Orchestermusik für alle

In diesem Interview spricht Jonas Kruse über die emotionale Kraft klassischer Musik und seine Erfahrungen als Musiklehrer und Dirigent. Er erläutert, wie klassische Musik Gefühle vermittelt und teilt seine Ansätze, um junge Menschen für Orchestermusik zu begeistern und ihre Leidenschaft für diese Kunstform zu wecken.

Hinweis: Die Autorin des Interviews ist Teil des Orchesters Camerata Medica, um das es geht.

Ein Interview von Luca Marie Welsch

Bild: Matthias Meßmer

Sie unterrichten Musik und Physik an einer allgemeinbildenden Schule. Außerdem arbeiten Sie als Instrumentallehrer und sind als Posaunist sowie Dirigent aktiv. Wann hat Ihre musikalische Karriere begonnen?

Meine Eltern haben mich in einem örtlichen Musikverein angemeldet und darüber bin ich an die Musikschule und in den Posaunenunterricht gekommen.  Durch klassische Ensembles und Orchester habe ich meine Leidenschaft für klassische Musik entdeckt.

Sie haben nicht nur eine Passion für Orchestermusik entwickelt, sondern auch für das Dirigieren. Was hat Sie dazu bewegt, Dirigent zu werden?

Das ist eine schwierige Frage. Es hat mich immer gereizt und schon als Teenager fand ich es spannend. Ich habe Dirigenten erlebt, die ich auf eine besondere Weise inspirierend fand. Die Formung von Orchesterklang, die Vorgabe von interpretatorischen Linien, aber auch, wie sich durch bestimmte Mittel Klang verändern kann und sich Bewegungen auf Musik übertragen haben. Ich hatte dann die Möglichkeit bekommen, in meinem örtlichen Musikverein zu dirigieren, in dem ich bis zum Abitur aktiv war.  Man hat mir offenbar meinen Ehrgeiz und mein Interesse angesehen, etwas in die Richtung zu machen. Danach kamen einige Projekte und auch die Möglichkeit ein Jugendorchester zu leiten.

2018 haben Sie die musikalische Leitung der Camerata Medica Göttingen übernommen. Was ist das für ein Orchester?

Die Camerata Medica ist das Sinfonieorchester der medizinischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen. Es richtet sich an Angehörige medizinischer Berufe im weitesten Sinne und an Angehörige der Universitätsmedizin Göttingen.  Der größte Teil der Musiker:innen sind Studierende, aber auch praktizierende Ärzt:innen oder Professor:innen musizieren in der Camerata Medica. Für die Studierenden öffnet es Türen, dort auch mit Ärzt:innen ins Gespräch zu kommen. Das Orchester schafft einen Raum, wo sich die Hierarchie, die es vielleicht in der Lehre oder im Studium gibt, aufhebt, wo sich dann der Medizinprofessor der Studentin, die Konzertmeisterin ist, unterordnet. Das ist gewinnbringend für alle und ein schöner Aspekt des Orchesters.

Was sind die Voraussetzungen, um im Orchester mitzuspielen? Und was wird dort gespielt?

Wer Lust hat ein musikalisches Programm intensiv zu erarbeiten, ist herzlich willkommen. Wir spielen im Sommer ein großes Sinfoniekonzert, das besteht meistens aus einer Sinfonie und einem Solokonzert.  Im Winter spielen wir ein Weihnachtskonzert, da gibt es einen klassischen Teil und eine zweite, buntere Hälfte.

Als Lehrer arbeiten Sie mit jungen Menschen zusammen. Was ist Ihre Motivation, mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen gemeinsam zu musizieren?

Musik ist eine urmenschliche Ausdrucksform und die erlebt man am intensivsten, indem man sie selbst macht. Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und allgemein Menschen, die in ihrer Freizeit Musik machen, haben häufig eine ganz besondere emotionale Bindung zu Musik. In der Schule habe ich die letzten zwei Jahre mit einem Orchesterkurs aus Fünftklässlern und Sechstklässlern gearbeitet, die dort ein Instrument lernen und zusammen musizieren. Ich habe das Gefühl, dass das einen unfassbaren Einfluss auf die Identitätsbildung hat und damit ein wichtiger Lebensinhalt für die Schülerinnen und Schüler entsteht, der bei einigen lebenslang identitätsstiftend sein kann.  Ich spüre auch, was das Musizieren den Kindern bringt und wie sie darin aufgehen und Ehrgeiz entwickeln. Die Freude am gemeinsamen Musizieren trägt zu einem Gemeinschaftsgefühl bei. Ein gemeinsames Musikerleben bei den Kindern zu sehen ist großartig.

»Dass man, egal welcher Herkunft oder unabhängig davon, was man sonst den ganzen Tag macht, ob man Schüler, Studentin oder Professor ist, dass man gemeinsam etwas Kreatives schafft, das ist sehr bereichernd.«

Ende Juni haben Sie mit der Camerata Medica das alljährliche Sommerkonzert in der Aula am Wilhelmsplatz aufgeführt. Auf dem Programm standen Schuberts Ouvertüre Des Teufels Lustschloss, das Klavierkonzert Nr. 3 von Ludwig van Beethoven und Schumanns Rheinische Sinfonie.  Was war denn Ihr Eindruck wie viele junge Menschen das Konzert besucht haben?

Ich könnte mir vorstellen, dass das, obwohl wir ein überwiegend studentisches Orchester sind, gar nicht mal so viele waren. Ich schätze mal, dass ein Viertel des Publikums im studentischen Alter war.

Studierende haben oft die Möglichkeit, auch Konzerte von Symphonieorchestern vergünstigt zu besuchen. Wird das in Ihren Augen ausreichend genutzt?

Für Göttingen kann ich das nicht beurteilen, weil ich aus Hannover komme. Wenn ich das dort beobachte und mir die städtischen Bühnen anschaue, dann nehme ich schon wahr, dass es die Studierenden eher in das Staatstheater zieht als in die Staatsoper. Manchmal bin ich  ein bisschen frustriert, wie wenig Anklang diese Musik, die mir sehr viel bedeutet, eigentlich in meiner Generation findet.

In Ihrem Orchester spielen wie schon erwähnt viele junge Studierende. Wie nehmen Sie das dort wahr?

Ich treffe mich jeden Mittwoch mit der Camerata Medica, mit überwiegend jungen Musiker:innen. Da nehme ich das als etwas komplett selbstverständliches wahr, dass man diese Musik schätzt und liebt, dass man sie fühlt und sie einem etwas bedeutet. Und dann komme ich in ein Konzert von einem professionellen Orchester und bin immer wieder aufs Neue davon erschlagen, dass das ein ganz anderer Publikumskreis ist, den ich da treffe. Und da frage ich mich schon: Woran liegt das? Wie sind die Zukunftsaussichten für die Orchestermusik?

Wie könnte Orchestermusik in Zukunft so gestaltet werden, dass sie für junge Menschen attraktiver wird?

Ich glaube, dass auch ich Teil der Veränderung sein kann. Jüngere Generationen hören mehr andere Musikrichtungen und musikalische Vorlieben scheinen etwas sehr Generationsspezifisches zu sein. Musikgeschmack prägt sich vor allem in der Jugend aus. Musik sollte man aber niemandem aufzwingen.

»Ich persönlich messe der klassischen Musik einen hohen Stellenwert bei und ich bin auch davon überzeugt, dass sie einen künstlerischen Wert hat, den es zu erhalten gilt.«

Wie kann man diese Art von Musik beliebt machen und vor allem unter junge Menschen bringen?

Da muss man auf jeden Fall bei der Jugend ansetzen. Ich als Musiklehrer habe schon eine wichtige Funktion, weil ich jemand bin, der sich zwei Stunden die Woche mit Kindern und Jugendlichen mit Musik beschäftigt und auseinandersetzt.

Ist es möglich, Musik so zu vermitteln, dass sich Schülerinnen und Schüler auch auf eine neue Musikrichtung einlassen?

Ich habe mal mit einer sechsten Klasse ein Musikvideo zur Moldau von Bedřich Smetana gemacht. Wir haben uns die Musik angehört und dazu Bilder gemalt. Wir haben genau hingehört und reingespürt: Wonach klingt diese Musik eigentlich? Ich glaube, diese Zugänge muss man greifbar machen, sodass kreative Prozesse angestoßen werden. Auf diese Weise kann man auch junge Menschen für Musik öffnen.

Wie kann Musik von Orchestern oder von der Musik praktizierenden Institutionen nach außen getragen werden? Wie kann man dies möglich attraktiv gestalten?

In den letzten 10 bis 15 Jahren ist bereits viel passiert. Opernhäuser und Konzerthäuser haben Education-Programme. Zudem gibt es, Kinder – und Familienkonzerte und auch Junge Opern, um möglichst viele Kinder und Jugendliche abzuholen. Dabei können Kinder und Jugendliche oft aktiv mitwirken. Man muss auch bei den Eltern ansetzen, damit diese mit ihren Kindern auch in Konzerte gehen.

Wie kann man Konzerte gestalten, die alle Menschen und Familien ansprechen?

Man muss bei der Gestaltung der Konzerte bedenken, dass man diese Menschen in etwas komplett Fremdes reinholt, weil eben dieser Generationenbruch stattgefunden hat.

Haben Sie Vorschläge, wie man Konzerte für 20- bis 40-Jährige attraktiv machen kann?

Es gibt bereits Modelle von Orchestern, in denen in der ersten Hälfte eine Symphonie gespielt wird und in der zweiten Hälfte Filmmusik oder ähnliches. Damit kann man schon sehr gut junge Menschen ansprechen. Denn meistens sind es die klassischen Programme wie zum Beispiel Klavierkonzerte von Mozart, welche die Menschen erst einmal abschrecken. Bei Orchestern, die Filmmusik spielen, merkt man einfach, wie die jungen Menschen in die Konzerthallen strömen und das sehe ich als Chance, dieses neu gewonnene Publikum auch für altgeliebte Musik zu begeistern.

Was könnte es denn für Möglichkeiten geben, junge Menschen für klassische Konzerte zu motivieren?

Zum Beispiel Konzepte wie Junge Konzerte anbieten, damit die Menschen sich dort wohlfühlen, schon allein, weil sie mit Gleichaltrigen da sind. Das gibt ein anderes Gefühl, als wenn man als 20-jähriger in einem Konzertsaal mit Senior:innen sitzt. Außerdem könnte man das Ganze offener gestalten und zum Beispiel auch die Kleideretikette aufheben oder ändern.

Gibt es denn noch andere Möglichkeiten als das Konzert im Saal?

Neben dem einfachen Konzert gibt es auch Gesprächskonzerte, bei denen es jemanden gibt, der zwischen der Musik auf die Komponist:innen oder das Werk eingeht. Außerdem gibt es auch Konzerte, die draußen stattfinden und man zum Beispiel im Park picknickt.

Sie arbeiten auch als Lehrer. Was können denn Musikpädagog:innen tun, um ihren Schüler:innen klassische Musik näher zu bringen?

Am besten ist es meiner Meinung nach, die Musik selbst zu machen und dadurch einen Zugang zu finden. Der Großteil der jungen Leute, die sich für klassische Musik interessieren, tun das, weil sie selber klassische Musik spielen.

Wie sind Ihre Erfahrungen damit?

Wir haben mal in der Schule ein großes Opernprojekt durchgeführt, bei dem Schüler:innen mit professionellen Sänger:innen und einem professionellem Orchester zusammen musiziert haben. Dabei haben die Schüler:innen einen Bezug zu Musik bekommen, auch die Kinder, die noch nie in eine Aufführung gegangen sind haben mitgewirkt und eine innige Beziehung zu dieser Musik bekommen.

Was sind Ihre Ideen für den Musikunterricht in der Schule?

Musik ist ein Ausdrucksmittel für die meisten Kinder, denn wenn man Umfragen macht, hat Musik für jede:n einen teilweise sehr hohen Stellenwert. Die Musik, mit der man sich in der Schule beschäftigt, kann auch die sein, mit der man sich privat befasst. In der Schule kann man lernen, diese Musik zu verstehen und auch zu reflektieren.

Wie kann man klassische Musik in den Unterricht integrieren?

Am besten nicht als Objekt, das irgendwie analysiert werden muss oder als etwas Theoretisches, sondern als etwas, dass wirklich erlebbar wird, damit die Kinder und Jugendlichen eine Offenheit entwickeln. Musik ist etwas Klingendes und Emotionales. Man muss eine Zugangsform finden, damit alle lernen, die musikalischen Strukturen und den Ausdruck wahrzunehmen. Wichtig ist es darauf zu achten, dass die Musik nicht auf eine abstrakte Ebene gehoben wird für jemanden, der diesen Zugang noch nicht hat. Das sind die Dinge, die mich als Musiklehrer umtreiben.

Bild: Matthias Meßmer
Jonas Kruse unterrichtet Musik und Physik an einer allgemeinbildenden Schule und ist als Instrumental-lehrer sowie Posaunist aktiv. Außerdem ist er Dirigent und künstlerischer Leiter des Sinfonieorchesters Camerata Medica Göttingen. Die Camerata Medica ist das Fakultätsorchester der Universitätsmedizin Göttingen, in dem aber auch Nicht-Mediziner:innen willkommen sind.

Wie sehen Sie die Zukunft von klassischer Musik? Haben Sie Sorge, dass sie in den nächsten Jahren ihren Wert verliert?

Den Wert verliert sie für mich nie, aber den Stellenwert. Ja, ehrlich gesagt, ein bisschen Sorge habe ich schon.

»Wenn ich mir vorstelle, dass es sicherlich schwieriger wird, sich in 30 Jahren eine Symphonie live anzuhören, weil es weniger Publikum und somit auch weniger Aufführungen geben wird, stimmt mich das als jemanden, der Musik liebt, manchmal schon etwas wehmütig. Die Klassikwelt kann aber auch das Rad noch herumreißen!«

Mit welchen drei Worten würden Sie die Vielfalt von Orchestermusik beschreiben?

Das ist ganz schwierig, das, was Musik ausmacht, in Worten zu beschreiben. Aber ich versuche es: Emotionalität, Vielschichtigkeit und Kommunikation.Orchestermusik ist sehr vielschichtig. Man hat einen ersten Eindruck, der emotional überwältigend sein kann. Gleichzeitig werden viele Details, viele klangliche und kompositorische Ebenen angesprochen, die dann zu einem großen Gesamtbild zusammenwachsen.

Wie kann man sich dieses große Gesamtbild vorstellen? Welche Gefühle löst das in Ihnen aus?

Das Gefühl, das ich habe, wenn ich ein großartiges Werk höre, das kenne ich nur von der Natur. Wenn man auf dem Berg steht und über die Welt, über unberührte Natur oder über Gebirge schaut. Die Sonnenstrahlen und diese Weite können oft direkt etwas emotionales bei einem auslösen. Die Schönheit im Detail, die in jeder einzelnen Ecke steckt, in jedem einzelnen Grashalm, jedem Stein oder Bachlauf, der da ist. Man schaut in diese verschiedenen Ebenen, in Vordergrund, Hintergrund, in die Tiefe und Weite. Dazu die Bewegung, die entsteht. Das kann für mich nur diese Kunstform Orchestermusik.

Kommunikation ist überall – wo und auf welche Art findet diese im Orchester statt?

Kommunikation im Orchester findet einerseits mit dem Publikum aber auch im Orchester selbst statt. Da ist eine ständige so schnelle Kommunikation, die im Endeffekt mit dem Dirigenten zusammenläuft. Das Aufeinander hören und reagieren, gemeinsam gestalten, gemeinsam fühlen und gemeinsam durch diese Emotionen gehen.

Für die Leser:innen, die jetzt Lust auf Orchester haben: Welche Symphonie würden Sie als Einstieg empfehlen?
Zum Einstieg eignet sich romantische Programmmusik, zum Beispiel Scheherazade von Rhimsky-Korsakow oder auch Smetanas Moldau. Da gibt es eine Geschichte oder Bilder zu, die beim Hören Orientierung geben. Es darf aber auch eine beliebige Sinfonie von z.B. Bruckner oder Brahms sein.
In jedem Fall empfehle ich, einfach mal ein Sinfoniekonzert zum Beispiel vom Göttinger Sinfonieorchester oder einem Studierendenorchester wie der Camerata Medica zu besuchen. Das Live-Erlebnis ist durch nichts zu ersetzen.

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