Perfektionismus als Krankheit von Frauen?

Inspirierend und in vielerlei Hinsicht Augen öffnend: Katherine Morgan Schafler räumt in ihrem Buch Perfektionismus: (fast) eine Liebeserklärung mit Vorurteilen auf, die häufig mit dem Phänomen des Perfektionismus verbunden werden und stellt klar: Perfektionismus ist ein konstitutiver Bestandteil der eigenen Persönlichkeit. Die richtige Beeinflussung ist die Lösung, nicht die Bekämpfung der starken inneren Energie.

Von Sidney Lazerus

Bild: Via Pixabay, CC0

Perfektionismus ist ein hochkomplexes und sehr individuelles Phänomen, wie beim Lesen des 2023 erschienenen Buches Perfektionismus: (fast) eine Liebeserklärung rasch deutlich wird. Katherine M. Schafler, Psychotherapeutin und Autorin aus New York, kämpft für einen Paradigmenwechsel. Sie konzentriert sichinsbesondere auf »Perfektionistinnen«, weil primär zielstrebige Frauen Ratschläge dazu bekommen, dass sie ausgeglichener, entspannter werden sollen. Perfektionismus bei Frauen müsse offenbar kuriert, ihr Eifer gezügelt werden.

 Eine Frau, die mehr will, ist undankbar, während ein Mann, der mehr will, ein Visionär ist.

Die fünf perfektionistischen Typen

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Katherine Morgan Schafler
Perfektionismus: (fast) eine Liebeserklärung

Übers. von Anja Lerz, Franka Reinhart, Sigrid Schmid, Renate Weitbrecht
Kailash: München 2023
400 Seiten, 20,00€

Schafler identifiziert verschiedene Typen von Perfektionismus, beruhend auf ihrer langjährigen Arbeit mit perfektionistischen Menschen. Durch einen kurzen Test zu Beginn können die Leser:innen mithilfe situationsbezogener Fragen herausfinden, welchem Typ sie am ehesten entsprechen. So gibt es die extreme, die klassische, die pariserische, die prokrastinierende sowie die chaotische Perfektionistin. Jeder Typ hat Stärken und negative Angewohnheiten, zum Beispiel ist eine pariserische Perfektionistin besonders empathisch, kann aber das toxische Bedürfnis ausbilden, allen Menschen gefallen zu wollen. Eine klassische Perfektionistin ist zuverlässig und detailorientiert, kann aber schwerer mit Spontanität umgehen. Diese Kategorisierungen sind, wie betont wird, nur Angebote: Jeder Mensch hat ein »einzigartiges perfektionistisches Profil«. Mit diesem im Hinterkopf steige der Mehrwert der folgenden Lektüre.

Gleich am Anfang wird eingeräumt, dass es auch schlechte Ausprägungen von Perfektionismus gibt, bei denen sich der innere Drang tatsächlich nicht gut auf uns auswirkt: »Perfektionismus ist großartig, wenn er uns dient, und schrecklich, wenn er uns beherrscht.« Letztere ungesunde Formen werden in der Forschung als maladaptiver Perfektionismus bezeichnet, die vorteilhafte Verfassung als adaptiver Perfektionismus. Vor allem bei Frauen werde der Perfektionismus meist aber nur auf negative Aspekte reduziert. Diese eindimensionale Sicht führe zu der unzutreffenden Assoziation mit einer psychischen Krankheit.

Die ungeschminkte, aber fürsorgliche Wahrheit

Forsch und gleichzeitig optimistisch bringt die Autorin Tatsachen zum Ausdruck: So sei die Frauen häufig nahegelegte sogenannte Ausgeglichenheit als »Heilmittel« nicht real. Im umgangssprachlichen Sprachgebrauch sei damit nicht eine durchaus erstrebenswerte innere Balance gemeint, sondern eher die Anforderung an die moderne Frau, möglichst viele Aufgaben und Pflichten zu erfüllen. Sprich, die Erwartung, nach außen hin gut zu funktionieren.

Das Propagieren von mehr Ausgeglichenheit ist keine Reaktion auf den Gesundheitszustand von Frauen, sondern eine Reaktion auf die gewachsene Macht von Frauen.

Perfektionist:innen seien keine ausgeglichenen Menschen, und das sei in Ordnung. Ausgeglichenheit sei kein Synonym für Gesundheit. Wenn eine Perfektionistin sich dazu zwingt, eine Arbeit nur mittelmäßig zu erfüllen, wird sie sich nur schlechter fühlen und von ihrem authentischen Selbst entfremden. Schafler ermutigt zur Einsicht und Ehrlichkeit gegenüber sich selbst als ersten Schritt, um im inneren Einklang mit sich leben zu können: »Du bist perfektionistisch. Du wirst dein Verlangen, weiterzukommen, niemals abstellen können. Du wirst nicht anders können, als deine Grenzen auszutesten und neue Herausforderungen zu suchen.« Perfektionist:innen nehmen die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit unablässig wahr und sind bestrebt, diese aktiv zu überbrücken, da Ideale sie inspirieren.

Lass nicht zu, dass dein Ehrgeiz pathologisiert wird. Entschuldige dich nicht für dein unstillbares Verlangen, dich selbst zu übertreffen […]. Verwirf die Vorstellung, dass du »reparaturbedürftig« bist. Bleibe (oder sei wieder) perfektionistisch.

Durch solche direkte, unmittelbare Ansprache der Leser:innen an passenden Stellen gelingt es der Autorin, eine vertraute, fast schon freundschaftliche Beziehung zu ihnen aufzubauen, wodurch man sich als Leser:in tief verstanden fühlt. Mitunter schockierend ehrlich, aber humorvoll bringt die Autorin ihre Ansicht näher: »Dieses Buch untersucht die Möglichkeit, dass mit dir alles in Ordnung ist (auch wenn du gewisse selbstzerstörerische Angewohnheiten hast)«. Das Streben nach etwas Größerem sei ein natürlicher menschlicher Impuls. Perfektionistische Menschen hätten eine starke eudämonistische Orientierung, das heißt, sie empfinden Sinnhaftigkeit und Erfüllung in der Meisterung neuer Herausforderungen, während Hedonist:innen dagegen die Erhöhung des erlebten Vergnügens intendieren.

Perfektionistische Menschen wollen einen Beitrag leisten, schöpferisch sein und wachsen.

Was bedeutet »perfekt«?

Schon das Wort »perfekt« wird falsch verstanden. Schafler beruft sich bei ihrem Definitionsversuch auf Aristoteles’ Begriff der Vollkommenheit. Vollkommen sei das, dem kein Teilchen fehlt bzw. hinzuzufügen ist. Die Leser:innen werden dazu aufgefordert, zu erkennen und sich immer wieder daran zu erinnern, dass sie bereits seit jeher perfekt, nicht im Sinne von fehlerlos, sondern im Sinne eines vollständigen menschlichen Wesen sind. Das Perfektionsparadox sei, dass man zum einen nie perfekt werden kann, und man zum anderen bereits perfekt ist.

Eine häufige maladaptive Reaktion von Perfektionist:innen auf Rückschläge ist Selbstbestrafung, ein gefährlicher Teufelskreis, wie die Autorin eindringlich pointiert. Der Grund: Man macht den eigenen Wert unbewusst von äußerer Leistung abhängig. Nötig ist eine Offenheit, um sich selbst aus einer feinfühligen Perspektive zu betrachten.

Zwischenzeitlich werden anhand verschiedener praktischer Fälle perfektionistische Verhaltensweisen näher veranschaulicht, indem fiktive, ausdrucksstarke Dialoge zwischen Therapeutin aus der Ich-Perspektive und einer Klientin dargestellt werden und anschließend die Situation und Hintergründe einer Denkweise empathisch analysiert werden. So wechseln sich beim Lesen Theorie und Beispiele aus dem Leben ab, sodass der Lesefluss sich angenehm entwickelt.  

Gehaltvolle und nachhaltige Lektüre

Insgesamt ist Perfektionismus eine sehr wertvolle Lektüre, erstrangig für Menschen mit perfektionistischen Zügen jeden Geschlechts, die noch mit ihrem eigenen Perfektionismus kämpfen und ihn als eine beherrschende Macht denken. Sie werden sich selbst besser verstehen lernen, indem sie diese wirklich umfassend psychologisch begreifen und Strategien zum richtigen Umgang, zum Beispiel zur Regeneration, mit an die Hand bekommen. Aber auch für Nicht-Perfektionist:innen ist es als tiefgründiges, fachlich fundiertes, aber gut verständliches Buch empfehlenswert. Die Autorin ermuntert dazu, den eigenen Perfektionismus zu schätzen und schenkt Zuversicht: Auch Perfektionist:innen können ein glückliches, gesundes Leben leben, ohne gegen ihr wahres Wesen ankämpfen zu müssen. Perfektionismus ist eine Gabe, kein Fluch.

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