Die Literaturherbst-Veranstaltung zu Bi lädt dazu ein, Etiketten auszuprobieren, biphobische Annahmen zu hinterfragen und selbst Fragen zu stellen. Julia Shaw und die Moderatorin Susan Djahangard schaffen dafür eine sehr angenehme Atmosphäre.
Von Lisa Marie Müller
Bild: Lisa Marie Müller
Das Wort Etikettier-Gerät geht mir seit der Veranstaltung mit Julia Shaw beim Göttinger Literaturherbst nicht aus dem Kopf. Denn Bi – der Ausgangspunkt der Lesung und auch der Google-Scholar-Suche, die Julia Shaw dazu veranlasst, das gleichnamige Buch zu schreiben – ist das Etikett des Abends. Es wird von Etikett statt von Label gesprochen und warum auch nicht: Die Rechtspsychologin und Autorin Shaw verortet sich selbst darunter. Shaw war neugierig auf alles, was die Wissenschaft zu Bisexualität bisher herausgefunden hat. Die Suchergebnisse waren zahlreich und ernüchternd zugleich: Man hätte einiges über bisexuelle Bienen oder Geckos lernen können, doch über Bisexualität unter Menschen war nicht viel zu finden.
Die Moderatorin Susan Djahangard und Julia Shaw schaffen am 1. November eine angenehme Gesprächsatmosphäre, vielleicht auch weil die beiden im Rahmen einer Coverstory für das SZ-Magazin Anfang des Jahres bereits ein längeres Gespräch geführt haben. Djahangard stellt auf eine unaufgeregte Weise aufregende Fragen, Shaw erzählt, was sie durch Recherchen gelernt oder durch Vorurteile selbst erlebt hat, schweift ab in Anekdoten, verliert ab und zu den roten Faden, was aber überhaupt nicht schlimm ist, weil sie es merkt und sich verschmitzt erkundigt, was eigentlich die Frage war.
Biphobie
Zu Beginn wird mit Vorurteilen aufgeräumt und eine Definition gegeben: Die lateinische Vorsilbe bi steht für zwei – was jedoch nicht bedeutet, dass es um Geschlechterbinarität bzw. eine Präferenz für Männer und Frauen geht. Stattdessen steht die Zwei in Bisexualität schlicht für das eigene und für ein beliebiges anderes Geschlecht. In dieser Definition wird also auch Pansexualität – das Begehren nach Personen unabhängig vom Geschlecht – miteingeschlossen.
Trotz der lockeren Atmosphäre gehen Shaw und Djahangard immer wieder auf die Ernsthaftigkeit der Probleme queerer Menschen ein. Zum Beispiel auf die Ambivalenz von Outings: Es ist wichtig, sichtbar zu werden und an einem akzeptierenden Arbeitsplatz zu arbeiten – aber im Zweifelsfall muss man sich den möglichen Verlust des Arbeitsplatzes auch leisten können.
Göttinger Literaturherbst 2022
Vom 22. Oktober bis 6. November findet der 31. Göttinger Literaturherbst statt. Litlog ist wieder mit dabei und veröffentlicht jeden Tag einen Bericht zu den diversen Veranstaltungen des Programms. Hier findet ihr unsere Berichterstattung im Überblick.
Bispezifische Vorurteile werden immer wieder zum Thema und schwingen vielleicht sogar in der ein oder anderen Publikumsfrage im zweiten Teil der Veranstaltung mit – etwa, wenn nach »bispezifischen Beziehungsformen« gefragt wird. Shaw reagiert gelassen und antwortet mit hard facts, nämlich, dass die meisten bisexuellen Menschen in monogamen Beziehungen leben.
Etiketten ausprobieren
Interessante Details an dem zu wenig beleuchteten Thema sind auch die Unterschiede in Bezug auf bi als Selbstbezeichnung und bi als Forschungskategorie. Nur wenige bezeichnen sich bei Umfragen als bi. Fragt man jedoch, ob sie zu verschiedenen Geschlechtern Beziehungen oder Gefühle hatten, kommen weit höhere Zahlen heraus. Sowohl durch die persönlichen Anekdoten, verschiedene Ausflüge in die Forschung und zu Skalen, in die man seine romantischen/sexuellen Präferenzen einordnen kann, als auch durch die Publikumsfragen entpuppt sich der späte Abend als sehr lehrreich.
Immer wieder verweist Shaw auf das Buch, weil sie ihre Punkte dort in durchdachter Reihenfolge viel besser ausführe, als es in einem Gespräch möglich sei. Wer ihr zu dem Thema mehr zuhören möchte, kann auch in den thematisch passenden und empfehlenswerten BBC-Podcast reinhören. Eine für Shaw wichtige Vorgehensweise ist das Zitieren von Konzepten und Autor:innen, die das Thema berühren, wodurch sie in ihrem Buch Platz machen will für die, die sich schon lange dem Thema widmen. Um tiefer einzusteigen, lohnt sich das Buch definitiv. Es ist nicht nur inhaltlich durchdacht: Klappt man Buchdeckel und Buchrücken auf, ergibt sich die Bi-Flagge. Ein guter Abend, der Lust macht, das Buch zu lesen, zum Ausprobieren von Etiketten animiert oder auch erinnert, nach Etikettier-Geräten auf Ebay-Kleinanzeigen Ausschau zu halten.