Raus aus dem Schneckenhaus

Triggerwarnung: Der folgende Text beinhaltet Beschreibungen von Depressionen und Suizidgedanken. Die Abschnitte mit entsprechenden Zitaten werden im Fließtext abgesetzt. Wenn Du Unterstützung suchst, findest du Beratungs- und Hilfsangebote bei der TelefonSeelsorge Göttingen, bei der Psychotherapeutischen Ambulanz für Studierende der UMG oder der Deutschen Depressionshilfe.

Ende in Sicht. So heißt nach langer Stille der neue Roman von Ronja von Rönne, der zwei Menschen mit Depressionen aufeinandertreffen lässt. Hella, eine alte Schlagersängerin, die ihren einstigen Hits nachtrauert, trifft auf die fünfzehnjährige Juli. Eine Reise voll von gescheiterten Dialogen und zaghaften Annäherungsversuchen beginnt.

Von Lisa Neumann

Bild: Via Pixabay, CC0

Triggerwarnung: Depressionen

Morgens nicht aufstehen wollen. Das Duschen nochmal um einen Tag verschieben. Keinen Antrieb mehr haben. Nachts vor lauter Grübeln kaum schlafen können. Sich vor seinen Mitmenschen für das eigene Leiden schämen. All das sind Dinge, die die Protagonistinnen in Ende in Sicht – wie 5,3 Millionen Menschen in Deutschland pro Jahr auch – kennen. Denn so viele Menschen erkranken jedes Jahr in Deutschland an Depressionen. Eine Krankheit, über die immer noch viel zu wenig gesprochen und die weiterhin tabuisiert wird. Rönnes Roman bricht dieses Tabu auf. Das Buch versucht Worte zu finden für die Sprachlosigkeit von Hella und Juli, ohne dabei pathetisch zu werden.

Hier endet die konkrete Beschreibung.

Zwei unterschiedliche Protagonistinnen

Triggerwarnung: Suizidgedanken

Dabei könnten Hella und Juli unterschiedlicher kaum sein: Während Hella mit ihren 69 Jahren ihrer fast beendeten Karriere als Schlagersängerin nachtrauert und sich in die alten glorreichen Partyzeiten zurücksehnt, hadert Juli mit der Abwesenheit ihrer Mutter, den Klassenkamerad:innen und vor allem mit sich selbst. Typische Probleme für das jeweilige Alter, wo ist da die Depression, könnte man denken. Was Hella und Juli vereint, ist der Wunsch, zu sterben. Hella fährt deshalb in ihrem alten Wagen in die Schweiz, in der Hoffnung dort mit gefälschten Dokumenten Sterbehilfe zu erhalten. Juli versucht, sich von der Autobahnbrücke zu stürzen, während ihre Klasse auf Klassenfahrt fährt. Doch wäre es ein großer Irrtum, die Krankheit Depression nur auf den Todeswunsch und Rönnes Roman nur auf diese Krankheit zu reduzieren.

Hier endet die konkrete Beschreibung.

Meisterliche Ironie und kalter Sarkasmus

Rönne zeichnet das Leben ihrer Heldinnen mit Ironie, Sarkasmus und Einfühlsamkeit. Dabei werden auch soziale Probleme im Umfeld von Hella und Juli thematisiert. Die Depression wird als allumfassende Erscheinung, die das Denken und Fühlen bestimmt und die beiden immerfort begleitet, porträtiert. So heißt es zu Beginn des Romans:

Natürlich wusste Hella, dass es durchaus auch mal Abende gegeben hatte, an denen sie leicht beschwipst und glücklich oder sehr beschwipst und glücklich oder stark betrunken oder zumindest so etwas Ähnliches wie glücklich gewesen war. Nur schienen diese Augenblicke nicht so klare Spuren hinterlassen zu haben, sie verschwammen wie Fußabdrücke am Strand bei der nächsten Welle. Die Momente der Scham, des Selbsthasses allerdings waren sich zu gut für kindische Sandabdrücke und bauten unzerstörbare Betonburgen. Und von denen hatte Hella jetzt genug.

Gekonnt gelingt es Rönne, im Laufe des Romans mit solchen Metaphern und Vergleichen immer wieder Julis und Hellas Seelenleben pointiert auf den Punkt zu bringen. Das Beste an dem Roman sind jedoch seine teils komisch anmutenden, bizarren und durchaus witzigen Dialoge, wenn Hellas und Julis Welt aufeinanderprallen. Hella erscheint dabei trotz ihres höheren Alters genauso hilflos und verletzlich wie Juli. Ihr sturer Egoismus bringt Juli dabei immer wieder an die Grenzen ihrer Geduld, etwa, als Hella ein weithin sichtbares Feuer lieber umfahren möchte, als nachzusehen, ob dort jemand Hilfe benötigt.

Ein klassischer Roadtrip?

Bisweilen erinnert dieses Aufeinanderprallen zweier Menschen aus unterschiedlichen Welten an Wolfgang Herrndorfs Tschick, nur dass es hier nicht um jugendliche Sinnsuche, sondern um die Sinnsuche überhaupt geht. Juli und Hella treffen bei ihrer Fahrt Richtung Schweiz auch weniger Menschen, mit denen sie intensive Gespräche führen. Sie bleiben sich selbst überlassen, haben aber nun wenigstens die andere, auch wenn diese sie nur teils zu verstehen scheint.

Von Seite zu Seite entfaltet Rönne die vorsichtigen Annäherungen, Wutausbrüche, Heulanfälle, Nostalgie und Scham ihrer Heldinnen, ohne, dass es banal oder langweilig wird. Zuletzt stolpert man hier nur über das abrupte Ende.

Hoffnung, aber keine Lösungen

Das Erfrischende am Roman ist, dass Rönne für die Krankheit Depression keine einfachen Lösungen à la »Dann mach halt mehr Sport« oder »Musst nicht traurig sein, ist doch alles ganz okay« bietet. Yogi-Teebeutel-Sprüche und gut gemeinte Ratschläge würden Juli und Hella auch nicht helfen. Was der Roman zeigt: Die Nähe zu Menschen, die dasselbe durchleiden und eine:n verstehen, ist mehr wert, als jeder Lebensratgeber. Und: Wenn man zu zweit tagelang in eine alte Schrottkarre gesperrt ist, können neue Impulse zu neuen Gedanken anregen. Gedanken, auf die man nicht gekommen wäre, wenn man mit der Grübelspirale allein zu Hause im Bett liegt.

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Ronja von Rönne
Ende in Sicht

dtv: München 2022
256 Seiten, 22,00€

Ende in Sicht ist ein gelungener Roman über zwei Frauen, die einen neuen Umgang mit der Krankheit erlernen, die sie beide immer wieder quält. Ein Roman über die Niederlage, das Mit-sich-Ringen und die Sinnsuche, wenn alles trostlos verloren erscheint.

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