Es gibt Orte, an denen noch alles in Ordnung ist und die uns deshalb auf eine bessere Zukunft hoffen lassen. Das Kaufhaus weckt Nostalgie und erlaubt es uns, von Utopien zu träumen – und ist deshalb eine Liebeserklärung wert.
Von Hanna Sellheim
Bild: Hanna Sellheim
Man braucht gar nicht erst die großen Beispiele, die Kaufpaläste und Schlaraffenländer, hervorzukramen, um das Kaufhaus zu lieben: das KaDeWe, die Galeries Lafayette, Harrods. Alles faszinierende Orte, doch die schönsten, die trostvollsten, die besten Kaufhäuser sind die um die Ecke. Die piefigen Filialen in der Heimatstadt, mit ihren quietschend glatten Fußböden und den bescheidenen Beton-Fassaden. Kaufhaus – das ist Parallelwelt, in die man eintaucht, ein bisschen wie im Kino, denn Fenster gibt es keine (bis auf ganz oben, und von dort hat man einen tollen Blick) und die gelbliche Beleuchtung hat immer etwas Außerweltliches. Das Kaufhaus ist ein Imaginationsraum. Nicht von ungefähr haben Kaufhäuser Literatur wie Walter Benjamins unvollendetes Passagenwerk oder Émile Zolas Das Paradies der Damen inspiriert. Man denke an die fiktiven Frauen, die dort finanzielle Unabhängigkeit und eigenständige Identität fanden: Miriam Maisel zum Beispiel, oder Rachel Green. Auch die Blicke von Carol und Therese trafen sich im Kaufhaus.
Im Kaufhaus riecht es nach heiler Welt, nach einer Zeit, in der sicher nicht alles gut war, aber doch einfacher. Dort findet sich alles auf einen Blick, nur eine Rolltreppen-Fahrt trennt Unterwäsche von Untertassen. Überhaupt: Rolltreppen! Als Kind war man im Kaufhaus und versuchte unbeschwert, gegen die Laufrichtung anzurennen, ohne Angst davor zu haben, welche Keime an den Handläufen klebten. Mit 15 betrachtete man sich im Spiegel auf der anderen Seite, während man hochfuhr, und stellte fest, gar nicht so übel, das Spiegelbild.
Let’s not go to the mall
Reihe
Nachdem wir in unserer letzten Kolumne geschimpft haben, erklären wir diesmal unsere Liebe. Ob Gegenstände, Orte oder Konzepte – hier verraten ab sofort Litlog-Autor:innen, was sie von ganzem Herzen lieben. Alle Beiträge im Überblick findet ihr hier.
Im Kaufhaus gibt es Dinge, die es sonst nirgendwo gibt: zum Beispiel diese riesigen Bottiche, gefüllt mit Brausebonbons oder Schokokugeln, aus denen man den Süßkram in kleine Tütchen schaufeln und zum Snacken mit sich herumtragen kann. Oder, zu Weihnachten, die Schaufenster-Deko aus sich bewegenden Kuscheltieren, die man stundenlang bewundern kann. Im Erdgeschoss kann man so viele Parfums testen wie sonst nur im Duty-Free-Shop, bis man riecht wie ein explodiertes Blumenbeet. Das Kaufhaus ist Anlaufstelle für Probleme jeglicher Art: leere Uhr-Batterie, Loch im Strumpf, eingerissener Fingernagel. Es ist ein Rettungshafen für diejenigen, die in infrastrukturell desolat gestalteten deutschen Innenstädte unterwegs sind: Denn hier darf man umsonst pinkeln gehen, und Essen gibt es auch, günstiges noch dazu, außerdem Platz zum Hinsetzen. Im Kaufhaus stehen Sessel in der Bücherabteilung und kleine Tische bei den Spielsachen. Hier kann man verweilen, von Etage zu Etage flanieren und alles besorgen, was man braucht.
Wer dabei nun an klimatisierte Vorstadt-Konsumtempel mit Food Court und Bällebad denkt, liegt falsch: Ein Kaufhaus ist etwas grundlegend anderes als eine Mall. In der Mall herrschen 2-Liter-Slushies, Fake-Palmen und Paul Blart, Mall Cop. Im Kaufhaus gibt es Macarons, begrünte Wände und die Türsteher (wenn es überhaupt welche gibt) tragen Smoking und haben sanfte Stimmen. Wer Kaufhäuser als Symbol des Massenkonsums verteufelt, macht es sich zu einfach. Denn das Kaufhaus ist kein kapitalistisches Phänomen, sondern seine Anfänge reichen zurück bis ins Mittelalter. Hier hat der Kapitalismus seine gierigen Fingerchen noch nicht in jeden Winkel gestreckt, hier sind Kaufentscheidungen noch frei, passieren weit entfernt vom Algorithmus, hier lugt einem:r Jeff Bezos nicht über die Schulter. In Edward Bellamys Looking Backward, einer Utopie aus dem Jahr 1888, ist das Übermaß an Einkaufsmöglichkeiten ersetzt durch eine einzige Kaufhaus-Kette. Sie ist Teil des amerikanischen Sozialstaats, den der Roman visiert. Dort gibt es keine Werbung, keine aufdringliche Kaufberatung, sondern eine überschaubare Anzahl an lokalen Produkten mit ausführlichen Angaben zu deren materieller Beschaffenheit, und jede:r kauft nur das, was er:sie wirklich braucht oder sich wünscht. Im Kaufhaus steckt kapitalismuskritisches Potenzial, wir müssen es nur nutzen.
In einer Gesellschaft ohne Kaufhäuser versiegen die Träume
Das Kaufhaus, das ist Heterotopie schlechthin. An seinen Kaufhäusern lässt sich die Geschichte eines ganzen Landes erzählen – also warum nicht auch mit ihrer Hilfe eine bessere Zukunft erträumen? In Zeiten der Isolation ist der öffentliche Raum zum Sehnsuchtsort geworden. Das Kaufhaus ist der diametrale Gegenpol zum Online-Shopping gegen den Lockdown-Blues. Hier kauft man nicht alleine, sondern im Kollektiv, betreut von freundlichen Verkäufer:innen. Hier kauft man nicht, um innere Leere zu füllen, sondern weil man etwas braucht. Im Kaufhaus könnten wir Frieden finden. Stellt euch eine Zukunft vor, in der wir die Kasernen und Gefängnisse, die Walmarts und Kohlekraftwerke abgeschafft und durch Kaufhäuser ersetzt haben. In der Haushaltswarenabteilung lustwandeln junge Paare und überlegen, worin sie ihr Grundeinkommen investieren, in der Drogerie-Etage sehen sich mittelalte Männer nach einem neuen Lippenstift um, während ältere Damen sich bei den Elektrogeräten über einen Rasenmäher beugen und Kinder zwischen Bücherregalen herumtollen. Und hinterher treffen sich alle zu einem Stück Streuselkuchen und einer Tasse unprätentiösem Filterkaffee auf dem Dach und schauen hinab auf die Reste der Gesellschaft, die mal war. What a wonderful world it would be.