag, 13 Uhr
Nach einem ersten Rundgang und ein paar schnellen Lesungs-Drop-ins finden wir uns am Stand der Niedersächsischen Literaturhäuser ein. Mit dabei sind natürlich unsere Göttinger Homeboys und -girls des Literarischen Zentrums. Gerade recht: der erste Sektempfang. Dazu gibt’s Kurzfilme, die verschiedene Institutionen der Literaturlandschaft Niedersachsen vorstellen. Danach noch schnell ein Häppchen auf die Faust und ab zur nächsten Lesung.
Donnerstag, 16 Uhr
In der großen Glashalle werden die Preise der Leipziger Buchmesse verliehen. Zuerst aber hält die Juryvorsitzende Kristina Maidt-Zinke eine Rede. Im letzten Jahr war das ein großes kulturpessimistisches Lamento, dass die gute alte Literaturkritik als Kämpferin für das Gute, Wahre, Schöne es so schwer hat in Zeiten der Digitalisierung und Globalisierung. Dieses Jahr, so versprach Maidt-Zinke, werde sie auf Anraten ihrer Kollegen optimistischer beginnen. Und so sprach sie davon, dass es ja immer noch Kämpferinnen und Kämpfer für das Gute, Wahre, Schöne gebe, diese nur eben bedroht seien durch Digitalisierung und Globalisierung. Außerdem könne sie sich nicht erklären, warum der Kulturpessimist in dieser Gesellschaft eine persona non grata sei. Ja, da fragen wir uns auch: Wieso goutiert es eine Gesellschaft nicht, wenn pauschale Herabwürdigung und Angstreflexe als kritische Wachsamkeit verkauft werden?
Ach ja, die Preise wurden auch verliehen, an wen ist Euch längst bekannt, daher von unserer Seite Glückwunsch an alle Preisträgerinnen! Bemerkenswert: In diesem Jahr wurde der Preis zum ersten Mal in allen Kategorien – Belletristik wie Sachbuch und Übersetzung – an Frauen vergeben. Wir klatschen in unsere feministischen Hände!
Donnerstag, 20 Uhr
Nahtlos geht es vom Messe-Trubel zum nächsten Großereignis: die Lange Leipziger Lesenacht, kurz L3, in den bezaubernden Gewölben der Moritzbastei. Mit dabei stets Debütanten wie gestandene Autorinnen. Wir lauschen der absurden Lyrik von Michael Fehr, lachen uns scheckig bei Stephan Lohses Faulem Gott – ein ständiges Kommen und Gehen, Lesungshopping zwischen Schwalbennest und Veranstaltungstonne.
Donnerstag, 23:30 Uhr
Oberkeller: Ronja von Rönne schreibt sich Zettelchen mit dem Moderator Thomas Klupp, während neben ihr Lena Gorelik aus ihrem neuen Buch vorliest. Als sie schließlich selbst an der Reihe ist, versucht RvR mit allen Mitteln, ihr lässig-schnoddriges Image zu verteidigen: »Im nächsten Text geht es um Dates, aber weil ihr euch ja alle mit Literatur beschäftigt, habt ihr wahrscheinlich eh keine.« – Gähn! Dieser aufgesetzte Anti-Intellektualismus wirkt mehr als bemüht von jemandem, der in Hildesheim für den Literaturbetrieb ausgebildet wurde. Ob sich ihr Buch trotzdem verkaufen wird, bleibt fraglich. Immerhin handelt es sich – wie die Autorin selbst zugibt – lediglich um Zweitverwertung ihrer Welt-Kolumnen.
Freitag, 0:30 Uhr
Es wird leer in der Moritzbastei. Die meisten Gäste sind schon auf dem Weg zu einer der zahlreichen Verlagspartys. Die Tropen-Party ist recht legendär. Vielleicht aber auch überbewertet. Ein Alternativplan muss her. Allzu gut kennen wir uns nicht aus in der Leipziger Kneipenkultur. Aber wer braucht schon einen Kneipenführer, wenn man mit dem literarischen Werk von Clemens Meyer vertraut ist? In seiner autofiktionalen Textsammlung Gewalten. Ein Tagebuch erwähnt Meyer mehrmals das Brick‘s, »eine der besten Bars in der Stadt, die eigentlich in keinem Touristenführer fehlen sollte, täglich geöffnet bis mindestens vier, ein kleiner halbdunkler, niedriger Raum unten im Keller, am besten sitzt man an dem halbrunden Tresen, die Cocktails sind gut, die Barmänner und -frauen klassische Schule, auf einer Leinwand laufen Musikvideos, meistens aus den Achtzigern, ein Absacker geht immer im Brick’s, und wer ein paar Mal dort war und immer wiederkommt, wird zum Brickser«.
Freitag, 2:30 Uhr
Wir sitzen im Brick’s. Es ist genauso, wie Clemens Meyer es beschrieben hat. Außer uns sind nur wenige Gäste da. Der Barkeeper sieht aus, als entspringe er einem Mafiafilm. Vor uns steht jeweils ein Jamaica Fever. Die Cocktailkarte ist so umfangreich, dass wir irgendwann das Zufallsprinzip entscheiden lassen. Der Cocktail schmeckt gut.
In Gewalten endet der Brick’s-Besuch für Clemens Meyer in einer Ausnüchterungszelle und nach einer unbedachten Äußerung schließlich in der Psychiatrie, ans Bett gefesselt. Zack, da war es auch für uns schon 4 Uhr morgens und die pflichtbewussten Messe-Reporter trollen sich ins Bett.
Freitag, 15:20 Uhr
»Wow, die Sonne scheint ja!«, ruft ein standgeknechteter Messe-Aussteller erstaunt auf, als der die Hallen für einen kurzen Moment verlässt. Immer wieder stolpern entgeistert blinzelnde Menschen in den Innenhof, reißen begeistert die Arme in die Höhe und erblicken heute zum ersten Mal das Tageslicht.
Freitag, 17 Uhr
Der zweite Messe-Tag zeigt seine Spuren. Mittlerweile begegnen einem immer mehr müde Gesichter an den Ständen. Am Stand der niedersächsischen Literaturhäuser gibt es immerhin Gratis-Kaffee. Sekt, der andere Messe-Wachmacher, wird mittlerweile auch allerorten ausgeschenkt – ist aber einigermaßen schwierig zu bekommen, wenn man nicht wichtig genug aussieht. Die Stimmung am Stand von Droemer Knaur ist ausgelassen. Unsere Presseausweise verleihen uns scheinbar leider noch nicht genügend Autorität, als dass auch wir einen eingeschenkt bekämen. Daran muss gearbeitet werden.
Freitag, 21:30 Uhr
Im Deutschen Literaturinstitut Leipzig lesen Alumni aus ihren veröffentlichten Büchern, »Institutsprosa« nennt sich das selbstironisch. Als letztes soll Clemens Meyer aus seinem neuen Erzählband Die stillen Trabanten lesen.
»Hat jemand Clemens Meyer gesehen?«
»Ich glaub, der ist draußen und raucht.«
»Kann vielleicht jemand mal nachgucken, ob Clemens draußen steht?«
»Der ist nicht da.«
Der Moderator telefoniert: »Ja, ist gut. Wir warten auf dich.«
[Als wir eine halbe Stunde zuvor das Institut betraten, verließ der Autor das Gebäude Richtung Nacht.]
Samstag, 2 Uhr
Die Party der jungen Verlage, umgezogen vom Schauspiel ins Westwerk im schönen Plagwitz. Die Bässe dröhnen, die Schlange windet sich über den Innenhof. Clemens Meyer ist eingetroffen. Wir bedanken uns bei ihm für den Kneipen-Tipp, den er uns in Gewalten übermittelt hat und fragen, ob er uns einen Cocktail empfehlen könne, den man im Brick’s einmal trinken müsse.
»Die sind eigentlich alle gut. Was trink ich’n da immer? Meistens Gin-Tonic oder so… Und Cocktails?…«, er starrt angestrengt in die Luft, »…es gibt so einen Cocktail, der heißt Sex on the Beach.«
Samstag, 15 Uhr
Die letzten Kräfte werden zur Messe gebracht, einigen Lesungen gelauscht, die letzten Kontakte abgeklappert. Mittlerweile ist es unerträglich voll, kostet jeder Gang in eine andere Halle 30 Minuten und alle Nerven. Neuer Besucherrekord in diesem Jahr: 13.000 Menschen. Gemächlich schieben wir uns durch die Gänge, in Bedacht, nicht von diversen Prop-Speeren der Cosplayer erspießt zu werden. Die Erschöpfung naht, das andauernde Mantra im Kopf »Durchhalten!« wird immer leiser. Mit müden Schritten schaffen wir es von der Messe, doch der Spaß ist noch lange nicht vorbei.
Samstag, 21 Uhr
Wir finden uns wieder im Institut für Grafik und Buchkunst. Wie wir es dorthin geschafft haben, bleibt ein Rätsel. Doch die Aussicht auf den Abend weckt unsere Geister. Wir wollen »Teil der Bewegung« werden, so nennt sich die über sechs Jahre tradierte Lyriknacht. Hier läuft auf, was die deutschsprachige Lyrikszene derzeit zu bieten hat. Mit und ohne Musik. Ein denkwürdiger Abend in den beeindruckenden Hallen des Instituts, eines ehrwürdigen Baus im klassizistischen Stil, eingenommen durch die Subkultur in mit Graffiti gestalteten Wänden.
Gleich gegenüber geht’s im Anschluss wieder ins Literaturinstitut, um bei einem letzten Bier das Erscheinen der neuesten Tippgemeinschaft, der Jahresanthologie der Studierenden am Institut, zu feiern. Dann ist wirklich Schluss, aus, vorbei, und wir sinken zufrieden in die nächste Straßenbahn.