Qualen und Lichtblicke

Triggerwarnung

Der folgende Text beinhaltet explizite Beschreibungen sexualisierter Gewalt. Der Abschnitt mit entsprechenden Zitaten wird im Fließtext abgesetzt. Wenn Du Unterstützung suchst, findest findest Du sie zum Beispiel beim Verband für lesbische, schwule, bisexuelle, trans*, intersexuelle und queere Menschen in der Psychologie (VLSP), beim Frauen-Notruf Göttingen oder beim Hilfetelefon Gewalt an Männern unter 0800 1239900.

Erstmals schreibt Schauspieler Elliot Page über sein Leben vor und nach seinem Outing als Trans-Person. Er lenkt den Blick hinter die Kamera und eröffnet das Drehbuch zu einem Film, den sich immer noch zu viele wünschen: Dass man sich selbst einfach ändern, unterordnen und anpassen soll, der Rest der Gesellschaft jedoch keine Änderung zeigt. Pageboy ist dabei vor allem eines: unbestechlich ehrlich.

Von Luis Pintak

Bild: via Pixabay, CC0

Hinweis: Der Anmerkung von Elliot Page entsprechend soll hier ebenfalls »Ellen« bzw. das Pronomen »sie« geschrieben werden, wenn es sich um Ereignisse aus der Vergangenheit handelt. Ansonsten wird »Elliot« verwendet bzw. auf das Pronomen »er« zurückgegriffen. Alternativ für beide wird der Nachname »Page« genutzt.

In Pageboy, übersetzt von Stefanie Frida Lemke, Lisa Kögeböhn und Katrin Harlaß, schildert Elliot Page Erfahrungen aus seiner Kindheit, erzählt von seiner Karriere, Freundschaften, Queersein und Queerfeindlichkeit. Nach einem kurzen Vorwort folgt Pages eigentlicher Erinnerungsbericht. Der Anfang wirkt abrupt, als Leser:in wird man direkt ins kalte Wasser geworfen, in einen Ausschnitt aus Pages erster Erfahrung in queeren Bars: Ellen ist mit Paula dort, möchte sie küssen, überlegt, ob es das Richtige ist, lässt die Vorurteile hinter sich und tut es endlich:

»Wir beugten uns vor, bis unsere Lippen sich sanft berührten, unsere Zungenspitzen neckten sich, wir kosteten einander, und Schauer durchliefen mich. Wir sahen uns an, ein stilles Einverständnis«, schreibt er.

Für Ellen ist es jedoch anders: Paula ist die erste Frau, die ihre Liebe wirklich erwidert. Doch draußen in der Welt wartet der große Trubel. Als Schauspielerin steht Page unter großem Druck. Auf der Suche nach ihrer Sexualität wurde sie bereits in der Schulzeit gemobbt, als »Lesbe« beschimpft und in Jungstoiletten gezerrt. Nun steht sie der unzumutbaren Klatschpresse und Stalkern gegenüber. »Schwuchtel« genannt zu werden ist für Page keine Seltenheit. Schockierende Steigerung dessen sind das Hinterherrufen und die Verfolgung von Page auf offener Straße.

Keine gewöhnlichen Hollywood-Memoiren

Page geht in seiner Autobiografie zunächst auf seine Kindheit in Halifax in der kanadischen Provinz Novia Scotia ein und auf die eigenen Eltern, die sich scheiden ließen. Auf seinen Vater, der mit einem Freund eine eigene Firma aufgebaut hat, seine Mutter, die eine beliebte Französisch-Lehrerin war. An einer Stelle geht es um seine intolerante und rassistische Großmutter, die Ellens Vater fragt: »Dennis, was machst du, wenn Ellen lesbisch ist?« Er schreibt über Freund:innen und Orte, die ihm persönlich geholfen haben, zu denen er eine Verbindung aufbauen konnte.

Page schreibt über unerwiderte, leidenschaftliche und hemmungslose Liebe. Über das Gefühl, angenommen zu sein und dann als Person doch wieder in Frage gestellt zu werden. Die Momente, in denen Ellen ihr Körper zuwider ist, in denen die Geschlechtsdysphorie »wieder einsetzte wie ein nerviger Popsong«, eine »penetrante Stimme in deinem Hinterkopf, von der du annimmst, dass alle anderen sie auch hören, was sie aber nicht tun«. Die Dysphorie, der Leidensdruck, nicht mit dem bei Geburt festgestellten Geschlecht übereinzustimmen, setzte das erste Mal ein, als Ellen elf war. 

Es wird schnell klar, dass es sich nicht um Hollywood-Memoiren über Glanz, Champagner und Tratsch handelt. Es sind auch nicht Enthüllungsberichte über Drogenabhängigkeit und teure Prozesse gegen Produktionsfirmen oder Ehepartner:innen. Page lenkt den Blick hinter die Kamera und eröffnet das Drehbuch zu einem Film, den sich immer noch zu viele wünschen: Dass man sich selbst einfach ändern, unterordnen und anpassen soll, der Rest der Gesellschaft jedoch keine Änderung zeigt, sondern statisch verharrt.

Harte Ehrlichkeit

Pages harte Ehrlichkeit zeigt einmal mehr das Abziehbild eines heuchlerischen Hollywoods. Zum Beispiel in Form eines Regisseurs, der Ellen fragt, ob Ellen verärgert sei, weil ihre Rolle nicht lesbisch sei und ob sie deswegen keinen Rock tragen wolle.

Trigger-Warnung: Explizite Beschreibung von sexuellen Handlungen.

Ähnliches erzählt Page auch über einige bekannte männliche Produzenten und Schauspieler, die ihr mitunter ins Gesicht sagen, sie sei gar nicht queer. »Ich fick dich mal so richtig durch, dann wirst du schon merken, dass du doch auf Männer stehst«, ist einer der Sätze, die schmerzlich aufrütteln. Natürlich war das im Vollrausch, ein paar Tage später habe er dies ja alles nicht so gemeint. Solche Vorfälle, die Page in seiner Autobiografie schildert, ließen sich beliebig fortsetzen, ein Strom aus Respektlosigkeit und fehlender Einsicht.

Hier endet die konkrete Beschreibung.

Auch zu Hause nimmt die Tortur kein Ende, sowohl ihre Stiefmutter Linda als auch Pages Stiefgeschwister sagen in Ellens Gegenwart immer wieder »Bremsspur« zu ihr, wegen Stuhlspuren – vermutlich aufgrund einer Lebensmittelvergiftung – in ihren Unterhosen. Der Vater hat eher eine ambivalente Haltung und hält zu Ellen, wenn er allein mit ihr ist, doch nicht wirklich, wenn Linda dabei ist. Es sei ja nur Rumblödelei. Die Stiefgeschwister hingegen werden nie gehänselt. Den Kontakt zum Vater hat Elliot später abgebrochen. Nennenswerte Hilfe, selbst bei Stalkern, konnte Page von ihm nicht erwarten. Eher Wut, Gleichgültigkeit oder ein »War-ja-nicht-so-gemeint«.

Schauspielern ist harte emotionale Arbeit

Natürlich erfahren Leser:innen auch etwas über Elliot Pages Schauspielerei: »Ihre Klugheit und ihr Witz eröffneten mir einen völlig neuen Slang, organisch und ehrlich«, schreibt er beispielsweise über seine wohl größte Rolle der Juno im gleichnamigen Film. Page macht klar, dass die Rollen einiges fordern. Während der Dreharbeiten zu An American Crime, ein Film, der den brutalen Missbrauchsfall der Sylvia Likens in Indiana von 1965 zum Thema hat, befand sich Page in einer Krise. »Ich konnte meiner Rolle nicht entkommen und nahm nach jedem Drehtag alles mit nach Hause«, schreibt er. Ellen verinnerlichte die Rolle der Sylvia, die durch ihre Betreuerin Gertrud Baniszewski und deren Kinder neben weiteren Misshandlungen hungern oder ihr Erbrochenes essen musste. Auch eine Essstörung entstand bedingt durch ihre damalige Rolle. Sie wog nach den Dreharbeiten nur noch 42 Kilogramm, begab sich in Therapie, in der es sich allein um den gesunden Umgang mit Essen drehte. Eine Auszeit folgte. Erst mit der Zeit habe Page sich daran gewöhnt, die »Arbeit am Set zu lassen« und nicht mit nach Hause zu nehmen.

Keine lineare Erzählung

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Elliot Page
Pageboy. Meine Geschichte

S. Fischer: Frankfurt a. M. 2023
336 Seiten, 24,00 €

Page erzählt nicht chronologisch, sondern berichtet in einzelnen Kapiteln aus seinem Leben. Manchmal springt er in den Kapiteln zwischen einzelnen Erlebnissen, manchmal ist dies verwirrend. Man versteht nicht sofort alles, muss sich voll auf einen gemeinsamen Weg mit Page verlassen. So, wie er seinen Weg gehen musste. Es sei keine chronologische Erzählung, weil Queersein auch keine lineare Erzählung sei, sondern »ein verschlungener Weg«, schreibt er im Vorwort. Ab und an bekommt man das Gefühl, dass sich das Erzählkonzept etwas abnutzt, da die vielen Begegnungen erfreulicher und unerfreulicher Art so zahlreich sind.

Das darf aber nicht über den Mut, den seine Geschichten geben, hinwegtäuschen. Denn schließlich sind all die freundlichen, liebenden, energiebringenden und vor allem hilfsbereiten Menschen, denen Page einen Raum gibt, der Lichtblick am Ende eines langen Tunnels. Sie finden sich in kleinen ökologischen Dörfern wie Lost Valley in Oregon, in dem Page mit einem Kurs zu Permakultur mehr über Nachhaltigkeit lernen will. Sie finden sich an Sets wie bei An American Crime in Form der Schauspielerin Catherine Keener, für die Page Bewunderung empfindet und die er C Keens nennt. In Form von vielen Freund:innen, die ihn begleitet haben, zum Beispiel bei seinen Coming Outs. »Wann habe ich dir gegenüber zum ersten Mal erwähnt, dass ich vielleicht trans bin?«, fragt Ellen ihre Freundin, die Schauspielerin Bea Brown, einmal. Es sei bereits vor ihrem 29. Geburtstag gewesen. Ohne Bea sei Page »eindeutig nicht hier«, würde vielleicht noch immer nicht der sein, der er sein wollte.

Mut auch durch die eigene Mutter

Schließlich ist es auch seine Mutter, die immer für ihn da ist. Zwar gab es Differenzen. Man merkt der Mutter die Freude an, als Ellen ihr zuliebe Mädchenkleidung tragen will, Ellen in Wahrheit aber lieber in die Abteilung für Jungenkleidung gehen möchte. Doch »mit der Zeit änderte sich meine Mom, ihre alten Ansichten bröckelten und machten Platz für neue«. Im Dankeswort beschreibt er sie als Inspiration.

Pageboy ist viel mehr als eine reine Hollywood-Autobiografie. Es ist ein aufrüttelndes, bewundernswertes und ehrliches Werk, das genauso erschüttert, wie es den Leser:innen auch Lichtblicke zeigt. Es ist gut, dass Page dieses Buch geschrieben hat; ein Aufruf zu Akzeptanz und Respekt – und eine Forderung, dass wir uns endlich zuhören. Hoffentlich werden wir noch oft von ihm hören.

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