Der Roman Libellenschwestern von Lisa Wingate verarbeitet einen Skandal um Kindesentführungen anhand einer fiktiven Story, in der die ProtagonistInnen schwächeln. Die Aussage der Erzählung wird schnell klar: Man gibt nicht einfach auf, wenn es um die Menschen geht, die man liebt.
Von Regina Seibel
Bild: tuhinkhamaru740 via pixabay / CCO
Eigentlich hat Lisa Wingates Roman Libellenschwestern vieles, was ein gutes Buch ausmacht: ein berührendes Thema, zwei fiktive, sich miteinander verflechtende Haupthandlungen und das Einbringen einer wahren Geschichte. In diesem Fall dreht es sich um die »Tennessee Children´s Home Society«, eine Adoptionsagentur in Amerika, und deren Leiterin Georgia Tann. Doch leider schöpft dieser Roman nicht sein volles Potenzial aus. Schuld daran ist hauptsächlich aber nur einer der beiden Hauptstränge.
Avery Stafford, 30 Jahre alt und Juristin, bereitet sich darauf vor, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Dieser ist Politiker und schwer krank. Ziemlich schnell wird deutlich, dass Avery aber eigentlich nicht zufrieden mit ihrer derzeitigen Situation ist. Von der PR-Beraterin ihres Vaters, Leslie, wird sie herumgeschubst und in ihren Verlobten ist sie auch nicht so wirklich verliebt. Das gesteht sie sich am Anfang des Romans natürlich nicht ein. Ihr Privatleben ist im Allgemeinen kaum existent, so ist sie die meiste Zeit damit beschäftigt, ihren Vater bei seinen Terminen zu begleiten. Was hier schon klischeehaft klingt, ist es auch und wird noch schlimmer. Die eigentliche Hauptfigur ist eine schwache Frau, die nicht in der Lage ist, für sich selbst einzustehen, geschweige denn eine eigene Meinung zu entwickeln. Bei allem, was sie tut, ist sie unsicher.
Lisa Wingate
Libellenschwestern
Limes Verlag 2018
480 Seiten, 22,00€
Ein geschäftlicher Termin in einem Pflegeheim in Aiken, South Carolina, führt Avery mit der dortigen Bewohnerin May Crandall zusammen. May erkennt Averys Armband in Libellenform, welches dieser von ihrer Großmutter Judy vererbt wurde, und stiehlt es. Die Geschichte um May Crandall beeindruckt Avery, und so beginnt sie Nachforschungen bezüglich des Armbands anzustellen; von ihrer demenzkranken Großmutter Judy ist nämlich keine große Hilfe mehr zu erwarten. Es ist interessant zu beobachten, wie Judys Enkelin langsam herausfindet, welche symbolische Bedeutung ihr geerbtes Armband in sich trägt. Dass dieses Armband vier Geschwister miteinander verbindet, erfahren wir recht früh. Welche Rolle genau der Großmutter dabei zukommt, verstehen wir jedoch erst am Ende des Romans und dieses lässt sich auch nicht so schnell erraten.
Memphis, Tennessee, 1939: 70 Jahre vor der Erzählung von Avery und ihren Entdeckungen entspinnt sich die Geschichte rund um Rill Foss und ihre vier Geschwister, die zusammen mit ihren Eltern Queenie und Briny in einem Hausboot auf dem Mississippi leben. Queenie ist hochschwanger, erwartet Drillinge, doch es kommt zu Komplikationen bei der Geburt. Widerwillig muss Briny die 12-jährige Rill mit ihren Geschwistern alleine auf dem Boot lassen, während er seine Frau zur Entbindung ins Krankenhaus bringt. Dieser Moment soll das Leben der Familie vollkommen verändern. Wenig später erscheint die Polizei auf dem Boot und bringt die Kinder in ein Kinderheim der »Tennessee Children´s Home Society«. Georgia Tann und ihre weiteren MitarbeiterInnen haben jedoch nur ihren eigenen Profit und nicht das Wohl der Kinder im Auge. Die körperlichen und seelischen Misshandlungen haben bei den anderen (vorgeblichen) Waisen bereits Spuren hinterlassen und beginnen bald auch Rill und ihre Geschwister zu verändern. Die »Flusszigeuner«, wie sie bezeichnet werden, werden zunehmend aggressiver, eingeschüchterter und psychisch labiler. Verzweifelt versucht Rill als älteste Schwester, ihre Familie beisammenzuhalten und zu beschützen, doch es gelingt ihr nicht. Nach und nach werden ihre Geschwister unter falschem Namen von Familien adoptiert. Ihre Schwester Camellia verschwindet spurlos, nachdem sie im Heim für zu viel Aufregung gesorgt hat.
Als Rill letztendlich die Chance zur Flucht und Rückkehr zu ihrer Familie erhält, nimmt das Schicksal seinen Lauf und sie wird unter dem Namen May adoptiert. Doch auch in der Pflegefamilie kann sie ihre leiblichen Eltern und das frühere Leben auf dem Boot weder vergessen noch aufgeben. Es braucht eine erschütternde Begegnung mit ihrem einstigen Leben, damit sie erkennt, dass es kein Zurück mehr gibt und es Zeit ist, nach vorne zu schauen.
Unbestreitbar ist diese Handlung deutlich spannender und mitreißender als die um Avery, ein einseitiger, langweiliger Hauptcharakter, der uns weder berührt noch mitreißt. Die sich zudem nebenbei entwickelnde Liebesgeschichte zwischen ihr und einem attraktiven jungen Mann, der Avery bei ihren Nachforschungen behilflich ist, ist voller Klischees und so vorhersehbar, dass sich die Autorin gut daran getan hätte, sie einfach wegzulassen. Vielleicht wäre dann auch mehr Raum gewesen für eine interessantere Gestaltung der Protagonistin.
Rill hingegen hat da schon mehr Format, auch wenn man ihr ihre charakterlichen Färbungen nicht vollkommen abkauft. Ihre Naivität auf der einen Seite und ihr Verantwortungsbewusstsein auf der anderen sind geradezu paradox. Die Reaktion auf das Verschwinden und den mutmaßlichen Tod ihrer Schwester ist schwach, fast gleichgültig. Dem Spannungsbogen tut dies jedoch keinen Abbruch. Man möchte am liebsten die Passagen mit Avery überspringen, um zu erfahren, wie es mit den Foss-Kindern weitergehen wird.
Mehr Tiefe bekommt die Geschichte dadurch, dass die Gräueltaten der »Tennessee Children´s Home Society« keine Fiktion sind, sondern sich tatsächlich in den 1920er bis 1950er Jahren so zutrugen. Eine Ambivalenz zeigt sich darin, dass viele Waisen und unerwünschte Kinder durch Georgia Tanns Organisation für viel Geld in liebevolle Elternhäuser vermittelt wurden, wo sie die Chance erhielten, ein normales Leben führen zu können. Georgia Tann machte es erst möglich, dass Adoption im Allgemeinen populärer wurde und mehr Ansehen erlangte. Gleichzeitig entriss ihr Netzwerk aber auch glückliche Kinder ihren Eltern, ohne dass es dafür einen plausiblen Grund gegeben hätte. Mittellose Familien wurden im Krankenhaus dazu gedrängt, das Sorgerecht für ihre Neugeborenen abzutreten. Durch das Ändern der Namen und Geburtsdaten der Kinder war es für die Eltern nahezu unmöglich, ihre Kinder wiederzufinden. Man schätzt, dass etwa 5000 Kinder verkauft wurden, etwa 500-600 sind hingegen spurlos verschwunden. Umso erschütternder ist es, dass angeblich niemand etwas von den Missständen in den Kinderheimen und den erzwungenen Sorgerechtsabtretungen gemerkt haben soll. Georgia Tann wurde nie für ihre Taten belangt, da sie wenige Tage nach den Enthüllungen verstarb. Viele Eltern fanden nie heraus, was aus ihren Kindern geworden ist, die Suche gestaltete sich schwierig und die Dokumente der Organisation wurden erst Jahrzehnte später, 1995, zugänglich gemacht.
Lisa Wingate greift also zweifellos ein wichtiges Thema auf, doch die Umsetzung gelingt ihr nicht. Der wirklich bewegende Hintergrund wird durch die zum Teil fantasielosen ProtagonistInnen geschmälert. Die Autorin gibt selber an, sie habe über die Kraft zwischenmenschlicher Beziehungen geschrieben, doch gerade die großen Emotionen bleiben aus. Man verspürt während des Lesens weder starke Rührung noch Trauer. Wirklich schockiert ist man erst, wenn man die Hintergründe der Geschichte liest. Die Erzählung um Rill/May und Avery klingt nicht nach. Das Happy End stimmt im Übrigen etwas versöhnlich, hätte aber das Einbringen der bereits erwähnten Liebesgeschichte um Avery nicht gebraucht.