Poetische Gesellschaftskritik

Sprache und Sein gibt eine Anleitung für einen bewussteren Umgang mit Sprache, um den Idealen einer pluralen Gesellschaft gerecht zu werden und die Welt gerechter zu machen. Persönlich und fesselnd erzählt Kübra Gümüşay eine Geschichte von Unterdrückung und dem Weg zur Befreiung.

Von Joscha Frahm

Bild: Via Pixabay, CC0

Das Buch Sprache und Sein von Kübra Gümüşay ist eine Gesellschaftskritik, die Hoffnung macht und Halt gibt. Die Autorin begeistert, bewegt und bringt die Leser:innen zum Nachdenken, indem sie Fragen nach dem Potenzial von Sprache stellt: Wie kann diese uns helfen, Gleichberechtigung zu schaffen und zu einer gerechteren Gesellschaft beitragen? Sprache bestimmt, wer wir sind und wer wir sein können. Sie gibt uns Flügel und bestimmt unsere Grenzen. Sie ist Fluch und Segen zugleich.

Gümüşay erzählt bestechend ehrlich und kunstvoll, sodass es ihr gelingt, ein ernstes Anliegen in Poesie zu verwandeln. Sie begeistert mit der Ästhetik ihrer Formulierungen und setzt Sprache fantasievoll ein, womit sie den Leser:innen ihre Lebenserfahrungen und Deutungen der Welt näherbringt. Als sie beispielsweise über ihre eigene Mehrsprachigkeit schreibt, klingt dies beinahe wie ein Gedicht: »Das Türkische ist die Sprache, in die ich manchmal flüchte, ohne es mir darin gemütlich zu machen. Und doch kann ich nicht ganz in ihr existieren, denn sie ist ein romantisierter Ort, zu dessen dunklen Ecken und Grenzen ich nie vorgedrungen bin.« Durch die Bilder und Emotionen, die Gümüşay mit dieser Art von Beschreibung hervorruft, schafft sie es, jede:n mitzureißen.

Wer wollen wir als Gesellschaft sein?

Wenn wir wollen, dass Diskurs stattfindet, der zu gemeinsamen Lösungen führt und allen Menschen die Möglichkeit gibt, so zu sprechen und zu sein, wie sie möchten, müssen wir handeln, argumentiert Gümüşay. Wie können wir Sprache nutzen, um unseren Idealen einer pluralen, gleichberechtigten Gesellschaft näher zu kommen? Antworten auf diese Frage liefert die Autorin in Sprache und Sein.

Kübra Gümüşay ist sich der Macht von Sprache bewusst und zeigt, wie diese ausgrenzt und genutzt wird, um Minderheiten unsichtbar zu machen. Wie sie Menschen in Kategorien drängt und ihnen so die Individualität raubt. Wie extreme Positionen voller Hass und Menschenfeindlichkeit zu legitimen Meinungen werden und wie das vor allem der Agenda der Rechten hilft.

Gümüşays Buch appelliert nicht nur an die Privilegierten, die nie mit Unterdrückung durch Sprache zu kämpfen hatten, den Blickwinkel zu weiten. Es macht auch Unterdrückten Mut, sich zu emanzipieren, die Gesellschaft neu zu formen und sie so zu verändern, dass jede:r frei sprechen und sein kann. Sprache und Sein ist ein Plädoyer für mehr Offenheit, Rücksicht, und ein stärkeres Bewusstsein für die Unvollständigkeit des eigenen Wissens. Wer nie durch Sprache diskriminiert wurde, übersieht leicht, wie Sprache unterdrückt und Möglichkeiten raubt, wie sie den Mächtigen noch mehr Macht gibt und Minderheiten unsichtbar macht. Gümüşay schreibt von »Benannten und Benennenden«: Wer mächtig sei, besitze das Privileg darüber zu entscheiden, wie Dinge benannt  und Gruppen kategorisiert werden und dadurch auch darüber, wie wir die Welt wahrnehmen. Dadurch leiden die Unterdrückten, meint Gümüşay. Denn wer sich nicht selbst benennen dürfe und immer nur als Teil einer Kategorie wahrgenommen werde, werde der eigenen Individualität beraubt. Sprache und Sein schlussfolgert: Wir müssen handeln, denn um Idealen der Pluralität zu entsprechen, muss ein Bewusstsein für die Begrenztheit von persönlichen Perspektiven entstehen und für konstruktiven Diskurs gekämpft werden, in dem jede:r gehört wird.

Sprache und Sein macht den ersten Schritt in Richtung eines vielfältigen Austauschs. Es werden die unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet: von Erfahrungsberichten von Menschen, die mehrsprachig aufgewachsen sind über Erzählungen des afroamerikanischen Schriftsteller James Baldwin bis hin zu Positionen des Philosophen und Quantenphysikers David Bohm.

Gümüşay liefert zahlreiche Gründe, Diskurs zu pluralisieren und gibt den Leser:innen eine Anleitung für einen bewussteren Umgang mit Sprache an die Hand. Wenn wir beginnen, Menschen unabhängig von ihrer Herkunft, Sexualität oder Religion zu beurteilen, und jeder:m Teilnahme am öffentlichen Diskurs ermöglichen, sind wir schon ein ganzes Stück weiter auf dem Weg zu einer pluralen Gesellschaft, argumentiert Gümüşay. Konkret bedeutet das, niemanden auszuschließen, der:die nicht in unsere vorgefertigten Rollenbilder passt. Vom Gendern beim Sprechen und Schreiben über das unvoreingenommene Beurteilen von Menschen bis hin zu Fernsehdebatten, zu denen auch Minderheiten eingeladen werden, umfasst dies laut der Autorin eine Reihe von erforderlichen Veränderungen. Doch Gümüşay nimmt uns die Angst davor:

Wir brauchen ein Bewusstsein für die eigene Fallibilität. Und wir brauchen Orte, an denen wir die Zukunft ausprobieren, an denen wir ein neues Sprechen üben können.

Ihre Botschaft lautet: Wenn wir ständig daran arbeiten, den Idealen einer besseren Gesellschaft zu entsprechen, müssen wir nicht befürchten Fehler zu machen, denn solange wir mit Wohlwollen vorgehen, können wir nur gewinnen. Ein vielfältiger Austausch sei immer sinnvoll, so lange nicht die Menschlichkeit und Existenzberechtigung des Gegenübers in Frage gestellt würden.

Gümüşay erzählt eine Geschichte

Kübra Gümüşay erzählt persönlich und bewegend, webt ihr Anliegen in zahlreiche Geschichten und Erzählungen ein und macht aus einem Buch mit einem ernsten Anliegen ein Werk, das nicht nur appelliert, sondern auch unterhält. Es zeigt, wie groß die Macht und der Einfluss von Sprache sind, denn Gümüsay weiß diese selbst geschickt einzusetzen. Sie berührt mit persönlichen Erzählungen, gibt Erfahrungen und Positionen verschiedener Menschen wieder und verliert dennoch nie den roten Faden. Durch den bedacht gewählten Einsatz von Zitaten, Gedichten, Berichten und schlussfolgernder Argumentation bleibt das Buch sehr abwechslungsreich. Dabei erzählt die Autorin eine Geschichte. Eine Geschichte von einem kleinen Mädchen, das sich nicht traut, türkisch zu sprechen, von Morddrohungen im Internet, von Hashtags, die viral gehen und politische Bewegungen auslösen, von Völkern, die keine Vergangenheitsform nutzen und von sexuell belästigten Frauen, die nicht artikulieren können, was ihnen widerfahren ist.

Gümüşay bringt Verständnis für Stereotype und den Absolutheitsglauben an die eigene Meinung auf, verurteilt diese aber dennoch scharf. Dadurch schafft sie es, einen nicht allzu vorwurfsvollen Ton anzuschlagen und eine sachliche und konstruktive Analyse des Ist-Zustands sowie eine erfreuliche Zukunftsperspektive zu präsentieren. Denn so machtlos, wie wir glauben, sind wir gar nicht, meint Gümüsay.

Hoffnung

Sprache und Sein ist ein Buch für alle, die für eine gerechte Gesellschaftsordnung, einen konstruktiven Diskurs und eine Gesellschaft, in der niemand seiner Menschlichkeit beraubt wird, stehen wollen und bereit sind, dafür Privilegien zu hinterfragen und ihre eigene Perspektive zu erweitern.

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Kübra Gümüsay
Sprache und Sein

Hanser Berlin: 2020
208 Seiten, 18,00€

In einer Zeit, in der die Gesellschaft immer weiter auseinanderzubrechen droht, in der Meinungen weiter auseinanderdriften und Fronten verhärten, ist ein Buch wie Sprache und Sein ermutigend. Es macht Hoffnung auf eine Zukunft, in der Diskurs sachlich ist und dazu beiträgt, eine gemeinsame Lösung für gesellschaftliche Probleme zu finden. In der jede:r gehört wird, die Perspektiven anderer respektiert und Stereotype hinterfragt werden. Nur wenn wir uns nicht scheuen, Kategorien neu zu denken, aus Fehlern zu lernen, neue Formen des Diskurses zu entwickeln und an die Möglichkeit von Wandel glauben, können wir eine gerechtere Gesellschaft für alle schaffen, meint Kübra Gümüşay.

Sprache und Sein zeichnet zwar kein klares Bild von der Zukunft, gibt uns dafür aber eine Idee von den Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen, um die Welt zu einem gerechteren Ort zu machen. Und damit können wir sofort anfangen, denn jedem Menschen steht das Werkzeug dazu zur Verfügung: die Sprache.

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