Pflege-Porträt

In seinem Roman Ein Haus voller Wände widmet sich Frédéric Valin den Machtmechanismen des Pflegesystems. Das Buch überzeugt besonders durch die eindrücklichen Geschichten aus dem Pflegealltag, die vielfach gesellschaftliche und politische Missstände im Umgang mit Menschen mit Behinderung aufzeigen

Von Lea Taube

Bild: Via Pxhere, CC0

Als zu Beginn der Covid-19-Pandemie die Menschen auch in Deutschland auf ihren Balkonen stehen und den Beschäftigten der Pflege applaudieren, ist für Frédéric Valin schnell klar: Hier beklatschen sich die Menschen vor allem selbst. Denn sich durch performative Dankbarkeit ein gutes Gefühl zu verschaffen, scheint offenbar einfacher zu sein, als über die tatsächlichen Verhältnisse in Pflegeeinrichtungen zu sprechen.

Valin, geboren 1982 im Allgäu, hat selbst sieben Jahre lang in einem Pflegeheim für Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung gearbeitet. 2021 veröffentlichte er im Verbrecher Verlag das Buch Pflegeprotokolle, in dem er 21 Kolleg:innen aus unterschiedlichen Care-Berufen zu Wort kommen lässt. Zuvor hatte er bereits selbst von 2019 bis 2020 in seiner Kolumne Torten & Tabletten von seinem Arbeitsalltag in einer Wohngruppe berichtet. Einige dieser Kolumnentexte haben es auch in den autofiktionalen Roman Ein Haus voller Wände geschafft, der 2022 erschien.

Vom Schriftsteller zum Pfleger

Die Erzählung begleitet Nikolas, der das bayerische Dorf, in dem er aufgewachsen ist, verlässt, um in der Stadt seine schriftstellerischen Ambitionen zu verwirklichen. Nach einer Reihe schlechtbezahlter, langweiliger Marketing-Jobs beschließt er, sich als Betreuer bei einer Wohngruppe am Stadtrand zu bewerben. Dort lernt er über sieben Jahre hinweg das Feld der sozialen Arbeit und die Bewohner:innen der Einrichtung kennen.

Die Bewohner:innen, das sind hier »Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung«. Wenn Menschen ohne Behinderung über Menschen mit Behinderung sprechen, laufen sie oft Gefahr, Ableismus, also Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, zu reproduzieren. Es gibt von Aktivist:innen, die die Formulierung ›geistige Behinderung‹ ablehnen, mehrere alternative Selbstbezeichnungen, den Begriff ›Lernschwierigkeiten‹ zum Beispiel. Valin hat sich in seinem Roman bewusst dafür entschieden, die Formulierung »Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung« zu verwenden, weil die Diagnose ›geistige Behinderung‹ das Einzige sei, was alle Bewohner:innen der besagten Gruppe gemeinsam haben.

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Frédéric Valin
Ein Haus voller Wände

Verbrecher Verlag: Berlin 2022
202 Seiten, 24,00€

Diagnostische Willkür

Wie unscharf diese Diagnose eigentlich ist, wird dem Protagonisten Nikolas schnell bewusst. Die Menschen, die unter diesem Sammelbegriff zusammengefasst werden, haben nämlich meist Pflegebedürfnisse, die sich fundamental voneinander unterscheiden: Die einen brauchen Umsorgung und Bekümmerung, die anderen eher Förderung und Motivation. Das führt ständig zu Konflikten, etwa wenn Maria, eine Bewohnerin mit Demenz, beim Frühstück ihre Brote geschmiert und geschnitten bekommt, während Stefan nicht versteht, warum er sich seine Brote selbst schmieren muss. Was banal klingen mag, bedeutet im Pflegealltag: Menschen werden in Wohnheimen willkürlich zusammengeworfen und die Betreuer:innen können sehen, was sie draus machen.

Nikolas merkt zunehmend, dass er nicht allen Bewohner:innen der Gruppe gerecht werden kann und fühlt sich oftmals eher wie ein Schließer als wie ein Betreuer. Ernüchtert muss er in Bezug auf die Bewohnerin Nathalie feststellen:

Ich kann ihr nicht helfen, ich muss zusehen, dass die Institution Wohngruppe an jedem Bewohner, jeder Bewohnerin beweist, dass sie funktioniert. Für sie heißt das: Gefängnis, es gibt da nichts zu beschönigen.

Eine Alltagsbeschreibung mit Schlagkraft

Neben seiner Arbeit in der Wohngruppe beginnt er außerdem, eigene Recherchen anzustellen, zum ›Euthanasieprogramm‹ der Nationalsozialisten, zum gesellschaftlichen Umgang mit Menschen mit Behinderung damals, und wie dieses das Denken über Menschen mit Behinderung noch heute prägt. Ein Haus voller Wände vereint mit solchen Einschüben immer wieder unterschiedliche Gattungen: Mal liest es sich wie ein Bericht, mal wie ein Roman, dann wie ein Sachbuch oder ein Essay. Valin schafft es, diese unterschiedlichen Elemente kunstfertig miteinander zu verflechten.

Von Pflegenden und Gepflegten

Ableistische Einstellungen, die damals wie heute die Gesellschaft durchziehen, entdeckt Nikolas indes regelmäßig auch bei Betreuer:innen und Pflegekräften – und bei sich selbst. Er versucht immer wieder, seine eigene machtvolle Position in der Pflege zu reflektieren und sie in einen systematischen Zusammenhang zu stellen. Die Ehrlichkeit, mit der Valin seinen Protagonisten diese Themen bewältigen lässt, öffnet den Raum für eine kritische Auseinandersetzung mit der Institution Pflegeeinrichtung auch über den Roman hinaus.

Durch die Autofiktionalität der Erzählung, also das gezielte Vermischen von Autobiografie und Fiktion, entsteht ein authentischer Einblick in den Alltag und die Realität von Pfleger:innen in Deutschland – auch, wenn sich der:die Leser:in vielleicht teilweise fragen mag, was am Roman nun eigentlich noch fiktional ist. Die Sprache des Romans bleibt einfach und zugänglich und wird dabei auch den inhaltlich komplexeren Teilen des Textes gerecht.

Mit Ein Haus voller Wände zeichnet Valin nicht nur das Machtverhältnis zwischen Pfleger:in und Bewohner:in eindrucksvoll nach, sondern gibt auch Beschäftigten der Pflege eine Stimme. Während er das Gleiche auch für die Bewohner:innen von Pflegeeinrichtungen versucht, kann er damit nicht die faktischen Umstände verändern: Hier spricht noch immer ein Pfleger über Gepflegte. Doch vielleicht kann auch diese Tatsache ein Anstoß zur nötigen Diskussion sein: Wer hat eigentlich eine Stimme und wer nicht? Wer kann erzählen und von wem wird erzählt? Oder wie Nikolas es im Roman ausdrückt:

Ich frage mich, was eigentlich passieren muss, bis man Beschäftigten aus einem Heim zuhören würde oder – Gott bewahre – vielleicht sogar mal jemandem, der dort lebt.

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