Problematische Rollenbilder

Wie wäre es, wenn Frauen die Selbstverständlichkeit gesellschaftlicher Rollenbilder stärker in Frage stellen würden? Mareike Fallwickl erkundet in Die Wut, die bleibt, was sich dadurch verändern könnte. Der Roman ist ein Manifest für Ehrlichkeit und Mut, das unter die Haut geht.

Von Laura Kinzig

Bild: Via Pixabay, CC0

Ein einziger, alltäglicher Satz ist der Auslöser für die dreifache Mutter Helene, sich eines Tages vom Balkon zu stürzen und ihrem Leben ein Ende zu setzen: »Haben wir kein Salz?«, will ihr Mann Johannes beim Abendessen wissen. Während es für ihn bloß eine beiläufige Frage ist, drückt sich darin für Helene die Erwartungshaltung aus, dass sie sich als Hausfrau und Mutter schon um alles kümmert, die Kinder versorgt und die Vorratshaltung so im Blick hat, dass sich der Rest der Familie nur noch an den gedeckten Tisch setzen muss. Helene will und kann dem Druck, der mit dieser Erwartungshaltung einhergeht und der durch die globale Pandemie noch verstärkt wurde, nicht länger standhalten und sieht nur noch den Suizid als Ausweg.

Mit dieser erschütternden Szene beginnt Mareike Fallwickl ihren Roman Die Wut, die bleibt. Helenes Suizid ist nicht nur als Leserin ein Schock, sondern vor allem für Helenes soziales Umfeld. Fallwickl erzählt von den gravierenden Veränderungen, die das einschneidende Ereignis im Leben der Hinterbliebenen herbeiführt, und zwar aus der Perspektive der beiden Frauen, die Helene am nächsten standen: ihre 15-jährige Tochter Lola und Sarah, die beste Freundin.

Wut auf ein scheinbar auswegloses System  

Der Tod hinterlässt eine Lücke, die niemand zu füllen vermag, denn weder eine Mutter noch eine beste Freundin lässt sich wirklich von irgendjemandem auf der Welt ersetzen. Der Verlust spült auch eine Flut von Gefühlen an die Oberfläche: vor allem die Trauer um den geliebten Menschen, zugleich aber auch eine starke Wut. Da ist die Wut auf Helene, die sich im Empfinden Sarahs und Lolas ihrer Verantwortung als Mutter entzogen hat. Noch eine größere Wut fühlen sie in Bezug auf die Gesellschaft, die Frauen – und ganz besonders Mütter – in die engen Grenzen eines statischen Rollenbildes zwängt, das vorsieht, dass sie stets dankbar und aufopferungsbereit gegenüber ihrer Familie sein sollen. Oft werden diese Frauen als kaltherzig und egoistisch wahrgenommen, wenn sie dieser Rolle nicht entsprechen.

Lola verspürt als junge, aufgeklärte Feministin zudem eine Wut auf jene Männer und Frauen, die dieses gesellschaftliche System tragen, in dem Frauen immer noch einen Großteil der anfallenden Care-Arbeit übernehmen. Währenddessen gehen die Männer arbeiten, weil sie es nicht anders gewohnt sind und es selbst nicht besser wissen. Ganz besonders groß ist Lolas Wut darauf, dass das System vielen Menschen so ausweglos zu sein scheint, weil es zum Teil aus jahrhundertealten, patriarchalen Strukturen besteht. Um daran auch nur im eigenen kleinen Umfeld etwas zu verändern, braucht es Mut, Ehrlichkeit und den Willen, gemeinsam aufzubegehren.

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Mareike Fallwickl
Die Wut, die bleibt

Rowohlt: Hamburg 2022
384 Seiten, 22,00€

Schilderung aus zwei Perspektiven

Der Roman begleitet Sarahs und Lolas Entwicklung ein ganzes Jahr nach dem Tod Helenes. Fallwickl schreibt abwechselnd aus der Perspektive der beiden Frauen, was sie erleben und welche Wege sie gehen, um ihre aufgestauten Gefühle herauszulassen. Sarahs und Lolas Kapitel unterscheiden sich nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich stark voneinander: Während die Passagen aus Sarahs Sicht behutsam, nachdenklich und zurückhaltend sind, wird die Sprache in den Abschnitten aus Lolas Sicht roher, die Sätze kürzer, die Botschaften eindringlicher. Damit veranschaulicht Fallwickl gekonnt die Unterschiede zwischen den Lebenswelten der beiden Frauen, die verschiedenen Generationen angehören und entsprechend anders sozialisiert sind.

Nach der Beerdigung stellt sich heraus: Es ist niemand da, der den sechsjährigen Sohn Maxi und dessen eineinhalbjährigen Bruder Lucius versorgt, während Vater Johannes den ganzen Tag auf der Arbeit ist. Somit findet sich Sarah unversehens in der Rolle der Hausfrau und Ersatzmutter wieder. Sie versorgt das Kleinkind, kocht das Essen und kümmert sich um den Haushalt. Im Laufe der Zeit entwickelt sie ein immer größeres Verständnis für Helene, die einen Ausweg aus eben dieser Lage gesucht hat. Sie fühlt jetzt auch den Frust und die Überforderung, die Helene so gut gekannt hat. Ihre entstehende Wut wendet Sarah jedoch erstmal nur nach innen:

Wie sollte sie zugeben, dass sie es sich anders vorgestellt hat, einfacher? Wie konnte sie sagen, dass Kinderhüten einsam ist, obwohl man nicht allein ist dabei, und überhaupt, ihr Status als Frau verbietet ihr, sich negativ zu äußern über alles, was mit Mutterschaft und Familie zu tun hat. Denn das ist ihr Daseinszweck, ihre Existenzberechtigung, das Gebären, das Stillen, das Kosen und Trösten und Sorgen.       

 Aufruhr gegen soziale Rollenbilder

Lola konfrontiert Sarah mehrfach mit ihrem Verhalten und ist zugleich wütend auf ihren Stiefvater Johannes, der die Hilfe Sarahs wie eine Selbstverständlichkeit annimmt. Anders als Sarah stellen Lola und ihre beste Freundin Sunny die bestehenden gesellschaftlichen Rollenbilder radikal in Frage und wollen sich nichts gefallen lassen. Nachdem Jungen sie in einem Skatepark belästigten, melden sie sich bei einem Selbstverteidigungskurs an. Dort lernen sie nicht nur verschiedene Kampfsporttechniken, sondern auch, mit ihren Emotionen und ihrem Körper umzugehen. So beginnen die beiden allmählich, ihre Wut nach außen zu kehren und rächen die Gewalterfahrungen, Belästigungen und Bedrohungen, die Frauen in ihrem Umfeld immer wieder machen, mit Gegengewalt.

Die Autorin regt die Leser:innen dazu an, sich in verschiedene Perspektiven hineinzuversetzen. Insbesondere die pointierten Schilderungen verschiedener Alltagssituationen erlauben es, sich mit den Protagonistinnen zu identifizieren. Wie ergeht es Müttern und Vätern in unserer Gesellschaft? Welchen Druck spüren Frauen ohne Kinder? Wie fühlen sich junge Frauen, die nicht bereit sind, die gesellschaftlichen Erwartungen zu erfüllen?

Einladung zum Aufbegehren

Die Wut, die bleibt ist ein starker, emotionaler Roman, der lange nachhallt. Fallwickl schreibt direkt am Puls der Zeit und befasst sich schlussendlich mit den konstruierten Gesellschaftsrollen von Männern und Frauen, der inneren Wut auf das System und wie zwei Frauen damit umgehen. Damit erhalten besonders Frauen eine Einladung, gemeinsam gegen diese auferlegten Rollen aufzubegehren.

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