Postkoloniale Klassenkritik

Zusammenkunft erzählt von einer Schwarzen Klassenaufsteigerin in London, die sich angesichts einer Brustkrebsdiagnose mit der grundlegenden Frage auseinandersetzen muss: »Warum leben?« Im Zuge einer schonungslosen (Selbst-)Analyse werden die rassistischen Schranken der britischen Klassengesellschaft offengelegt.

Von Sebastian Kipper

Bild: Via Pixabay, CC0

Natasha Browns Romandebüt Zusammenkunft, das in Großbritannien 2021 unter dem Originaltitel Assembly erschien, beginnt dort, wo andere Klassenaufstiegsgeschichten normalerweise enden. Denn die Protagonistin, eine junge Schwarze Frau aus London, scheint bereits alles erreicht zu haben: Sie hat einen gut bezahlten Job im Finanzsektor, eine eigene Wohnung in vorteilhafter Lage und ist in einer stabilen romantischen Beziehung mit einer präsentablen Partie. Doch auf den vermeintlich gelungenen Aufstieg und die Anpassung in der Zielklasse folgt kein Glück, sondern Resignation. Eine Brustkrebsdiagnose lässt sie ihr bisher Erreichtes hinterfragen. Immer mehr wird der Krebs als Möglichkeit gesehen, ihrer Aufstiegsgeschichte ein Ende zu setzen. Diese Lebensmüdigkeit hat tiefe Wurzeln, die im Roman nach und nach freigelegt werden.

Zusammenkunft ist aus der Ich-Perspektive der Protagonistin erzählt. Die äußere Handlung des Romans dreht sich neben der Bewältigung ihres Arbeitsalltags um den Besuch der Eltern ihres Freundes auf deren Landsitz außerhalb Londons. Die Erzählung selbst setzt sich aber aus voneinander abgesetzten Absätzen zusammen, die wie aus der vormals kohärenten Lebenserzählung der Protagonistin herausgebrochen wirken. So ergibt sich ein bruchstückhafter Text, in dem mehr szenisch als linear erzählt wird. Auch stilistisch variiert der Roman zwischen prosaischen und essayistischen Passagen. Immer wieder schieben sich zwischen die Darstellungen der Ereignisse entweder Rückblenden oder Reflexionen, die sich oft daraus ergeben, dass sich die Ich-Erzählerin von ihrem Umfeld mental abgekoppelt fühlt. Gleichzeitig seziert die Protagonistin aus ihrer distanzierten Position das Verhalten der Personen in ihrem Umfeld – und sich selbst.

Haben und Sein

Es ist ein soziologisch-informierter Blick, der Handeln und Denken auf das jeweilige Herkunftsmilieu zurückführt. Schonungslos entblößt sie die »hässliche Maschinerie«, die hinter all ihren Entscheidungen steht und nichts anderes ist als der unbedingte Wille zum Klassenaufstieg. Banken sind laut der Erzählerin zwar »[e]rbarmungslose, effiziente Geldmaschinen«, aber für sie »ohne Kontakte und Geld« der »einzige gangbare Weg nach oben.« Auch ihre Selbst-Präsentation wird auf diesem Weg nach oben optimiert, indem sie die Angehörigen der Zielklasse imitiert: Sie lernt, was sie zu tun, wie sie aufzutreten und zu sprechen hat. Ihr Klassenaufstieg stellt zugleich die Begleichung einer Schuld gegenüber ihren jamaikanischen Vorfahren dar, die viel für sie aufgegeben haben, damit sie diese Aufstiegschance erhält.

Doch besonders im Kontrast zu ihrem Freund erkennt die Ich-Erzählerin immer wieder, dass all ihre Bemühungen nicht ausreichen. Im dritten Teil des Romans erreicht die Erzählerin ihn und seine Eltern auf deren Landsitz. Mittels einer geschmackvollen Einrichtung, einer ausgewählten Kunst- und Fotosammlung und einer imposanten Bibliothek wird der Reichtum seiner Familie präsentiert. Durch ihren Freund bekommt sie die vermeintliche Aussicht auf Zugehörigkeit zur upper class. Aber auch er kann die Beziehung zu einer Schwarzen Frau für sich nutzen, um sich trotz seines konservativen Elternhauses glaubwürdig als liberal zu geben.

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Natasha Brown
Zusammenkunft

Suhrkamp: Berlin 2022
113 Seiten, 20,00€

Nicht zuletzt ist es aber der Stammbaum ihres Freundes, der den größten Eindruck auf die Protagonistin macht. Denn diese Möglichkeit der Selbstverortung in einer familiären Genealogie ist für sie höchst problematisch. Die Erzählerin hat keinen Bezug zu dem Herkunftsland der Großeltern und dessen Kultur. Doch auch eine vollständige Assimilation in England bleibt ihr aufgrund ihrer Hautfarbe verwehrt. Denn der Besitz ihres Freundes und seiner Eltern, das Einschreiben dieses Besitzes in ihre Körper, ihre Denkweise, ihre Weltwahrnehmung: Das ist Produkt des Kolonialismus des britischen Empires, dessen Reichtum auf der Ausbeutung von Kolonien und der Versklavung von Schwarzen Menschen basiert.

Kolonialistische Kontinuitäten in Englands Klassengesellschaft

Immer wieder werden in Zusammenkunft Auswüchse des alltäglichen Rassismus geschildert. Das Spektrum reicht von der Darstellung monierender weißer cis-het Männer, die sich aufgrund von Diversitäts-Quoten gegenüber Frauen und BIPoC am Arbeitsplatz benachteiligt fühlen, bis hin zu Beleidigungen von Fremden auf der Straße, die der Protagonistin das N-Wort entgegenspucken. In jedem einzelnen dieser Übergriffe wird der Rassismus als Erbe der kolonialen Geschichte freigelegt, der das britische Herrschaftssystem grundiert und immer noch in seinen Institutionen weitervermittelt wird. Die koloniale Kontinuität besteht in der erniedrigenden Degradierung Schwarzer Körper zu Objekten durch verschiedenste verbale und nicht-verbale Praktiken:

»Man hat ihnen beigebracht, unsere Körper (uns) als Objekte zu betrachten. Sie lernen die Unterscheidung Industriestaaten/Entwicklungsländer als Geografie […]: die namenlosen, gesichtslosen, nichtidentifizierbaren (schwarzen) Körper, ausgestellt, zusammengepfercht und angekettet, Seite an Seite, Kopf an Fuß, im Bauch eines illustrierten Schiffs. Unter Bedingungen, die für Tiere ungeeignet wären. Bis in alle Ewigkeiten werden ihnen diese Darstellungen wieder und wieder in Klassenräumen gezeigt. Bis es Axiom wird; die ununterbrochene Linie zu uns.«

Auch die britische Regierung wirkt als rassistischer Aggressor: Die vernichtenden Degradierungen von Seiten der (Nachkriegs-)Regierungen – die Erben der Kolonialzeit – deren Verbrecher die Vertreter des britischen Machtapparats durch verschiedene Handlungen versuchen zu verschleiern: »Wie können wir einen postkolonialen Blickwinkel einnehmen, diskutieren, überhaupt denken, wenn es keine geteilte Wissensgrundlage gibt?« Wegen dieser fehlenden geteilten Wissensgrundlage sind die Versuche, mit weißen Menschen über Rassismus zu sprechen, für die Protagonistin genauso zum Scheitern verurteilt, wie wenn man die Existenz von Luft beweisen wolle: »Erkläre Luft. Überzeuge einen Skeptiker. Beweise, dass sie da ist. Beweise etwas, das man nicht sehen kann. Ein Windhauch Brutalität schneidet dich jeden Tag – wie rechtfertigst du das?«

Tod als einziger Ausweg

Warum leben also? Die Brustkrebsdiagnose und die drohende Metastase der Tumorzellen sieht die Protagonistin nicht nur als Möglichkeit des Auswegs, sondern auch als Ausdrucks des Widerstandes gegen die rassistische britische Klassengesellschaft. Zusammenkunft hat durchgehend einen pessimistischen Unterton, denn eine alternative Lösung des Konflikts als der angedeutete Freitod durch die unterlassene Krebsbehandlung wird im Roman nicht wirklich präsentiert. Das mag an der Perspektive der Hauptfigur liegen, die wohl selbst nicht in der Lage ist, sich ein Lebensmodell außerhalb der (neoliberalen) Aufstiegslogik vorzustellen. Darin kann aber auch eine grundlegende Kritik am Narrativ des Klassenaufstiegs liegen, der nur in eine Sackgasse führt.

Natasha Brown widmet sich in ihrem Debüt dem gleichen Sujet wie die diesjährige französische Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux und der französische Nachwuchsautor Édouard Louis in ihren stark autobiographischen Texten. Zusammenkunft ergänzt jedoch die bisherigen literarischen Auseinandersetzungen mit Klassenaufstieg um eine intersektionale Perspektive, die ›class‹ konsequent mit ›gender‹ und ›race‹ zusammenbringt. Nur in wenigen essayistischen Passagen wird dies allzu theoretisch behandelt.  Gleichzeitig blendet sie die rassistischen Kontinuitäten in den politischen Einstellungen und Parolen auf, die das glorreiche Empire nochmal aufleben lassen wollen. Natasha Brown gelingt es in ihrem Debüt auf beeindruckende Weise, eine Klassenaufstiegsgeschichte und das daraus resultierende Gefühl sozialer Heimatlosigkeit mit einer präzisen Analyse von Rassismus in post-Brexit England zu verknüpfen. Ein zu Recht gefeiertes Debüt.

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