Laut, bunt und verrückt ist die Reinterpretation des Struwwelpeter als Musical. Mitreißende Songs und eine schrille Optik entführen die ZuschauerInnen in den Kosmos des Shockheaded Peter– noch greller, noch verrückter dürfte es sein!
Von Vera K. Kostial
Fotos: © Thomas Müller
Übergroß erscheint der Struwwelpeter als schemenhafte Gestalt in der Schattentheaterszene, die den Prolog des Shockheaded Peter bildet: Eröffnet ist das als Junk-Oper angekündigte Musical von den Tiger Lillies, Julian Crouch und Phelim McDermott, das am 11. März Premiere im DT Göttingen feierte. Zackiger Staccato-Gesang von guten und von bösen Kindern, das Musiker-Ensemble, bestehend aus Michael Frei, Hans Kaul, Tilman Ritter und Manfred von der Emde, kostümiert als Skelette seitlich der Bühne, an der anderen Seite die Präsenz eines riesenhaften Totenschädels – die ersten optischen und akustischen Eindrücke sind gleichermaßen grotesk wie verheißungsvoll und lassen ein überbordendes skurriles Spektakel erwarten.
»Ich will einen Bub!« Diese resolute Forderung der zukünftigen Mutter des Struwwelpeters leitet, ganz entgegen der Bedenken ihres Mannes, die Zeugung des Sohnes ein – und gleich darauf erscheint der Struwwelpeter als ausgewachsener Punk-Rebell, der das Pseudo-Establishment seiner Eltern aufzurütteln sich auf die Fahne geschrieben hat. Und er stellt sich vor mit einem rockigen Song, welcher – nicht zum ersten Mal an diesem Abend – für Szenenapplaus sorgt und die ZuschauerInnen hineinzieht in eine Welt aus Frivolität, Glitter und Grausamkeit. Diese durch mitreißende Songs und eine von Reizüberflutung lebende Optik indizierte Entführung ist die große Leistung des Shockheaded Peter, basierend auf durchweg sehr guten spielerischen und gesanglichen Leistungen sowie einem großartigen Bühnenbild.
Gebrochen wird die einnehmende Wirkung der musikalischen Einzelszenen ab und an durch das Einflechten einer psychologisierenden Ebene, welche gleichsam halbherzig aufscheint. So wird der Struwwelpeter unvermittelt zum traumatisierten Jugendlichen, der in einem kurzen Monolog halb klamaukig, halb ernst sein Elternhaus und seine Umgebung anprangert. Das lässt die ZuschauerInnen ratlos zurück – was will das Stück hier erreichen? Dem Rebell, als der der Struwwelpeter eingeführt wird, wird nun eine pathologische Ebene gegeben, die innerhalb der anarchischen, punkigen Szenen so wenig Raum bekommt, dass sie keinen rechten Zusammenhang ergeben will. Warum auch soll dem Ganzen eine psychologische Schwere verliehen werden, wenn das gesamte Stück – es ist immerhin eine Junk-Oper! – doch gerade von einer Überfülle an Eindrücken, von Buntheit und Überzeichnung lebt?
Auch eine Hitler-Figur darf einmal weggelassen werden, gerade wenn sie lediglich mit einem Bärtchen und einer Uniformjacke mit pinkfarbener Armbinde versehen ist, aber keinerlei parodistischen Inhalt bietet. Man sucht die Verknüpfung mit dem Struwwelpeter, die das Auftreten einer solchen Figur motiviert, doch will sich keine rechte satirische Botschaft daraus ergeben. Aber diese ist auch gar nicht nötig: Eine Junk-Oper darf auch ohne eine Parodie auf die Historie auskommen, es sei denn, diese würde mit ausreichend Raum ausgespielt.
Es braucht ebenfalls keine eingeflochtene, aber nicht genügend auserzählte psychologische Ebene – was ein Spektakel dieses Formats ausmacht, und was der Shockheaded Peter auch in vielen Szenen bietet, ist Übertreibung, Lärm, Farbe, Trash und Verrücktheit. Man hätte also ruhig noch eine Schippe drauflegen und dafür die psychologisierenden Ansätze auslassen können, es wäre ein runderes, ein großartiges Trash-Schauspiel geworden! Oder aber das Ganze runtertunen, die psychologische Ebene ausgespielt, Satire hintergründig und mit genug Raum inszeniert.
»Ihr bösen, bösen, bösen Buben«, summt man den letzten Song des Abends noch Stunden später vor sich hin – wären die Buben doch noch etwas böser, lauter, greller gewesen!